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Kolumne „Mild bis rauchig“

Gift Wrap

Kürzlich habe ich als Pfarrer eines Dorfes, das zu meiner Gemeinde gehört, eine Hundertjährige beerdigt. Sie war in dem kleinen Ort gestorben, in dem sie auch geboren worden war. In der Nachkriegszeit hatte sie eine Gaststätte. Das war zu dieser Zeit ein Ort der ungezwungenen Kommunikation, lange vor den Erfindungen des Digitalterrors, der unsere menschlichen Begegnungen und Bedürfnisse elektrisiert und damit die Menschen unter dem Anspruch der sozialen Kommunikation eher auseinandergetrieben als zusammengeführt hat.

Damals gab es noch keine Chance zur Kontaktaufnahme aus dem Hinterhalt eines virtuellen Gebüschs, aus dem heraus die mit Smartphones bewaffnete Menschheit heute ihre Artgenossen anzufallen und fertigzumachen pflegt, nachdem sie ihren investigativen Voyeurismus befriedigt hat. Damals musste man noch physische Begegnungen suchen – wobei das Telefonieren ruhig dazu gezählt werden kann.

Die Kneipe der Verstorbenen war ein solcher Ort für eine analoge, körperlich fundierte Kommunikation. Das Betreten des Schankraumes, das Treffen auf Menschen, die man sich dort nicht aussuchen konnte, Blicke und Stimmlagen, Kleidung, stimmungslösende Getränke und heitere Frotzeleien, Alt und Jung, Dicke und Dünne, Reich und Arm waren beisammen in der Absicht, eine Zeit des Miteinanders zu verbringen. Hier wurde diskutiert, hier wurden Neuigkeiten in Erfahrung gebracht, Einblicke genommen in das Leben von Menschen, die ohne den Sicherheitsabstand heutiger Digitalblasen ganz und gar analog und im 3D-Format beisammenstanden oder -saßen.

Begegnung mit einem dunkelhäutigen Besatzungssoldaten

Heute ist dieser Ort wie viele der klassenlosen Arenen, die die Dorfkneipen den Bewohnern boten, um ihre Gemeinschaft zu pflegen, nicht mehr vorhanden. Beim Gespräch zur Vorbereitung der Beerdigung der ehemaligen Wirtin rankte sich das Gespräch im Familienkreis unter anderem um Geschichten, die sich auf der Bühne des rheinischen Pubs abgespielt hatten und die ganz offensichtlich in den Schatz der Familienerzählungen eingegangen waren.

So wurde mir berichtet, wie sich kurz nach Kriegsende in der Gaststätte das aufsehenerregende Weltwunder der Begegnung mit einem dunkelhäutigen amerikanischen Besatzungssoldaten ereignet hatte. Niemand war bislang einem farbigen Menschen von Angesicht zu Angesicht begegnet. Der Soldat war mit einigen Kameraden in die Kneipe gekommen und dort natürlich der Eyecatcher. Man versuchte sich zu verständigen. Die Ortsansässigen konnten kein Englisch, der GI kein Deutsch. Egal. Man war auf Augenhöhe trotz der Sieger-Verlierer-Konstellation.

Am Ende zeigte der Afro-Amerikaner auf eine Flasche im Regal hinter der Theke, die er gern als ein Geschenk mitnehmen wollte. „As a gift!“ Hier beginnt das, was mir knapp achtzig Jahre nach dieser Begegnung als eine in der Familie lebendig gebliebene Pointe übermittelt wurde. Es ist das Missverständnis – man ahnt es schon – über den Begriff „Gift“. Der Soldat will ein Geschenk mitnehmen, die Wirtin fühlt sich bezichtigt, etwas Schädliches zu verkaufen. „Nein, das ist kein Gift“, sagt sie. „Das ist Wacholder!“ Es muss wohl eine Zeitlang gedauert haben, bis das Missverständnis zur allseitigen Zufriedenheit aufgelöst wurde. Gift und gift sind eben zweierlei!

