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Der Fall Pierre M.

Ein Streit zwischen Brüdern entlarvt das Anti-Diskriminierungsgesetz

Pierre M., ein 55-jähriger Kleinunternehmer aus Zürich, kommentierte im März 2023 auf der Social-Media-Plattform X (ehemals Twitter) den Beitrag eines anonymen Nutzers. Darin wurde per Video gezeigt, wie eine kanadische Schulklasse auf Französisch in Sachen Regenbogen-Propaganda indoktriniert wird. Auf dem Beamer ist ein LGBT-Buchstabensalat (LGBTQIAP2SNB+) zu sehen, den die Schüler korrekt wiedergeben sollten. Der anonyme Nutzer zitierte das Video mit „dégénérés“ (Degenerierte). 

Pierre M. reagierte darauf mit dem Kommentar „DGNRÉS+“, eine ironische, aber klare Anspielung auf den abwertenden Begriff und die Abkürzung LGBTQ+, die für „Lesbisch, Schwul, Bisexuell, Transgender und Queer plus“ steht.

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Sein Bruder, ein homosexueller Mann, meldete den Fall bei der Staatsanwaltschaft, woraufhin Pierre M. mit einem Strafbefehl konfrontiert wurde. Nach der in der Schweiz geltenden Antirassismusstrafnorm handelt es sich bei einem solchen Vergehen um ein Offizialdelikt, das automatisch eine Strafanzeige auslöst – die Staatsanwaltschaft ist nun Klägerin und nicht der Bruder.

Von sechs Buchstaben zu einer fünfstelligen Geldbuße

Der inzwischen gelöschte Tweet von Pierre M.

Mehr als ein Jahr später, im August 2024, erhielt Pierre M. den Strafbefehl, der eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 160 Franken sowie eine Buße von 900 Franken vorsah, zuzüglich der Verfahrenskosten von 800 Franken – insgesamt 6.500 Franken Strafe (rund 6.900 Euro). Dazu kommt eine Bewährung von zwei Jahren auf die Geldstrafe und den Eintrag ins Strafregister

Pierre M. beteuert im Gespräch mit Corrigenda, dass er seinen Kommentar nicht als Hetze gegen die LGBTQ-Community verstanden wissen wollte und unterstreicht, er habe stets ein gutes Verhältnis zu seinem Bruder gehabt – bis politische Meinungsverschiedenheiten während der Covid-Maßnahmen und den Russland-Sanktionen sie entfremdeten.

Der Zwist ging so weit, dass der Bruder von Pierre M. sogar einen X-Account eröffnete, um ihn dort zu konfrontieren, um ihn zu doxen, also seinen Klarnamen bekannt zu machen. Bis dahin war Pierre M. nur mit dem Pseudonym Barbouillech auf X unterwegs.

Die Diskussionen um die Antirassismus-Strafnorm in der Schweiz gibt es seit seiner Einführung. Bereits 1994, als der Artikel 261bis geschaffen wurde, war die Meinungsfreiheit ein zentrales Thema. Kritiker sprachen von einem „Maulkorbartikel“ und befürchteten eine Einschränkung des politischen Diskurses. Dennoch wurde das Gesetz mit einer Mehrheit von 55 Prozent angenommen, um öffentlich geäußerten Hass und Diskriminierung zu bekämpfen.

Was besagt Artikel 261-bis „Diskriminierung und Aufruf zu Hass“?

„Wer öffentlich gegen eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie, Religion oder sexuellen Orientierung zu Hass oder zu Diskriminierung aufruft, wer öffentlich Ideologien verbreitet, die auf die systematische Herabsetzung oder Verleumdung dieser Personen oder Personengruppen gerichtet sind, wer mit dem gleichen Ziel Propagandaaktionen organisiert, fördert oder daran teilnimmt, wer öffentlich durch Wort, Schrift, Bild, Gebärden, Tätlichkeiten oder in anderer Weise eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie, Religion oder sexuellen Orientierung in einer gegen die Menschenwürde verstoßenden Weise herabsetzt oder diskriminiert oder aus einem dieser Gründe Völkermord oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost oder zu rechtfertigen sucht, wer eine von ihm angebotene Leistung, die für die Allgemeinheit bestimmt ist, einer Person oder einer Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie, Religion oder sexuellen Orientierung verweigert, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.“

Im Jahr 2020 stimmte das Schweizer Volk erneut über das Gesetz ab. Es sollte erweitert werden, um auch Hass gegen sexuelle Orientierung unter Strafe zu stellen. Diese Erweiterung wurde vom Volk angenommen. Doch nicht jeder Fall von diskriminierenden Aussagen ist strafbar – es muss explizit zu Hass oder Diskriminierung aufgerufen werden, wie Amnesty International Schweiz kurz vor der Abstimmung zur Erweiterung der Norm betont hatte.

Was der eine als Hass empfindet, muss nicht für alle Hass sein

Pierre M.s Bruder versteht sich als LGBTQ+-Aktivist und fühlte sich verpflichtet, seinen Bruder in Sachen öffentlicher Meinungsäußerung zu erziehen, wie Pierre erzählt. Dazu passt, dass sein Bruder ein Friedensangebot macht, das gilt, wenn Pierre aufhört, „so“ zu twittern. Dann würde er auch die Hälfte der Geldstrafe übernehmen.

Seitdem ist die ehemals friedliche Beziehung zerrüttet. Pierre erinnert sich, dass sein jugendlicher Sohn auch schon bei seinem Onkel und dessen Partner übernachtete. Die sexuelle Orientierung des nun entfremdeten Bruders war nie ein Thema: „Die sexuelle Orientierung meiner Mitmenschen ist mir nämlich vollkommen egal.“

 

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Klickt man sich durch die Einträge von Pierre M., wird schnell klar, dass ihn die Indoktrination einer Schulklasse mehr stört als die sexuelle Orientierung einer Minderheit. 

Corrigenda hat auch den Bruder kontaktiert, aber bislang keine Antwort erhalten.

Plattform J, ein Nachrichtenportal aus Bern, berichtete über den Fall. Der verantwortliche Journalist ist Peter Wäch, der selbst offen homosexuell ist. Der Beitrag stellt eher die Unverhältnismäßigkeit der Buße in Frage, als dass er eine weitere Verunglimpfung von Pierre M. darstellt.

Ein Gesetz kann bestrafen, aber nicht umerziehen

Die rechtliche Auseinandersetzung zieht sich nun weiter hin. Am 19. September 2024 wurde Pierre M. von der Staatsanwaltschaft befragt. Insgesamt 59 Fragen wurden ihm gestellt, von denen er die meisten mit „keine Aussage“ beantwortete. Sein Fall wird nun an das Bezirksgericht übergeben. 

Der Fall Pierre M. wirft erneut die Frage auf, wie weit die Rassismus-Strafnorm tatsächlich gehen soll und was sie letztlich bewirkt. Während das Gesetz schutzbedürftige Minderheiten vor Hass und Diskriminierung schützen soll, zeigt dieser Fall, dass auch indirekte, pauschale Äußerungen und Reaktionen, die nicht auf eine Person zielen, schwerwiegende rechtliche Folgen haben können. Und wie familiäre Meinungsverschiedenheiten, die es wohl überall gibt, auf eine ganz neue Ebene gelangen können.

Ob der Bruder von Pierre M. nun mehr Respekt für eine sexuelle Minderheit erreichen konnte, sei dahingestellt. Pierre M. ist bisher nicht von seinem Standpunkt abgewichen.

Die Entscheidung des Gerichts wird nun von beiden mit Spannung erwartet.

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