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Kolumne „Rome reloaded“

Proskription und Polarisierung: Politische Verfolgung im alten Rom und heute

In der gegenwärtigen politischen Diskussion wird der Begriff der Proskription kaum noch verwendet: Zu sehr scheint er mit der Antike, mit Diktatur, mit Totalitarismus verknüpft zu sein, als dass er zur Beschreibung der eigenen Gegenwart im „besten Europa aller Zeiten“ dienen könnte.

Und doch mehren sich die Anzeichen, dass sich auch in diesem Bereich die Verhältnisse der späten Römischen Republik wiederholen und wir Zeugen einer beunruhigenden Rückkehr von Mechanismen werden, die sich im 1. Jahrhundert v. Chr. zu einem regelrechten Herrschaftsinstrument entwickelt hatten: die gezielte Ächtung und soziale Ausschaltung politischer Gegner – juristisch kaschiert, medial flankiert, administrativ durchgesetzt.

Denn was in Rom unter Marius, Sulla und dem Zweiten Triumvirat als blutige Praxis begann, erscheint auch in den modernen Demokratien zunehmend als psychologisches, soziales und juristisches Druckmittel. Zwar werden Gegner heute nicht mehr auf Tafeln am Forum Romanum für vogelfrei erklärt, enteignet und exekutiert – hier Parallelen zu ziehen wäre geschmacklos –, doch das Prinzip ist dasselbe geblieben: Denunziation, Stigmatisierung und Ausgrenzung aus dem öffentlichen Leben, und zwar mit dem Ziel, politische Alternativen nicht argumentativ zu widerlegen, sondern vielmehr zu eliminieren, oft genug verbunden mit der Zerstörung zumindest der sozialen, beruflichen und finanziellen Lebensgrundlagen ihrer Vertreter.

Zeitleiste zur Römischen Republik

753 v. Chr.: Legendäre Gründung Roms durch Romulus und Remus.

509 v. Chr.: Letzter etruskischer König (Tarquinius Superbus) wird vertrieben; Einführung der jährlichen Consuln und republikanischer Institutionen.

343–290 v. Chr.: Samnitenkriege. Rom sichert sich die Vorherrschaft über Mittelitalien.

264–146 v. Chr.: Punische Kriege gegen Karthago. Rom erringt schrittweise die Herrschaft über Sizilien, Iberien und schließlich Nordafrika.

146 v.Chr.: Die Zerstörung von Korinth sichert Roms Herrschaft über Griechenland.

133 v. Chr. und 123: Gescheiterte Landreformen und gewaltsamer Tod des Tiberius und Caius Gracchus. Beginn der politischen Krisen der späten Republik; Spaltung in „Populares“ und „Oprimates“.

107 v. Chr.: Marius wird Consul und öffnet in den Kriegen gegen Mauretanien und gegen die Cimbern und Teutonen das römische Heer für Besitzlose.

91–88 v. Chr.: Der Bundesgenossenkrieg gegen die italischen Verbündeten führt zu einer Reform des römischen Bürgerrechts.

88–82 v. Chr.: Bürgerkriege zwischen Optimaten und Popularen. Sulla besetzt erstmals mit militärischen Einheiten die Stadt Rom.

88–63 v. Chr.: Mithridatische Kriege gegen Mithridates VI. von Pontos. Sulla, Lucullus und schließlich Pompeius sichern die römische Herrschaft über Kleinasien und den ganzen Orient.

82–79 v. Chr.: Optimatische Diktatur Sullas. Proskriptionslisten; Beschränkung der Macht der Plebs.

73–71 v. Chr.: Spartacus-Aufstand. Größter Sklavenaufstand Roms, niedergeschlagen durch Crassus.

70 v. Chr.: Consulat des Crassus und des Pompeius. Rücknahme vieler sullanischer Reformen.

63 v. Chr.: Cicero wird Consul und verhindert die Catilinarische Verschwörung.

60 v. Chr.: Erstes Triumvirat zwischen Pompeius, Crassus und Caesar. Inoffizielle Außerkraftsetzung der römischen Gewaltenteilung.

58–50 v. Chr.: Gallischer Krieg. Caesar erobert Gallien und steigt zum populären Heerführer auf.

53 v. Chr.: Tod des Crassus bei einem Privatkrieg gegen die Parther. Zerbrechen des Ersten Triumvirats.