Vergiftetes Papier

Die kleine Begebenheit im Westzipfel der Republik, der damals als erste Region den großen Krieg abschütteln konnte, ging mir noch einige Tage nach, auch als wir die Hundertjährige schon längst in die Erde ihres Geburts-, Lebens- und Sterbeortes gelegt hatten. Denn die Begrifflichkeit sollte sich just zur Weihnachtszeit, in der sich der Trauerfall ereignet hatte, in noch eine andere, höchst aktuelle Lebenswirklichkeit hineinspielen.

Mir stieß nämlich bei der Durchforstung eines Versandhauskataloges mit britischen Produkten ein weihnachtliches Geschenkpapier ins Auge, dessen Gestaltung im Meer der Zeitgeschmacksästhetik ihresgleichen suchte. Und da war er, der Begriff: „typisch englisches Gift Wrap“! Gift Wrap, etwas zum Einwickeln eines gifts, eines Geschenks.

Die alte Dame stand unversehens neben mir, obgleich ich sie doch beerdigt hatte, und runzelte wiederum wie 1945 die Stirn. Ein Gift-Papier?! Nein, natürlich nicht! Man hätte damals auch dieses Missverständnis schnell aufklären können. Aber heute – und das war mein Gedanke – bekommt der Übersetzungsfehler eine neue und brisante Dimension, wo wir doch täglich mit vergiftetem Papier konfrontiert werden. Es ist giftig nicht wegen seines Schadstoffgehalts, sondern wegen dem, was auf ihm gedruckt wird. Mediales Gift, die Galle einer kesseltreiberischen Journaille ergießt sich auf das Papier von Zeitungen und Magazinen und bekommt durch die digitale Parallelwelt, in der sich die analogen Druckerzeugnisse aufhalten, einen viralen Verbreitungsgrad.

Dort ist alles erlaubt: Falschinformationen, Halbwahrheiten, Häme, Unterstellungen, Folter durch scheibchenweise veröffentlichte persönliche Dinge aus der Privatsphäre, Beschimpfungen, Stigmatisierungen mit plakativem Schubladendenken, Anschuldigungen fremder Menschen, Zerstörung des Vertrauens in öffentliche Verantwortungsträger und die Zerrüttung der allgemeinen Wahrheitsfähigkeit der Leserschaft. Die kann nur eines noch als sicher einstufen, dass sie, „die Presse“, wie weiland „die Partei“ in der DDR, immer recht hat.

Ja, es ist landauf landab und auch im Spektralbereich der unterschiedlichen Altersgruppen eine oft toxische Mischung aus Meldungen und Meinungen, die sich erst auf das Papier und dann in die Herzen der Leser ergießt. Der für seine tiefe Abneigung dem Journalismus gegenüber bekannte österreichische Schriftsteller, Publizist, Satiriker, Lyriker, Aphoristiker, Dramatiker, Kultur- und Medienkritiker Karl Kraus (18741936) hat jenseits seiner Häme über die von ihm mit Blick auf ihre gefährlichen Verführungskünste als korrumpiert eingestufte Presse einmal grundsätzlich über den schriftlichen Austausch gesagt: „In keiner Sprache kann man sich so schwer verständigen wie in der Sprache.“

Die oft haarscharf der Wahrheit benachbarte Lüge

Und damit mag er einen wunden Punkt getroffen haben, dem wir heute täglich begegnen, wenn wir manchen Produkten der journalistischen Zunft ausgeliefert sind: es ist die oft haarscharf der Wahrheit benachbarte Lüge, die den ahnungslosen Konsumenten unter dem Vorwand der Information die Injektionen hintergründiger Verführungen setzt. Millimeterweit ist das wahrhaftige Schreiben oft nur von dem entfernt, was als vergiftete Darstellung am Ende die Menschheit mit dem infiziert, was sie zugrunde richtet: das diabolische Verwirrspiel der Entfremdung von der Wahrheit als notwendiger Basis eines zukunftsfähigen menschlichen Zusammenlebens.

