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Kolumne „Ein bisschen besser“

Wie es kommt, dass wir es morgens immer geradeso schaffen

Wenn bei uns montags, dienstags, mittwochs, donnerstags, freitags der Wecker um sechsuhrdreißig bimmelt, habe ich genau 165 Minuten Zeit bis zur ersten Konferenz. „Schaffste locker“, sage ich mir und bleibe liegen. So vergehen die ersten 27 Minuten des Wochentages tatenlos, bis meine Frau Judith die edelstahlglänzenden, italienische Macchina da caffè anschmeißt, deren Entlüftungsgeräusch an den defekten Auspuff eines Fiat Cinquecento angelehnt ist. Borrrrrrum. Ich schlurfe dann hoch ins Bad. Ich gebe zu, ich bin morgens kein Spring ins Feld, war es noch nie und da oben lacht mich die Badewanne an.

Während Judith preußisch kurz duscht, sich in schwindelnder Geschwindigkeit in Klamotten schmeißt, um danach ein Kaffeechen einzunehmen, halte ich ein Schaumbad für ein bisschen besser. Es ist für mich das erste Extra des Tages. Ich bin achtsam mit mir. Ich lehne mich auf gegen ein verblödetes System von Selbstoptimierern, die in dieser Sekunde joggend draußen herumlaufen und sich wundern, wenn mit 58 die Kniescheibe schmerzt.

Preußen kann mich mal

Ich starte lieber nacktdampfend in den Morgen, Preußen kann mich mal, Judith natürlich nicht, und ich denke darüber nach, was wäre, wenn sie mir jetzt im Schaum aphroditengleich erschiene. Zeitbedarf: knapp über einer Viertelstunde, die einzige Optimierung besteht, kurz bevor das Handtuch fällt, im Zähneputzen in der Wanne. An den Tagen mit Rasur kommen weitere drei Minuten hinzu, die ich irgendwo wieder rausholen muss.

Der Tag fängt dann schneller an, wenn ich abends über- und rausgelegt habe, was ich anderntags ankleiden möchte, meistens weiß ich aber abends nicht, wonach mir morgens ist, weswegen für die Prozedur weitere acht Minuten einzuplanen sind, außerdem dauert das Stiefelbinden inzwischen leicht länger. Falls ich das Töchterchen anschließend ebenfalls in Form bringen soll, vergehen weitere elf Minuten. Wenn ich dann noch in eine Diskussion mit der Zweijährigen gerate, ob heute ein Kleid oder eine Hose zum Tragen kommt, sind es 14. Ich bin froh, dass nicht noch Judith meine Modeberatung braucht.

Hund füttern, Kind füttern, Zahl der Kuscheltiere begrenzen

Frühstück machen mit Tisch decken, der Hündin Dosenfleisch zubereiten, zu dem sie gerne Schlagsahne nimmt, ein Marmeladenbrot für die Kleinste schmieren, was, wenn es fertig ist, doch lieber ein Leberwurstbrot hätte sein sollen, Tisch wieder abräumen, gröbste Krümel beseitigen, weil Judith kein Verständnis für solche hat, in Jacken wurschteln – Vorsicht, im Winter sind hier nochmal vier Minuten fällig! - Hundeleine suchen, nicht die Rechnung vergessen, um die ich mich im Büro kümmern wollte, nicht den Schlüssel, nicht das Portemonnaie, die Zahl der Kuscheltiere begrenzen, die das Töchterchen heute mitnehmen will, Judith küssen, rausgehen, umkehren, weil das Töchterchen Judith auch noch küssen will, die klemmende Bremse am Kinderwagen lösen und bis zum Kindergarten gehen, kostet weitere 47 Minuten, minimal.

Manchmal kommt das Dosenfleisch aus der Hündin auf dem Gehsteig wieder heraus, und dann muss ich einen Umweg über den Kacktütenautomaten machen, das Geschäft beseitigen und verbrauche weitere drei Minuten. Kommt so ein Vorfall an den Rasiertagen vor, wird es echt eng.

Wenn ich dann pünktlich zur Konferenz erscheine, merkt kaum einer, dass ich wieder saumäßig vorbereitet und schlecht rasiert bin, weil ich das mit Routine überspiele oder ansonsten den Chef raushängen lasse. Manchmal kommt mir der Gedanke, ob ich nicht den Morgenablauf von McKinsey optimieren lassen sollte, aber die würden garantiert die Wanne streichen, wo mir die besten Gedanken kommen. 

 

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