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Brokstedt und das Böse

„Damit wir im Tod nicht untergehn“

Pfarrer Heiko Kiehn ist seit fünf Jahren katholischer Seelsorger im holsteinischen Quickborn (Kreis Pinneberg) vor den nördlichen Toren Hamburgs, seit 1. September 2020 als Pfarrer in der örtlichen Großpfarrei Heiliger Martin. In sechs zugehörigen Kirchen und zusammen mit zwei anderen Pastoren versorgt der gebürtige Lüneburger die Katholiken der norddeutschen Diaspora mit den Sakramenten und unterweist sie im Glauben.

Zum Einzugsgebiet der Großgemeinde gehört auch die 50.000-Einwohner-Stadt Elmshorn. Seit Heiko Kiehn 2014 mit 33 Jahren im Hamburger Dom St. Marien zum Priester geweiht wurde, ist er vielen, vielen Menschen und Situationen begegnet, aber noch nie zu einem derart herzzerreißenden seelsorglichen Einsatz gerufen worden wie im Winter dieses Jahres: Weil die Familie der im Regionalzug bei Brokstedt ermordeten Ann-Marie Kyrath in Elmshorn und damit im Einzugsgebiet der Pfarrei wohnt, kümmert sich Pfarrer Kiehn um die Eltern.

Mehrfach besucht er Michael und Birgit Kyrath, sitzt im Wohnzimmer der Eltern, versucht in den schwärzesten Stunden, Tagen und Wochen als mitleidender Gottesmann ansprechbar zu sein und gerade hier das „Gott ist treu“ seines Primizspruches nach 1 Kor. 1,9 zu bezeugen. Wie findet man Worte durch das unbegreiflich Böse hindurch? Später wird in der katholischen Tagespost einmal zu lesen sein, Pfarrer Kiehn habe durch Anwesenheit und Gespräch es vermocht, dass Vater Kyrath über der ermordeten Tochter nicht auch noch den Glauben an Gott verloren hat. Ann-Marie, das einzige Kind ihrer Eltern, war in der katholischen Gemeinde von Elmshorn Messdienerin und erst eine Woche vor ihrem gewaltsamen Tod 17 Jahre alt geworden.

Wegen zweifachen Mordes und wegen versuchten Mordes in vier Fällen muss sich Ibrahim A. seit dem 7. Juli vor dem Landgericht Itzehoe verantworten. Der aus dem Gazastreifen stammende, mehrfach vorbestrafte Palästinenser (33) stach am 25. Januar in der Regionalbahnlinie RB 70 auf dem Weg von Kiel nach Hamburg unmittelbar vor der Einfahrt in die Station Brokstedt (Kreis Steinburg) offenbar wahllos und ohne Vorwarnung auf Fahrgäste ein. Mit einem nur Stunden zuvor in einem Kieler Supermarkt gestohlenen Fleischermesser mit 20 Zentimeter langer Klinge metzelte er die Berufsschülerin mit unfassbaren 26 Messerstichen nieder. Ihr neben ihr sitzender Freund Danny Preuß, Azubi bei der DB-Fahrzeuginstandhaltung Neumünster, soll nach Zeugenaussagen noch versucht haben, seine Freundin wegzuziehen. Der 19-jährige erlitt zwölf Stich- und Schnittverletzungen, ein Stich ins Herz war tödlich. Vier weitere Passagiere verletzte der Täter mit dem Messer schwer, darunter eine Frau, die erst an der Station Brokstedt nichtsahnend zugestiegen war. Eine andere Frau, die dem Täter gegenübergesessen haben soll und die er so schwer verletzte, dass sie zeitweise in ein künstliches Koma versetzt werden musste, nahm sich im Juni das Leben.

Der Fall wurde auch wegen des offenbar werdenden kompletten Behördenversagens bundesweit bekannt. Beispielsweise war A. nur knapp eine Woche zuvor aus der U-Haft in Hamburg entlassen worden.

Als „Brokstedt“ sich ereignete, berichtete Corrigenda aktuell. Manchmal aber lässt einem ein Ereignis keine Ruhe. Es ergeben sich weitere, grundsätzlichere Fragen. Wie kann Gott das zulassen, warum wehrt er dem Bösen nicht? Und so suchte Corrigenda Herrn Pfarrer Kiehn im Quickborner Pfarrhaus zu einem Gespräch auf über die Rechtfertigung Gottes angesichts des Bösen, über das, was Erlösung bedeutet, über die Kostbarkeit des Lebens, über Seelsorge in einer Gott gegenüber gleichgültigen Umgebung und über Fragen, auf die auch er keine Antwort weiß.

Corrigenda: Lieber Pfarrer Kiehn, Sie sind Priester, Sie haben eine Gemeinde. Hören Sie oft Beichte, gibt es bei Ihnen feste Beichtzeiten?

Pf. Kiehn: Ja, die gibt es bei uns. In der Regel vor den Gottesdiensten, manchmal auch nach den Gottesdiensten, wenn Menschen anfragen, oder außerhalb der Gottesdienste. Es gibt das ganze Programm, und Menschen kommen zur Beichte.

Da sitzen Sie dann nicht allein im Beichtstuhl?

Nein, in aller Regel nicht. Sie stehen nicht immer Schlange, aber ich sitze meistens nicht vergeblich da. Und diejenigen, die sich mit mir konkret verabreden, die sind ja dann sowieso zuverlässig da.

Was ich einen Priester schon immer mal fragen wollte: Wie werden Sie als Mensch damit fertig, von so vielen Sünden hören zu müssen?