Giftiges Papier – egal ob auf Holzbasis oder als digitales Blatt – beschädigt das Immunsystem der Konsumenten am Ende der journalistischen Nahrungskette, so dass diese schließlich nicht mehr in der Lage sind, aus sich heraus Wahr und Falsch zu unterscheiden. Sie werden hilflos und betteln in ihrer Ahnungslosigkeit um weitere Versorgung mit „Information“, die ihnen als unverzichtbare Quelle erscheint, diese Welt zu verstehen.

Dabei sind sie schon längst unfähig gemacht, um ihr Leben im Angesicht der Wahrheit zu leben. In Gift Wraps eingewickelte ideologische Erziehungsmaßnahmen haben ihnen ihr Wertvollstes genommen – die Begabung, an der Wirklichkeit Maß zu nehmen, um an ihr zu sich selbst zu finden.

 

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Kommentar
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Cyprinus
Vor 3 Monate

Vielen Dank für Ihre amüsante wie ernstlich zutreffende Zusammenfassung des "Sachverhalts". Ich werde Ihre Ausführungen gerne im handverlesenen Freundeskreis weiterleiten.
Frappierendes noch zu den Stichworten "falsch" und "wahr". Mitte der 70er-Jahre beeindruckten mich zwei Aussagen französischer Kommunikationsforscher, die sich mir rückblickend als geradezu prophetisch erwiesen haben. Die erste lautet, dass uns die hybride Überinformation zur Desinformation gerät und dieser Effekt sich auch auf ihren Wert, die orientierende Verlässlichkeit von Mitteilungen, zersetzend auswirken wird.

0
Karl Heinz Maierl
Vor 3 Monate

Sehr geehrter Dr. Rodheudt!
Mit dem „Gift“ haben Sie wirklich eine meisterliche Metapher verwandt und einen tollen Artikel geschrieben. Obendrein war ich angenehm überrascht, wie Sie den legendären Karl Kraus eingearbeitet haben. Herrlich. Ihre Bemerkung mit dem „diabolischen Verwirrspiel der Entfremdung von der Wahrheit“ möchte ich mit Schiller ergänzen: dass nicht der Nutzen des Staates Euch als Gerechtigkeit erscheine. In diesem Sinne und dass Sie und noch viele andere immer mutiger werden, sich des eigenen Verstands zu bedienen.
Mit freundlichen Grüßen
Karl Heinz Maierl

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Karl Heinz Maierl
Vor 3 Monate

Sehr geehrter Dr. Rodheudt!
Mit dem „Gift“ haben Sie wirklich eine meisterliche Metapher verwandt und einen tollen Artikel geschrieben. Obendrein war ich angenehm überrascht, wie Sie den legendären Karl Kraus eingearbeitet haben. Herrlich. Ihre Bemerkung mit dem „diabolischen Verwirrspiel der Entfremdung von der Wahrheit“ möchte ich mit Schiller ergänzen: dass nicht der Nutzen des Staates Euch als Gerechtigkeit erscheine. In diesem Sinne und dass Sie und noch viele andere immer mutiger werden, sich des eigenen Verstands zu bedienen.
Mit freundlichen Grüßen
Karl Heinz Maierl

1
Cyprinus
Vor 3 Monate

Vielen Dank für Ihre amüsante wie ernstlich zutreffende Zusammenfassung des "Sachverhalts". Ich werde Ihre Ausführungen gerne im handverlesenen Freundeskreis weiterleiten.
Frappierendes noch zu den Stichworten "falsch" und "wahr". Mitte der 70er-Jahre beeindruckten mich zwei Aussagen französischer Kommunikationsforscher, die sich mir rückblickend als geradezu prophetisch erwiesen haben. Die erste lautet, dass uns die hybride Überinformation zur Desinformation gerät und dieser Effekt sich auch auf ihren Wert, die orientierende Verlässlichkeit von Mitteilungen, zersetzend auswirken wird.