49 v. Chr.: Caesar überschreitet den Rubikon; Bürgerkrieg gegen Pompeius beginnt (ermordet 48).

46–44 v. Chr.: Caesar wird Dictator auf zehn Jahre, dann auf Lebenszeit, bevor er durch Brutus und Cassius ermordet wird. Sein Adoptivsohn Octavian tritt sein Erbe an.

43 v. Chr.: Zweites Triumvirat (Octavian sowie zwei Generäle Caesars, Antonius und Lepidus; letzterer wird rasch ausgeschaltet). Proskriptionen (Ermordung Ciceros), schließlich Reichsteilung.

31 v. Chr.: Seeschlacht bei Actium: Octavian besiegt Antonius und Kleopatra.

27 v. Chr.: Octavian gibt die Vollmachten eines Triumvirn zurück, restituiert die äußere Form der Republik und erhält zusammen mit weitreichenden Sonderkompetenzen den neuen Namen Augustus. Beginn des Principats und somit des Römischen Kaiserreiches.

Diese Entwicklung ist nicht zufällig, sondern strukturell. Denn in Epochen, in denen kulturelle Identität, politischer Anstand und gemeinsame Wertgrundlagen erodieren, wird der politische Diskurs zunehmend nur noch vom kruden Willen zur Macht beherrscht. Es lohnt, die antiken Ursprünge dieser Entwicklung genauer zu betrachten – nicht um „aus der Geschichte zu lernen“, sondern um zu verstehen, warum gewisse Mechanismen in sich selbst fortwirken, unabhängig vom Zeitgeist.

Die Geburt der Proskription: Marius und Sulla

Der Begriff proscriptio bezeichnet ursprünglich das öffentliche Aushängen von Eigentum zur Versteigerung. In politischem Zusammenhang gewann der Begriff unter Lucius Cornelius Sulla (Diktator 82-79 v.Chr.) eine dramatische Bedeutung: Nach seinem Sieg im Bürgerkrieg gegen die Anhänger der „Popularen“ unter Gaius Marius, die ihrerseits die konservativen „Optimaten“ verfolgt, vertrieben und teilweise ermordet hatten, ließ Sulla nun offiziell Listen mit den Namen Tausender Gegner veröffentlichen: Wer sie auslieferte oder tötete, wurde finanziell belohnt, ihr Vermögen aber fiel dem Staat zu und wurde versteigert, ihre Kinder enterbt.

Die Grausamkeit dieses Systems war jedoch nicht bloße vorübergehende Exzentrik; sie war Teil eines systemischen, schon unter den Gracchen eingeleiteten Transformationsprozesses, in dem sich die Römische Republik vom Herrschaftssystem des mos maiorum, also der „Sitten der Vorfahren“ und ihren unzähligen Anstandsregeln, zur Machtpraxis nackter Gewalt wandelte. Die politische Opposition wurde nicht mehr als legitimer Gesprächspartner behandelt, sondern als Feind, als Bedrohung, als zu beseitigendes Hindernis, um endlich eine tabula rasa zur ungehinderten Durchsetzung der eigenen Ziele zu schaffen.

Noch brutaler zeigte sich das Instrument der proscriptio unter dem Zweiten Triumvirat (43-33 v.  Chr.), bestehend aus Octavian (später Augustus), Marcus Antonius und Lepidus. In einer politisch einmaligen Aktion einigten sich die drei Männer auf eine Liste von rund 300 Senatoren und über 2.000 Rittern, die ausgeschaltet werden sollten – nicht nur als politischer Racheakt gegen die Caesarmörder und Republikaner, sondern auch zur Finanzierung der eigenen Truppen und zur machtpolitischen Flurbereinigung, wobei ein regelrechter Kuhhandel zwischen den Triumvirn stattfand, die oft eigene Freunde opferten, um gefährliche Feinde zu beseitigen, die zur Anhängerschaft einer der anderen Triumvirn zählten.

Der Mord an Cicero als symbolischer Tod römischer Redekunst

Der Fall Ciceros ist beredtes Beispiel: Obwohl Octavian persönlich von Cicero politisch gefördert worden war, opferte er ihn auf Druck von Antonius, der im Gegenzug eigene Anhänger preisgab – eine Entscheidung, die Octavian später als Alleinherrscher öffentlich bedauerte, obwohl er zweifellos von ihr profitiert hatte, frei nach Friedrichs II. Diktum, demzufolge Maria-Theresia zwar bei der ersten Polnischen Teilung einige Tränen vergossen, ihren Anteil aber sehr wohl eingestrichen habe.