Für mich ist immer wichtig, wenn ich Beichte höre, mit der Haltung hineinzugehen, dass die Leute nicht mir das sagen wollen. Ich bin nicht der Adressat. Sondern der Adressat ist Gott. Ich bin nur ein Werkzeug. Und es geht links in mein Ohr rein und rechts wieder raus. Ich behalte das nicht. Ich merke mir das auch nicht. Das ist auch nicht meine Aufgabe, sondern ich versuche, sozusagen an Stelle Gottes dort zu sitzen oder für Ihn da zu sitzen, zu hören und am Ende etwas Gutes zuzusprechen, damit der Mensch, der beichtet, gelöst und aufrecht diesen Raum oder dieses Gespräch wieder verlassen kann.

Pfarrer Heiko Kiehn

Das, was gesagt wird, ist nicht für meine Ohren bestimmt – es ist für Gottes Ohren bestimmt, ich bin da nur ein Werkzeug. Ich halte es so, dass ich nach einer Beichtzeit oder einem Beichtgespräch das alles dem lieben Gott in die Hand gebe; ich setz’ mich dann hin und bete für die Menschen, die zur Beichte waren, das, was sie mir anvertraut haben, und in dem Moment gebe ich das auch alles ab. Ich trage es nicht mit mir herum.

„Gott ist kein kleinlicher Buchhalter“

Von Gottfried Wilhelm Leibniz stammt der Begriff Theodizee, die Rechtfertigung Gottes trotz der Übel in der Welt. Leibniz kategorisierte verschiedene Arten von Bösem: physisches Übel, metaphysisches Übel und moralisches Übel, und in der Beichte haben wir es wohl in aller Regel mit dem moralischen Übel zu tun – mit dem, was die Menschen selbst kraft ihrer Freiheit so anrichten. Sollten wir nicht bei dem Bösen, das so geschieht, zunächst auf all das achten, das klar auf unsere eigene Kappe geht, wo wir selbst Leid provozieren, weil wir eindeutig Gottes Gebote gebrochen haben, bevor wir etwa beginnen, mit Gott zu hadern in der Art von: Warum hast Du das nur zugelassen?

So, wie Sie das jetzt sagen, klingt das ein bisschen nach Tun-Ergehen-Zusammenhang: Du hast das getan, das war eigentlich nicht richtig nach moralischer Vorstellung, dann musst du dich auch nicht wundern, wenn du dafür jetzt auch eine kleine Quittung bekommst, ja? Mir selber ist dieses Denken fremd. Also, dieser Gedanke: Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort.

Manchmal hat man ja so die Ahnung: Da macht Gott lieber gleich reinen Tisch, ohne einem das später noch mit Zins und Zinseszins vorzulegen.

Genau, und das rutscht ja vielen Leuten so raus. Und oftmals ja auch der Gedanke: O je, was hab’ ich nur falsch gemacht? Womit habe ich das verdient? Das fragen wir uns übrigens meist auch nur dann, wenn uns etwas Schlechtes widerfährt – wenn alles schick und alles super ist, fragen die wenigsten danach, womit sie das eigentlich verdient haben. Das wäre auch noch mal eine interessante Wendung, aber das ist nicht unser Thema.

Nein, dieser Gedanke ist mir insofern fremd, weil ich glaube, dass Gott kein kleinlicher Buchhalter ist, sondern unglaublich großzügig und weitherzig, und zwar in einer Weise und in einer Weite, wie ich es mir in meiner Begrenztheit nicht ansatzweise ausmalen und vorstellen kann. Diese Frage, diese Haltung, dieses Gefühl ist, glaub ich, ein sehr menschliches Gefühl. Ich schaue in die Heilige Schrift, wir hören von einem Menschen, der von Geburt an blind ist, und es kommt sofort diese Frage, wer hat gesündigt, er oder seine Eltern? Es wird sofort die Frage nach Schuld gestellt. Auch schon in der Bibel, auch vor Jesus schon. Und Jesus räumt mit diesem Gedanken ziemlich klar auf. Gesündigt haben weder er noch seine Eltern, das ist jetzt überhaupt gar nicht die Frage, wer hier gesündigt hat.

Meine Frage zielt eigentlich mehr darauf hin, sich zunächst einmal selbstkritisch zu prüfen, wo bin ich denn verantwortlich für Leid, also ich selbst, durch mein Handeln, auch mein Übertreten von Geboten. Das sind leidvolle Wirkungen, die mich selbst oder andere betreffen, bevor man womöglich gleich die Anklage gegen Gott richtet. Also erst mal zu gucken, ist man vielleicht auch selbst dafür verantwortlich?

Ja, da kann ich auch sehr gut mitgehen. Es ist für Menschen oftmals einfacher, für schlechte Dinge jemand anderen als sich selbst verantwortlich zu machen. Aber es gehört zur Wahrheit des Menschen dazu, es gehört zu meiner Wahrheit dazu, dass auch ich nicht alles richtig mache und dass auch ich Schuld auf mich lade und dass ich mich nicht immer gut verhalte. Und dieses Verhalten hat sicherlich auch Konsequenzen auf das Verhalten anderer; funktioniert im Guten ja genauso. Und dafür, da gehe ich auch mit, natürlich, also für vieles, was in meinem Alltag an Ungutem passiert, da kann ich mich erst mal fragen, zu welchem Teil hast du jetzt dazu beigetragen, bevor ich alles gleich Gott in die Schuhe schiebe.

„Es gibt darauf keine einfache Antwort“

Wenn wir uns die Geschichte mit Jesus und dem Blindgeborenen noch einmal angucken, wo Er diesen Tun-Ergehen-Zusammenhang völlig rausnimmt: Umso mehr stellt sich die Frage, warum haben andere das Augenlicht, aber dieser ist blind. Warum hatte er das Augenlicht nicht? Und nicht jeder Blindgeborene hat das Glück, dem Herrn Jesus zu begegnen, der ihn sehend macht.

