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Kolumne „Mild bis rauchig“

Untertan für einen Tag

Meinen Frühjahrsurlaub habe ich, wie seit vielen Jahren, in England verbracht. Es waren die Tage vor den Krönungsfeierlichkeiten. Das Land bereitete sich auf das Ereignis vor. In London Absperrgitter an den Straßen und Übertragungstechnik in den Parks, Großleinwände und Mobiltoiletten. In den Geschäften Union-Jack-Wimpel, königliche Keksdosen mit Krönungsdatum, die sich in fünfzig Jahren beim Trödler wiederfinden werden, nachdem die Wohnung der Granny aufgelöst worden sein wird. Und natürlich Coronationmugs – Krönungstassen – mit dem Bild Charles’ III. und den Symbolen seiner Königswürde.

In den Pubs Ankündigungen für den 6. Mai: Public Viewing der Krönungsfeier-lichkeiten in London, anschließend Coronationparty mit High Tea und Coronation-Ale. Der 6. Mai sollte ein Tag des Königs und seines Landes werden. Eine gigantische Familienfeier mit vielen britischen Specials, in die sich Nichtengländer kaum hineindenken können.

Man war gespannt auf die Abläufe der Krönung selbst, die trotz ihrer rituellen Verschlankung im Wesentlichen die Elemente der mittelalterlichen Krönungsliturgie bewahren sollte und in denen sich daher auch noch der ursprüngliche Gedanke ausspricht, dass der König von Gott dazu bestellt ist, an seiner statt das Leben der Menschen in seinem Verantwortungsbereich (wenn man nicht „Untertanen“ sagen will) zu ordnen. Insofern sollte bei aller Modernität des heutigen Staatswesens der Krönungsakt am 6. Mai in London ein ritueller Ausflug in die Welt der vormodernen Monarchie werden, so war zu vermuten.

Die Unfähigkeit zu glauben galt als seelisch abnorm

Und so war es auch und wurde von den meisten Kommentatoren – wenigstens von denen in Deutschland – in einer Mischung von Verunsicherung und Bewunderung in den Direktübertragungen oder später in der Presse besprochen. Kaum jemand konnte sich der Faszination der Welt entziehen, in die einen die Krönungsliturgie am Ende hatte schauen lassen. Eine Welt vor der Absetzung Gottes und seiner diversen Stellvertreter.

Nach meiner Rückkehr sollte sich herausstellen, dass der 6. Mai schon einmal ein Tag der Verunsicherung über royale Gepflogenheiten gewesen war – allerdings in umgekehrte Richtung. Zufällig stieß ich nämlich auf folgenden Befund: Am 6. Mai 1756 – also exakt 267 Jahre vor der Krönung Charles’ III., schrieb die Marquise de Pompadour an den Comte de Tressan, der in Nancy am Hof des Königs Stanislaus Leszczyński lebte, um von ihm Nachhilfe in der Frage einer merkwürdigen Laune der Natur zu erfahren: „Man erzählt“, so schreibt sie in ihrem Brief, „dass der König von Polen einen ganz wunderbaren Zwerg habe, der tausenderlei geistreiche Scherze treibe, obgleich es ihm nicht begreiflich zu machen sei, dass es einen Gott gibt.“

Im Gegensatz zum heutigen Staunen über die Krönung eines Menschen, der sein Amt aus den Händen Gottes zu empfangen bekundet, war für die Dame aus dem angeblich so ungläubigen 18. Jahrhundert die Unfähigkeit zu glauben eine seelische Monstrosität, etwas ganz und gar Abnormes, das der körperlichen Verkrüppelung des Zwergs irgendwie entsprach. Denn obschon es damals viele Schriftsteller und Philosophen gab, die sich als liberal gebärdeten – als „Atheisten“ bezeichnen sich Menschen erst viel später. Bis ins 19. Jahrhundert gilt ein Atheist für weite Kreise als ähnlich unheimlich wie der Zwerg des Königs von Polen.

Wenn der König mit seinem Gott allein ist

Dieses zufällige Zusammentreffen von Wortmeldungen zur Frage des Glaubens an Gott im Hinblick auf das Königtum an einem 6. Mai mit 267 Jahren Abstand offenbart wie in einem Brennglas die geistesgeschichtliche Entwicklung seit dem Aufkommen der neuzeitlichen Entledigung von einem transzendenten Verständnis des Menschseins. War für die Pompadour die Unfähigkeit zu glauben noch ein erstaunliches Unvermögen und damit Gegenstand der Zurschaustellung ähnlich wie das Bestaunen des verwachsenen Freaks am königlichen Hof zu Nancy, so staunte die heutige Welt anlässlich der englischen Krönung umgekehrt über das ungeschminkte Hereinbrechen der Transzendenz in das mittlerweile gehörig säkularisierte Staatswesen.