Cicero wurde auf der Flucht ermordet, sein Haupt und seine Hände auf dem Forum ausgestellt, ein grausames Zeichen der Macht, das zugleich den symbolischen Tod der römischen Redekunst als echter politischer Kraft bedeutete.

Die Republik als Verfassung existierte faktisch nicht mehr – geblieben war eine Kampfzone politischer Interessen, in der allein persönliche Machtkonstellationen, nicht aber das Recht entschieden, und wo selbst ideologische Gegnerschaft zunehmend hinter rein pragmatischen und personalpolitischen Konstellationen zurücktrat.

Proskriptive Strukturen in der Moderne

Die Parallelen zur Neuzeit sind evident – auch wenn sie sich in anderen Formen zeigen, da sich Geschichte natürlich niemals simplistisch wiederholt, sondern analoge Konstellationen sich unter immer neuen Rahmenbedingungen offenbaren.

Bereits der totalitäre Sozialismus der Sowjetunion, der Nationalsozialismus, die Faschismen Europas, aber auch demokratische Gesellschaften wie die USA zur Zeit des McCarthyismus griffen auf Mechanismen zurück, die in Struktur und Wirkung den römischen Proskriptionen ähneln: Schwarze Listen, Berufsverbote, soziale Ächtung, Vermögensentzug, Reisebeschränkungen, Rufmord – und natürlich, im schlimmsten Fall, Haft, Folter und Tod.

Zwar ist die Zeit des Totalitarismus nunmehr vergangen, beruhigen sollte uns das aber nicht. Während in der Antike das Forum der Ort der Denunziation war und im 20. Jahrhundert das Amtsblatt, ist es heute vor allem das Internet: Soziale Medien wie X (vormals Twitter) oder TikTok, journalistische Kampagnen und NGO-Netzwerke übernehmen die Funktion der staatlichen Ächtung.

Vom „Schutz der Sitten“ zur „Wahrung der Menschenwürde“

Auch die Konsequenzen sind andere: Bis auf wenige Ausnahmen ist das Schlimmste, was zu befürchten steht, der Verlust von Beruf, Freundeskreis, sozialer Achtung, Bankkonto oder – einige Monate oder Jahre lang – der Freiheit; Lager und Exekution hat im Westen niemand zu befürchten.

Auch die Rechtfertigung hat sich verändert – von der „Rettung der Republik“ zur „Verteidigung der Rechtsstaates“, vom „Schutz der Sitten“ zur „Wahrung der Menschenwürde“, von der „Neuordnung des Staates“ zur „wehrhaften Demokratie“. Doch der Kern ist traurigerweise gleich: Wer nicht auf Linie ist, wird zunehmend aus der Öffentlichkeit entfernt – und die Wirksamkeit dürfte heute zwar unblutig, aber massenpolitisch kaum wesentlich geringer sein als vor zwei Jahrtausenden.

Man erinnere sich nur der schlimmen Zeit der Covid19-Maßnahmen, als Denunziationen selbst im innerfamiliären Kreis keine Ausnahme waren.

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In der Welt der hohen Politik fallen evidente Beispiele ins Auge: Man denke hier etwa an Polen unter der Regierung Donald Tusk, wo binnen Wochen nach Regierungsantritt im Dezember 2023 die öffentlichen Medien besetzt, unzählige konservative Beamte, Journalisten und Angestellte aus ihren Ämtern entfernt, ihre Kommunikationsgeräte beschlagnahmt und gegen sie juristische Ermittlungen eingeleitet wurden – unter dem Applaus der EU-Institutionen.

In Rumänien wurde die Präsidentschaftswahl aufgrund des drohenden Sieges eines zu Kreml-naheingeschätzten Kandidaten annulliert – unter offenkundig fadenscheinigen juristischen Vorwänden. In Frankreich wurde die wohl aussichtsreichste Kandidatin um die Präsidentschaft unter durchsichtigsten Gründen von der nächsten Wahl ausgeschlossen.