Und da sind wir natürlich in der Gretchenfrage. Warum gibt es das Leid? Warum sind Menschen gesund und andere Menschen krank? Warum haben Menschen Glück, sind auf der Sonnenseite des Lebens, und die anderen, die schuften sich ab und kämpfen und rackern und haben aber immer irgendwie Pech und es klappt immer nicht, und die kommen irgendwie nicht auf zwei Füße zu stehen. Das ist eine große Frage des Glaubens, die schon viele vor mir auch schon versucht haben, zu beantworten, weil die Frage im Raum steht, wie verhält sich diese Realität mit dem Glauben an einen liebevollen, an einen gerechten, an einen gütigen Gott.

Im Glauben sind wir überzeugt, dass dies Gottes „Kerneigenschaften“ sind.

Es gibt darauf keine einfache Antwort, die jetzt druckreif wäre und in ein kleines Interview passt. Aber ich erlebe es so, dass – nehmen wir jetzt das Beispiel von dem Blindgeborenen, oder andere Menschen, die blind sind oder Beeinträchtigungen haben, erkrankt sind – die fordern mich heraus. Menschen, die meine Hilfe brauchen oder die Hilfe brauchen, weil sie Beeinträchtigungen haben, fordern mich in einer liebenswerten Haltung, in meiner liebenswerten Haltung heraus. Ich bin auf einmal angesprochen, und ich muss Rücksicht nehmen. Ich muss vielleicht ein bisschen kreativ sein, um diese Menschen zu integrieren. Sie beschäftigen mich. Sie fragen mich in einer ganz guten Weise an, und ich muss darauf reagieren.

Und in aller Regel gelingt es ja, nicht nur mir, sondern auch vielen anderen Menschen, die häufiger auch mit beeinträchtigten Menschen zu tun haben, dass sie gute Seiten wecken. Menschen entwickeln Fürsorge, Menschen kümmern sich, Menschen nehmen sich Zeit, werden geduldiger und zeigen dadurch, dass im Menschen etwas Gutes steckt, also, dass im Menschen auch ganz viel Liebe steckt für einen anderen Menschen, was vielleicht manchmal so im Alltag nicht so zum Vorschein kommt. Aber dann ist da ein blinder Mensch und braucht Hilfe, um in den Bus einzusteigen, und auf einmal erlebe ich Menschen oder erlebe mich selbst, „warten Sie einmal hier, diese Stufe müssen Sie nehmen, und auf einmal zeige ich, dass es doch auch noch mal etwas anderes gibt, was meinen Alltag bestimmt, nämlich Liebe. Und Liebe kann in solchen Situationen zum Vorschein kommen. Und das kann in vielen Situationen sehr, sehr heilsam sein.

Also, ich will Dinge nicht verzwecken. Ich möchte auch das Leid nicht verzwecken – „es gibt das Leid, damit andere Menschen Gelegenheit haben, gut zu sein. Das wäre mir als Antwort zu billig. Ich weiß nicht, warum es das Leid gibt. Ich weiß aber, dass das Leid, groß und klein, mich zum Guten und zum Gutsein herausfordert, und das verändert schon was.

Ein am 12. Oktober 2023 durch russische Raketen in Brand geschossener Wohnblock im ukrainischen Awdijiwka, Bezirk Donezk: Nicht in dieser Zeit und dieser Welt

Die Raketen dieser Welt und Gottes Zusage, die über diese Welt hinausgeht

Dann haben wir die Situation, dass das Leid so ungleich verteilt ist und die Menschen zufällig zu treffen scheint. Ein Beispiel aus der Gegenwart: russische Raketen schlagen in der Ukraine in einen Wohnblock ein, und der eine Aufgang steht vollkommen in Flammen, und zwei Aufgänge weiter sind bloß die Scheiben zersplittert. Hier sind die Menschen im Schlaf verbrannt, dort sind sie mit dem Leben davongekommen. Warum ist die Rakete nicht ...? Hätte die nicht zwanzig Meter weiterfliegen und ihr Ziel ganz verfehlen können? Wie gehen Sie im Religions- oder Erstkommunionunterricht solche Fragen durch, wenn Sie den Kindern und Jugendlichen die Lehre vom Schutzengel vermitteln?

Die Frage nach dem Warum wird eine Frage sein, auf die wir keine Antwort bekommen, zumindest nicht in dieser Zeit und in dieser Welt. Eine Frage, die ich Gott gerne stellen werde, wenn ich mal bei Ihm angekommen bin. Damit muss Er rechnen (schmunzelt), dass ich ganz viele Warum-Fragen habe, und dann bin ich mal auf Seine Antworten gespannt.

Schutzengel erzählen mir davon, dass Gott da ist und dass Er mich behütet. Er behütet mich davor, dass ich vergehe. Und wenn ich das als religiöser Mensch sehe, stelle ich eben fest: Ja, es gibt trotzdem Unfälle, es gibt Dinge, wo man das Gefühl hat, ach, kein Schutzengel da gewesen oder gerade woanders hingeguckt, oder so... Das verträgt sich kaum.

Ich denke weiter. Gott ist viel größer, als ich mir das irgendwie vorstellen kann. Und wenn ich glaube, dass Gott mein Leben schützt, und wenn Er mich behütet vor dem Untergehen, dann glaube ich, dass Er mich davor behütet, dass ich im Tod untergehe. Seine Zusage, Ich halte dich in Meiner Hand, Mein Schutzengel umgibt dich, geht über die Dimension dieser Welt hinaus. Daran glaube ich ganz fest. Das ist Seine Zusage. Also selbst, wenn ich hier den Tod erleide, glaube ich, dass ich im Tod nicht untergehe.

Dann machen wir Menschen wahrscheinlich oft den Fehler, dass wir viel zu sehr auf die Spanne zwischen Geburt und Tod gucken und nicht die Ewigkeit mitdenken, so wie Gott es macht.