Selbst unter Absehung von einigen Versuchen, die Krönungsfeier in der Westminster Abbey mit multireligiösen Avancen zu garnieren: spätestens als König Charles hinter einem hereingetragenen Paravent verschwand, um eine heilige Ölung zu empfangen, war klar, dass jetzt die Demokratie und ihre Ermächtigungen für einen Moment ausgesetzt war. Der König war mit seinem Gott allein. Die Zuschauer wurden durch die Unsichtbarkeit der Handlung vom optischen Nachvollzug dessen entmachtet, was den König zum König machte: die physisch spürbare Hand des unsichtbaren, aber gegenwärtigen Gottes. In der Salbung mit geweihtem Öl sprach sich etwas aus, das sonst streng verschwiegen gehört: dass es eine dem menschlichen Zugriff entzogene Macht gibt, die weder erzeugt, noch entthront werden kann.

Kaum jemand hat den stillen Skandal dieser Bedeutungszusammenhänge wahrgenommen. Auch dass der König priesterliche Gewänder angelegt bekam, die sein Amt in unmittelbaren Bezug zum Christuskönig stellte. Die Reporter der deutschen Sendeanstalten, allen voran der eigens von der ARD für diesen Anlass installierte „Religionsexperte“, waren schlicht überfordert und vermochten nur noch an dem vorbeizusehen, was man ohnehin nicht sehen konnte. „Man hat sich für Öl entschieden, weil Wasser so schlecht auf der Haut hält“ wurden wir vom beflissenen Fachmann belehrt. Aja...

Der Globus wird von einem Kreuz überragt

Und so wurden wir unversehens Zeuge einer zum Leben auferweckten heiligen Handlung, die unter der Teilnahme einer Weltöffentlichkeit das bekundete, was der Zwerg des Königs Stanislaus Leszczyński und mit ihm die Mehrheit der Menschen in der westlichen Welt überwunden geglaubt hatten: dass es einen Gott gibt, der sich in die Ordnung des Lebens einmischen, ja der sie sogar bestimmen will und dazu einen erwählten Diener bestellt, der ihm dabei hilft und sich verpflichtet, ihm zu dienen und dadurch – seinem Volk.

Schließlich kam die Krone ins Spiel. Funkelnd und strahlend, wie man sie aus dem Märchen kennt, dem Reservat der alten Ordnungen. Besetzt mit Saphiren, Smaragden, Rubinen, Diamanten und Perlen, mit Turmalin, Topas, Amethyst, Granat und Aquamarin wird sie ihrerseits an ihrem Scheitelpunkt von einem Globus gekrönt, der von einem Kreuz überragt wird.

Die Edwardskrone, die ausschließlich zur eigentlichen Krönung verwandt wird, bekundet ihrerseits, dass die Herrschaft, zu der die Krönung bevollmächtigt, eine dem Kreuz Christi untergeordnete Herrschaft ist.

Und so sind die Crown Jewels mitsamt ihrer Verwendung in einem mittelalterlichen Krönungsritual der Ausdruck einer doch nicht ganz vergangenen Überzeugung. Sie mischen sich höchst publikumswirksam unter das Volk, das sich im Glanz royaler Festlichkeit tatsächlich von einem monarchischen Prinzip überstrahlen lässt, das für einen Tag unübersehbar eine Sehnsucht stillte: Untertan zu sein.

Einer, der in der Pflicht steht

Ja, ein Untertan, der sich entlastet sieht von den Unsicherheiten demokratischer Rankünen und volkstribunalen Eigenmächtigkeiten auf den Wählerthron gehobener Politiker. Sondern sich stattdessen einem König anheimzustellen, der es gut mit einem meint. Und der sich seinerseits einer weitaus höheren Macht unterstellt sieht als dem Volkswillen oder – in unseren Tagen – dem von den Medien gemachten Volkswillen.

Die christliche Religion gelangte anlässlich der Krönung Charles’ III. auf ihren alten Rang zurück: das starke Band zwischen Gott und Mensch zu sein und damit auch zwischen Mensch und Mensch.

Nein, natürlich weiß auch ich, dass die rituelle Zelebration des Königtums im Gewand der britischen Monarchie auch nur ein „als ob“ ist. Keine reale Monarchie von Gottes Gnaden, und dass sie eingebettet ist in eine parlamentarische Tradition und deswegen ein Symbol ist und keine wirkmächtige Realität. Dennoch: die Zeremonie ließ erkennen, dass das Empfinden vieler Menschen – auch wenn es nur unterbewusst aufzufinden ist – noch nicht derart verkrüppelt ist, dass es nicht, anders als der religiös so erschreckend unmusikalische Zwerg in Nancy, in der Lage wäre, die Botschaft der Krönungsfeierlichkeiten zu erahnen. Und in dieser Ahnung urplötzlich das Schätzenswerte daran zu erkennen, der Untertan eines Königs zu sein, der in der Pflicht steht, zum Wohl der Seinen zu wirken, statt ein Sklave verführter Mehrheiten und brutaler Lobbys zu sein, die nur sich selbst gehorchen.

Die alte Ordnung ließ am 6. Mai noch einmal ihre alte Strahlkraft erahnen. Als hinter einem Paravent in der Westminster Abbey König Charles III. selbst zum Untertan gesalbt wurde.

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anonymus
Vor 1 Jahr 4 Monate

per me reges regnant

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anonymus
Vor 1 Jahr 4 Monate

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