Und in Deutschland werden nicht nur regelmäßig neue Denunziationswebseiten freigeschaltet, um politisch missliebige Personen anzuzeigen, sondern auch Gesetze erlassen, um ideologisch angeblich „fragwürdige“ Beamte unter Umkehrung der Beweislast ihrer Funktionen zu entheben. Auch Sympathisanten der landesweit zweitstärksten Partei werden zunehmend beruflich wie gesellschaftlich verfolgt, unabhängig davon, ob sie sich gesetzeskonform verhalten oder nicht: Polizisten, Beamte und Lehrer verlieren ihre Anstellung, Vereine ihre Förderung, Schriftsteller ihre Konten – allein wegen ideologischer Nähe zu einer als unerwünscht markierten Partei oder Ideologie.

Selbst in den USA, einst Vorbild liberaler Rechtsstaatlichkeit, wurden unter der Präsidentschaft von Joe Biden Dutzende ehemalige Mitarbeiter des politischen Gegners mit Anklagen überzogen. Gegen den damaligen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump liefen beziehungsweise laufen immer noch unzählige Verfahren – und das in einem politischen Klima, in dem Begriffe wie „Faschist“, „Extremist“ oder „Bedrohung der Demokratie“ längst zu Kampfbegriffen einer parteiischen Rhetorik geworden sind.

Vom Rechtsstaat zum Kampfverband

Freilich: Wie ein Boomerang kann sich die Auflösung des Rechtsstaats durch eine triumphalistische Linke auch gegen sie selbst richten, wie die jüngsten Ereignisse in den USA gezeigt haben: Auch das „U.S. DOGE“, die durch den exzentrischen Unternehmer Elon Musk bekanntgewordene „Abteilung für Regierungseffizienz“,ist nichts anderes als ein libertär verklärtes Instrument zur „Proskribierung“ unzähliger Personen und Initiativen, die der neuen, republikanischen Regierung ideologisch nicht mehr genehm sind. Es steht zu erwarten, dass analoge politische Umschwünge im „alten Europa“ durchaus ähnliche Methoden übernehmen könnten, wie bereits von Nigel Farage angekündigt.

Wie in der Römischen Republik folgt auf die zunehmende ideologische Polarisierung also die Institutionalisierung selektiver Rechtsanwendung. Gesetze werden nicht mehr als universell betrachtet, sondern als Instrumente des politischen Sieges. Der Rechtsstaat wird zur Fassade, hinter der sich nur noch Interessenpolitik verbirgt. Andersdenkende werden nicht mehr durch Argumente widerlegt, sondern durch administrative Maßnahmen marginalisiert.

Die Demokratie – oder besser gesagt, diejenigen, welche die Demokratie für ihr ideologisches Lager gepachtet zu haben glauben – verteidigt sich, indem sie beginnt, wie ihre Feinde zu handeln oder deren befürchtete Maßnahmen „vorwegzunehmen“. Doch die Stabilität, die durch Ausschluss erkauft wird, ist trügerisch – denn sie setzt sich nicht durch Konsens, sondern durch Erschöpfung durch.

Macht bleibt Macht, Angst bleibt Angst

Es gehört zu den naiven Reflexen der Geschichtsschreibung zu glauben, aus der Geschichte könne man „lernen“. Wer die erschreckend gleichförmige Entwicklung der großen Zivilisationen studiert hat, weiß: In Wahrheit wiederholen sich die grundlegenden dialektischen Mechanismen der Geschichte immer wieder, weil sich die anthropologischen Konstanten nicht ändern. Macht bleibt Macht, Angst bleibt Angst, und wer einmal die Möglichkeit zur Ausschaltung des Gegners besitzt, wird selten von sich aus von ihrer Anwendung ablassen, wenn alle Grenzen des traditionellen Anstands geschwunden sind.

Früher oder später wird daher auch im Abendland eine Seite siegen – nicht, weil sie überzeugender, sondern weil sie entschlossener, rücksichts- und kompromissloser agiert. Und das Volk? Es wird, wie so oft in der neueren Geschichte, nicht entscheiden, sondern sich beugen, ist zu fürchten. Nicht aus Überzeugung, sondern aus Müdigkeit. Aus dem Wunsch nach Ruhe, nach Ordnung, nach Sicherheit.

Rom kannte diese Müdigkeit – sie hieß Augustus. Unsere Zeit wird ihr eigenes Wort dafür finden.

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