Ist ja verständlich! Wir leben im Hier und Jetzt, und unsere Vorstellung ist Geburt bis Tod, das ist unser Leben hier auf dieser Erde. Und das ist das, was wir kennen, ist das, was ich kenne, und ich liebe dieses Leben auf dieser Erde. Ich kann ja selbst noch nicht abschätzen, wie schwer es mir einmal fallen wird, wenn ich diese Erde verlassen muss, ich glaube, das ist nicht nur einfach, weil es unser von Gott geschenkter, vertrauter Ort ist – der ja nicht nur schrecklich ist. Es gibt so viel Schönes auf dieser Welt zu entdecken und zu erleben. Aber wenn ich Gott in mein Leben hineinhole, dann weitet Er meinen Horizont. Dann ist mir bewusst, dass mein Leben mehr ist als die Zeitspanne zwischen Geburt und Tod, und auch weit mehr ist als diese Erde – dann sind wir in dem Bereich, den wir Himmel nennen.

„Erst mal sage ich nichts, sondern ich halte mit aus“

Wir kommen ganz tastend der Frage etwas näher, warum Gott Leid zulässt. Kann es sein, dass Gott Leiden schickt, weil Er mit diesem Menschen noch etwas vorhat? Was würden Sie darauf entgegnen?

Das Leid ist da, es ist ein Faktor in der Welt. Aber ich bin dem Leid nicht einfach nur hilflos ausgeliefert, sondern ich kann dem Leid auch begegnen: durch Fürsorge, durch Solidarität, durch gelebte Nächstenliebe. Und es gibt ja auch die Erfahrung, dass Menschen, die Leid erfahren haben – ja, es verändert, es prägt einen Menschen auch, aber es kann auch eine Tiefe geben, ein Bewusstsein dafür: das Leben ist nicht nur so selbstverständlich und so sorglos. Das bedeutet, ich muss verantwortlich mit diesem Leben umgehen. Das Leben hängt ja am seidenen Faden!

Wir haben gerade heute einen Mitbruder beerdigt, der ganz plötzlich umgefallen ist und tot war. Da hatte keiner mit gerechnet. Was mir auch immer wieder sagt: Lebe auch das Leben! Dazu gehört das gute Handeln, dazu gehört auch das Genießen, dazu gehört auch, dass ich Dinge nicht immer nur aufschiebe und sage, das mache ich dann irgendwann. Wenn ich Jesus ernst nehme, zum Beispiel auch immer: Der richtige Zeitpunkt für die Liebe ist jetzt! Der richtige Zeitpunkt für die Versöhnung, für das Ausstrecken der Hand ist jetzt, nicht irgendwann. Es kann eben auch mal ganz schnell anders kommen. Die Erfahrung des Leids erinnert mich immer auch wieder daran, dass ich zum Guten aufgefordert bin, und zwar jetzt! Und nicht dann, wenn’s mir mal passt.

Es gibt auch die Erfahrung: Ich komme mit Menschen zusammen, die Leid erfahren und alles andere als verbittert sind. Es gibt Menschen, die ich bewundere und wo ich denke, euer Leben ist so schwer, aber die mir signalisieren und sagen: Nein, wir haben ein gutes Leben, wir kommen gut zurecht. Und Menschen entwickeln, zum Beispiel wenn sie Beeinträchtigungen haben, manchmal erstaunliche Fähigkeiten. Oder Menschen entwickeln einen ganz starken Glauben.

Ich habe mit Menschen zu tun gehabt, die todkrank waren – und mir ganz viel vom Glauben erzählt haben und mir ganz viel mitgegeben haben. Da konnte ich dann nur stehen und staunen. Auch das gibt es. Es gibt Strategien, mit Leid auch umzugehen. Ich bin dem Leid nicht einfach nur hilflos ausgeliefert. Es gibt die Momente, natürlich, da bin ich ohnmächtig! Es gibt die Momente, wo ein junger Mensch aus dem Leben gerissen wird, weil ein offensichtlich Wahnsinniger eine wahnsinnige Tat verübt! Da stehe ich natürlich hilflos. Aber ich bleibe da als glaubender Mensch nicht stehen. Sondern dann gehe ich weiter.

Nikolaj Ge: Die Kreuzigung (1892)

Was sagen Sie da den Eltern, die ihr Teuerstes, ihr Liebstes verloren haben?

Erst mal sage ich nichts, sondern ich höre, und ich halte mit aus. Ich ertrage diese Situation, ich ertrage die Hilflosigkeit, die Ohnmacht in dem Moment, und ich ertrage die Feststellung, dass Gott so anders denkt als ich. Und eben auch die Feststellung, dass Er offensichtlich ja nicht eingegriffen hat. Das ertrage ich. Und dann gehe ich irgendwann weiter.

Das Wichtige ist, wenn ich was sage, dass es nichts Billiges ist. Keine Floskel, nichts, was irgendwie sagt: „Alles wird wieder gut, und „Mal gucken, wir werden mal sehen, was die Zeit so mit sich bringt, die wird dann so die Wunden heilen“ oder so ... Nein! Das tue ich nicht. Und ich kippe keine fromme Soße über Dinge und sage „Der liebe Gott wird das alles schon gut machen. Nein! Das geht nicht. Sondern wenn ich an diese Situation auch denke, bin ich selber mit meinem Menschsein, mit meinem Glauben, mit meinem Hoffen, aber auch mit meinem Zweifel konfrontiert, und das bringe ich mit ins Wort.

Und dann versuche ich, ein wenig diese Geschichte – oder die Geschichten, die mir erzählt werden, mit denen ich konfrontiert bin –, ich versuche, diese Geschichten dann zu Ende zu erzählen und dadurch Menschen eine Perspektive, eine Hoffnung aus dem Glauben mitzugeben. Also, wenn Menschen sich in Schuld verstricken und da nicht mehr weiterkommen, dann zeige ich die Erfahrung auf, wie schön es ist, einander zu vergeben. Wenn Menschen todkrank sind und sagen, hier ist meine Geschichte bald zu Ende, dann erzähle ich die Geschichte weiter und erzähle vom Himmel und von Gott und von dieser Perspektive.

Wenn ich auf diese Tat in Brokstedt schaue, dann ist die Geschichte, die ich zu Ende erzähle oder versuche, zu Ende zu erzählen, eine Geschichte, die zumindest mir sagt: Auch wenn ich das alles nicht verstehe, dass da ein Gott ist, der diese beiden – es sind ja zwei junge Menschen gewesen –, der diese beiden Menschen jetzt hält und diese Wunden heilt, die wir nicht heilen konnten. Und dass diese Leben nicht einfach nur vernichtet sind, sondern dass diese Leben aufgehoben sind.

Es ist ganz offensichtlich, dass Gott das Leid nicht verhindert. Gott verhindert auch nicht den Tod, aber Er verhindert, dass der Tod das letzte Wort hat. Das sagt mir der Glaube. An diesem Glauben möchte ich festhalten. Bei der Trauerfeier habe ich das damals so oder in ähnlichen Worten gesagt: Ich halte mich manchmal auch trotzig an der Zusage Gottes fest, dass Er sagt, „Ich bin da, und da, wo Ich bin, verheiße Ich Leben. Daran halte ich mich trotzig fest, auch in der Situation meiner größten Ohnmacht und meines größten Fragens und Zweifelns, weil ich mir diese Hoffnung nicht nehmen lassen möchte.

Dürfen wir Gott fragen? Anklagen? Oder ist das vermessen?

Also ich sage immer, der liebe Gott hat uns gemacht und jeden einzelnen, und Er weiß, wie wir ticken, und ich glaube ganz fest, dass ich das darf: Ich darf klagen, ich darf fragen. Damit muss Gott klarkommen, dass ich das tue. Und ich bin mir sicher, dass Er damit klarkommt, weil Er Gott ist. Die Heilige Schrift ist voll von Klageliedern – wenn ich in die Psalmen schaue, in die Gebete ...

... Hiob sind alle seine Kinder gestorben, dennoch ist er mit Gott im Gespräch geblieben ...

Ja! Ich brauche aber auch diesen Draht, wo soll ich denn sonst hin mit meiner Klage? Ein Mensch kann mir da nicht immer helfen und kann mich am Ende da auch nicht trösten. Ich brauche diesen Adressaten. Von daher glaube ich, dass ich damit natürlich zu Gott kommen kann, auch mit meiner Anklage. Die ist vielleicht nicht immer berechtigt, aber auch damit muss Gott klarkommen, ich bin auch nur ein kleiner Mensch und muss meine Hilflosigkeit ausdrücken können. Und das darf ich, ich darf zu Gott kommen in jeder Situation, mit allem, was mich bewegt, mit all meinen Gefühlen. Er ist ein guter Vater, Er schickt mich nicht weg. Auch wenn ich vielleicht mal ungerecht oder hart bin.

„Von dieser Angst hat Christus uns befreit“

Wo Sie eben sagten, Gott lässt uns Menschen nicht im Tode, sondern Sie glauben fest an diese Zusage, dass Er uns aus dem Tode wieder herausholt: Er hat ja auch Seinem eigenen Sohn den Tod nicht erspart, aber Er hat Ihn im Tode nicht belassen. Was macht das mit unseren Fragen, etwa: Gott, wie kannst Du das Leid zulassen, das auch Unschuldigen zustößt?

Also die Perspektive, die Christus mir bringt, ist erst mal: Gott ist das Leid nicht fremd. Er erleidet es selbst in Seinem Sohn, aber Er durchleidet es nicht nur, sondern Gott ist Liebe, und Er durchliebt dieses Leid, und in diesem Durchlieben entsteht die neue Perspektive eines Lebens, das nicht mehr vergeht. Das Leid, der Tod haben nicht das letzte Wort – das ist die Erlösung, die am Kreuz geschehen ist. Aber ich komme am Leid nicht vorbei, ich komme am Kreuz nicht vorbei! Das Kreuz ist eine Realität, der ich nicht ausweichen kann, so gern ich das wollte; aber auch eine Realität, die ich brauche, um gewandelt werden zu können.

Im Katechismus steht, was der Sinn des Lebens ist: Wir sind auf Erden, um Gott zu erkennen, Ihn zu lieben, Ihm zu dienen und einst ewig bei Ihm zu leben. Das Recht auf Streben nach Glück gibt’s in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, aber nicht im Neuen Testament, im Gegenteil. „Wer Mein Jünger sein will, der nehme das Kreuz auf sich und folge Mir nach“ (Mt 16,24). Ein ganz neuer Zugang zum Leiden?

Christusnachfolge ist immer Kreuzesnachfolge, von Anfang an. Es ist aber auch, glaube ich, eine Frage unserer Zeit, dass Menschen das Gefühl haben, dass sie das Recht haben, gesund zu sein, immer glücklich zu sein, immer auf der Sonnenseite des Lebens zu sein, und sie vergessen darüber, dass es erst mal nicht selbstverständlich ist, dass es ein Geschenk ist, das ich bekomme, und vergessen darüber auch, sich mit dem Leid auseinanderzusetzen und sich ihm gegenüber zu verhalten. Viele sind relativ schnell überfordert, wenn es mal nicht so läuft, wie sie es sich gedacht haben.

Und wenn man die Perspektive radikal wechselt, dass man sich klarmacht, etwa: Ich habe gar nicht das Recht, Gott Fragen vorzulegen, sondern das Leben – oder wenn wir Christen sind: Gott – fragt uns, was machst du denn mit der gegebenen Situation, wie gehst du denn mit den Aufgaben um, die dir jetzt eben geschickt sind? Also nicht Leid zu erklären, sondern den Fokus darauf zu legen, Leid zu bewältigen. Was würden Sie darauf antworten?

Leben ist nicht immer planbar, sondern Leben ereignet sich. Das erlebe ich jeden Tag und viele andere auch. Und ich stehe dann immer wieder da: Wie verhalte ich mich eigentlich dazu? Dann kann ich ja in aller Freiheit entscheiden: Packe ich das an, mache ich da etwas Gutes draus – diese Freiheit, die habe ich. Das ist wieder das, was vorhin schon mal angeklungen ist: Ich bin nicht allem nur hilflos ausgeliefert, sondern daraus erwächst auch ein Tun, ein Umgang.

Da bin ich immer wieder herausgerufen – durch den Glauben sowieso –, nicht zu verzweifeln, sondern das anzupacken, das Leben zu wagen mit der Zusage Gottes, der sagt: Ich bin bei dir! Geh mal hier weiter, hab Mut! Hab keine Angst! Der Glaube sagt, du musst jetzt hier nicht verzweifeln, du musst letztlich keine Angst um dich selbst haben. Von dieser Angst hat Christus uns befreit. Weil Er uns die ganze Fülle des Lebens schenkt. Ein Teil ist hier erfahrbar, das andere wird auf jeden Fall in der Ewigkeit erfahrbar sein. Ich gehe nicht unter.

Das Leben, so, wie es sich ereignet, ist immer wieder eine Anfrage an mich, wie ich mich verhalten möchte. Es gibt Dinge, die mich traurig machen, mich verzweifelt machen, die mich wütend machen, die mich auch hilflos zurücklassen. Aber der Glaube sagt mir, ich muss mich von diesen Gefühlen, die mich auch einmal lähmen können, nicht bestimmen lassen. Das Licht ist stärker als das Dunkel. Am Ende haben nicht das Leid und die Dunkelheit und der Tod das letzte Wort, sondern die Liebe, die nicht vergeht, das Leben, das nicht vergeht. Die haben das letzte Wort, Gott hat das letzte Wort.

Und am Ende ist der Satan dann so klein mit Hut.

Ich hoffe das angesichts der Liebe, die ihm entgegengesetzt wird. Damit kann er nicht umgehen.

Die Aufgabe, ein gesättigtes Volk zu speisen

Dass ein Mensch von einem Schicksalsschlag spontan überwältigt wird und nicht weiterweiß, wird vorübergehen. Letztendlich hat der Mensch die Möglichkeit, sich zu dem Schrecklichen, das ihm widerfährt, zu verhalten – auf diese oder auf jene Weise. Ist das die „herrliche Freiheit der Kinder Gottes, von der Paulus spricht?

Klingt fast so! (lacht herzhaft) „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!, schreibt Paulus im Brief an die Galater. Die Freiheit ist die, dass ich handeln kann, ohne Angst um mich selbst zu haben. Der Mensch neigt dazu – ich bleib’ da ganz allgemein –, aus einer Angst heraus zu handeln, zu kurz zu kommen; „ich möchte haben, ich möchte gesehen werden, ich möchte auch drankommen“ und bloß nicht zu viel geben, damit hoffentlich noch ein bisschen was für mich bleibt. Das ist letztlich die Angst um mich selbst. Davor hat Christus mich befreit. Wenn ich um mich selbst keine Angst mehr haben muss, wenn ich vor dem Tod keine Angst mehr haben muss, dann erlebe ich eine Freiheit in meinem Handeln und in meiner Lebenshaltung, die mir diese Welt nicht geben kann. Das kann nur Gott tun!

Ein herausragendes und besonders schönes Beispiel für so eine Haltung ist ja Pater Maximilian Kolbe in Auschwitz, der in scheinbar festgefügter Situation sich die Freiheit herausnahm, die SS auf die Plätze zu verweisen und auszudrücken, nein, nicht ihr habt hier das Sagen, sondern Gott, indem er etwas tat, was vollkommen gegen die Regeln war, und darin Gott die Ehre gab.

Mit dieser Haltung hat er eben ganz viel Segen hineingebracht in diesen verfluchten, gottverlassenen Ort. Da hat er gezeigt: Nein, Gott ist hier!, und hat in diesen dunklen Ort ganz viel Licht hineingebracht. – Also, ich muss mich dem Leid nicht einfach nur aussetzen und sagen, ich könne hier nichts machen. Ich habe die Freiheit, mich immer zu entscheiden, und habe von Gott diese große Freiheit geschenkt, eine Haltung, dem zu begegnen, die letztlich nicht von dieser Welt kommt, und das strahlt aus.

Gedenken in Auschwitz an Pater Kolbe, der anstelle eines anderen in den Hungerbunker ging: „Da hat er gezeigt: Gott ist hier!“

Jedes Jahr verlassen so viele Menschen die Kirche, die Zahl der Taufen, Firmungen, kirchlichen Eheschließungen sinkt. Angesichts der herrlichen Botschaft, die die Kirche zu vermitteln hat: Was muss sie anders machen, was umjustieren, dass das bei den Menschen mehr ankommt, dass das mehr durchdringt?

Ich glaube, wenn ich da die Patentantwort hätte, dann wäre ich nicht mehr Pfarrer im Kreis Pinneberg, sondern dann hätte ich einen roten Hut auf und würde in Rom sitzen und Bücher darüber schreiben, wie man das macht (lacht herzhaft) und würde das weitergeben – also, wenn ich jetzt hier den Knaller bringe, der alles verändert. (wieder ernst) Der Glaube hat es zurzeit schwer durchzudringen, weil Menschen glauben, ohne Gott auskommen zu können. Kommen sie ja auch. Ich kenne ja auch genügend Leute, die ohne Gott und ohne Kirche leben, das sind keine verkehrten Leute! Ich bin mit ihnen befreundet. Ja, die tun auch ihr Gutes und lieben ihre Kinder und engagieren sich und bringen sich ein. Denen scheint ja nichts zu fehlen.

Was kann Kirche machen? Die Botschaft des Glaubens ist groß! In meiner Priesterausbildung hat der damalige Regens – und das ist schon bald 16, 17 Jahre her – gesagt: Sie haben die Aufgabe, ein gesättigtes Volk zu speisen. Dieses Bild hat er damals gebracht. Da wurde uns klar: Der meint das ernst, das ist schon herausfordernd.

Ich weiß nicht, was Kirche anders machen muss. Ich kann den Glauben nicht machen. Ich kann die Leute auch nicht mit Events wieder in die Kirche holen, und das möchte ich auch gar nicht. Was ich machen kann, ist, zu versuchen, eine Sehnsucht zu wecken. Und Sehnsucht ist eigentlich im Menschen grundgelegt – die Sehnsucht nach Glück, die Sehnsucht nach einem gelingenden Leben, nach Heil, wie auch immer das aussieht. Diese Sehnsucht hat jeder Mensch. Ich glaube, dass diese Sehnsucht nicht durch mich selbst gestillt werden kann, da braucht es mehr, letztlich die Sehnsucht nach Gott, nach etwas Größerem, nach etwas, nach dem ich mich ausstrecken kann.

Gott geht es oft wie einem unglücklich Verliebten

Als Christen glauben wir, dass der Heilige Geist letztendlich den Glauben wirkt. Arbeitet der Heilige Geist heute schwächer, zurückhaltender als in früheren Jahrhunderten? Auch als in anderen Weltteilen? Hier bei uns haben viele schon die Erfahrung gemacht, wie schwer es ist, dass ein Mensch vom Unglauben zum Glauben findet.

Glaube geht natürlich immer nur in Freiheit. Wenn ich mich vom Geist inspirieren lassen, mich ergreifen lassen möchte, dann muss ich zumindest offen sein dafür. Gott gebraucht oder missbraucht mich nicht, indem er mich dazu „verdonnert, begeistert für das Evangelium durch die Welt zu gehen. Ich muss mich für diesen Geist auch öffnen, er kommt nicht einfach so. Ich glaube, da ist Gott sehr rücksichtsvoll. Wenn ich aber mit allem irgendwie zufrieden bin und alles habe, was ich brauche, ich glaube, dann hat es Gott schwer, zu wirken, dann hat es der Geist schwer, zu wirken. Darum einen kleinen Spalt auflassen!

Deswegen beten wir auch immer um den Heiligen Geist. Ich glaube, dass Er wirkt und dass Er da ist. Und trotzdem muss ich immer wieder um Ihn beten, um zu signalisieren: Ich brauche Dich jetzt, ich will für Dich offensein, ich kann mich nicht verschließen.

Die Jünger, die sich verschlossen haben damals nach dem Tod Jesu, die waren gefangen in sich, in dieser Butze, in der sie da saßen, und sind nicht ’rausgekommen. Die mussten erst wieder Erfahrungen machen, die eine Sehnsucht weckten: Da ist der Tote, der auf einmal lebt! Sie konnten Ihn berühren! Da spürten sie: Hier tut sich gerade etwas, wir machen eine Erfahrung, die uns treibt, nach außen zu gehen. Auf einmal haben sie ihre Angst verloren, der Geist kam, und sie konnten raus.

Glaube lebt aus Erfahrungen, und Kirche kann Erfahrungsräume öffnen. Wo Menschen die Erfahrung machen: Das hier ist ein guter Ort, das tut mir gerade gut. Da sind Menschen, die für mich da sind aus der Motivation des Evangeliums heraus. Damit mache ich keinen Glauben. Der Glaube kann am Ende nur in der Freiheit eines jeden Einzelnen geschehen.

Da verhält es sich wie mit der Liebe. Ich kann Menschen nicht dazu zwingen, ich kann nicht sagen zu A: Du liebst jetzt B! Und ihr werdet jetzt glücklich miteinander! Wenn das nicht kommt – ich kann dazu niemanden zwingen. Das ist die Liebe, die Gott letztlich uns gibt, aber um den Preis der Freiheit, und die Freiheit bringt es auch mit sich, dass diese Liebe unbeantwortet bleibt. So wie Menschen, die unglücklich verliebt sind, auch schon die Erfahrung machen, dass die Liebe nicht erwidert wird. Das tut weh.

Kirche als ein Instrument, dass Menschen Heil finden

Damit setzt Gott Sich ja selbst dem Leiden aus, indem Er auch immer wieder aufs neue riskiert, dass Seine Liebe nicht erwidert wird.

Genau. Alles andere würde dem Freiheitsgedanken widersprechen. Wenn ich nicht mehr in Freiheit lieben kann, sondern zur Liebe gezwungen werde, pervertiert es den Gedanken der Liebe. Liebe kann nur in Freiheit geschehen, und auch Glaube kann nur in Freiheit geschehen. Kirche tut gut daran, diese Räume zu öffnen, Kirche tut gut daran, froh den Glauben zu verkünden!

An der Seite der Menschen zu stehen, für das Evangelium zu stehen – nicht frömmelnd, aber einfach authentisch den Glauben froh verkünden und den Menschen so zu signalisieren: Du bist gesehen, du bist geliebt, du darfst so kommen, und wir machen unsere Türen und unsere Herzen für dich auf! Und jeder Mensch, der diese Sehnsucht in sich spürt, der kann hier einen Ort finden, wo diese Sehnsucht Raum bekommt. Das ist, was Kirche machen und anbieten kann.

Kirche ist ja nicht das Heil, wir sind Werkzeug. Kirche ist ein Instrument dafür, dass Menschen Heil finden. Wir sollten dieses Instrument gut gebrauchen. Alles andere können wir nicht machen! Da kann Gott vielleicht wirken durch uns, die Entscheidung muss am Ende jeder Einzelne treffen, das kann man nicht erzwingen, und das kann auch Gott nicht erzwingen. Und dann kann es sein, dass Er unter dieser Situation auch leidet, wenn Menschen nein sagen.

Das antwortlose Leid und der noch größere Gott

Wenn Sie eingangs sagten, dass wir so eine satte Gesellschaft sind, die eigentlich gar nicht mehr nach Gott fragt: Können Leiderfahrungen von Gott als ein Türöffner benutzt werden? Dass sie wie ein Anruf oder auch wie ein Donnerschlag Gottes sein können, der unser Leben damit auf einen anderen Kurs bringt, unter der Perspektive der Ewigkeit?

Es gibt prominente Beispiele dafür, dass das so sein kann. Ich denke da an den hl. Ignatius von Loyola, der sich nicht durch große Frömmigkeit auszeichnete, aber als er dann mit seiner Kriegsverletzung auf seinem Krankenlager lag, da hat sein Leben eine Wendung genommen und es umgekrempelt. Die Erfahrung gibt es. Auch bis heute. Es kann aber natürlich genau auch in die Gegenrichtung umschlagen, wenn Menschen mit Leid konfrontiert sind, dass sie Gott dann „abschreiben“ und gerade deswegen nicht mehr nach Gott fragen und sagen „Jetzt sind wir erst recht mit Dir durch“. Georg Büchner hat mal gesagt: „Das Leid ist der Fels des Atheismus.“

Haben Sie die Erfahrung so in der Gemeinde oder in der Seelsorge auch schon gemacht, dass Menschen sagen, „so etwas Schlimmes ist mir widerfahren, nein, mit einem Gott, der solches zulässt, will ich nichts mehr zu tun haben“?

Ja, ich mache Erfahrungen in alle Richtungen. Auch das kann ich nicht steuern. Ich kann Menschen nur Mut machen, den Glauben nicht zu verlieren. Weil ich glaube, dass der Glaube am Ende etwas ist, woran ich mich festhalten kann. Das ist meine Erfahrung. Ich kann nicht aus schlauen Büchern zitieren oder mit Bibelversen kommen oder so – das können die Leute selber. Ich kann aber als Seelsorger versuchen, von mir zu erzählen, und meine Hoffnung und mein Glaube ist, dass ich mich festhalten kann und – das hatte ich eingangs ja schon gesagt –, dass ich mich manchmal trotzig daran festhalte, weil ich mir diese Hoffnung nicht nehmen lassen möchte. Damit ich mich nicht in dieser Fragerei, die sich um das Leid dreht, in diesem ewigen Warum und Um-mich-selbst-Kreisen verliere.

Also, ich lebe damit, ich halte es aus, dass es das Leid gibt und dass ich auf das Warum hier keine Antwort bekomme. Dabei habe ich ganz viele Fragen. Ich glaube aber, dass in der größten Sinnlosigkeit Gott am Ende einen Sinn daraus machen kann, und dass ich vielleicht am Ende, wenn ich in den „Rückspiegel“ schaue, erkenne, was sich aus den größten Tiefpunkten, der größten Sinnlosigkeit vielleicht auch Neues entwickelt hat – was ich damals überhaupt nicht verstanden habe oder habe absehen können.

Als Christen wissen wir, dass Einer mit uns geht, der alles gelitten hat, was man nur leiden kann, um uns das ewige Leben zu eröffnen.

Ich glaube, dass Gott mit uns Mitleid hat und mit uns auch mitleidet, auch unter dem, was wir in unserer Freiheit nicht in Seinem Sinne entscheiden.

Grabmal auf einem Friedhof: Jesus Christus, gekreuzigt und doch Sieger über den Tod

Und erstaunlich eigentlich, wo Gott doch in Sich vollkommen glücklich ist und Ihm nichts fehlt. Er braucht uns nicht –

… Er braucht uns nicht. Aber Er hat ja zu uns gesagt, deswegen sind wir da. Und Er liebt, und Liebe ist auch immer Solidarität im Leiden. Und da ist Er mit. Mich begleitet seit vielen, vielen Jahren ein Bild, was mir die größte Theologin gegeben hat, an die ich mich erinnere, und die nie studiert hat, nämlich meine Großmutter! Eine einfache, fromme Frau. Und ich halte sie deswegen für die größte Theologin, weil sie mir auf eine Weise von Gott erzählt hat, die mich dazu geführt hat, dass ich hier zum Beispiel sitze. Ich kann mich daran erinnern, dass ich als Kind mit acht, neun Jahren ihr ganz viele Fragen gestellt habe, und unsere Großmutter hat viel vom Krieg erzählt, sie war ein Kriegskind. Als Kind fand ich das faszinierend und erschreckend. Und einmal, da haben wir in der Küche gesessen, und ich habe diese ganz menschliche Frage gestellt, ich hab’ gesagt: Oma, was hat der liebe Gott gemacht? Und die Antwort unserer Großmutter war: Der liebe Gott hat geweint. Das ist eine Antwort, die ich nie vergessen werde und die mich bis heute berührt, weil es zeigt, wie sehr Gott auf der Seite des Menschen ist und wie menschlich Er auch ist in Seiner Liebe, in der Er allmächtig ist.

„Über den Särgen der Kinder und der Alten, über den Särgen der Frommen, die in einfältigem Glauben in ihrer letzten Stunde allein auf Christus hofften, singen die Engel: ‘Aber sie sind im Frieden.’ Wo wir Zurückgelassenen nichts sehen als Not und Angst und Pein und Selbstvorwurf und Reue, wo wir nichts sehen als Hoffnungslosigkeit und das Nichts, da sagt Gott: ‘Aber sie sind im Frieden.’ Gottes ‘Aber’ ist es, das gegen all unser Denken und Suchen geht. Gottes ‘Aber’ ist es, das die Toten nicht sterben lässt, das sie auferweckt und zu sich führt. Gottes ‘Aber’ ist es, das den Tod zum Schlaf macht, der uns in einer neuen Welt aufwachen lässt.“ (Aus einer Predigt Dietrich Bonhoeffers über Weisheit 3,3 zum Totensonntag 1933)

 

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