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Kolumne „Kaffeehaus“

Das Leben ist, was du daraus machst

Unterwegs zu sein, bedeutet für mich Leben und Freiheit. Was ich während des Schuljahres nicht schaffe, hole ich im Sommer nach. Das Reisen bietet neue Erfahrungen, überraschende Begegnungen und vor allem eine neue Perspektive auf das Leben.

Dabei muss ich nicht einmal in exotische Länder reisen, ich muss mich nur in den Zug setzen und meine Heimat betrachten. Selbst ein so kleines Land wie die Slowakei bietet eine Vielfalt an Natur, Folklore und Kultur. Je länger ich im Ausland lebe, desto mehr erfreue ich mich daran, gemeinsam mit den Kindern die Heimat neu zu entdecken und Menschen hier kennenzulernen. Ich bin ja eine von ihnen und verstehe sie auch.

Vor ein paar Tagen haben wir unseren Sohn zum ersten Mal in ein Sommercamp verabschiedet. Er wird eine Woche auf dem Land in der Nordslowakei in einer behüteten Umgebung mit Kindern aus meiner ehemaligen Schule und mit Betreuern verbringen, darunter Ordensschwestern, die ich seit Jahren kenne, und meine beiden Brüder.

Freunde erwarteten uns schon am Bahnhof

Nun überlegte ich, mit der Tochter etwas Eigenes zu unternehmen. Sie wurde eingeladen, ihre beste Freundin aus Brüssel im Haus ihres Großvaters an der Tatra zu besuchen. Wohlwissend, dass wir uns zu spontan entschieden, meldete ich uns an. Die Antwort lautete: „Kommt gern, ruhig auch schon heute!“ Ich überlegte kurz und schaute mir die Zugverbindungen für den nächsten Tag an. Der erste Zug wäre eigentlich der beste, dachten wir, wenn wir noch eine Wanderung in der Hohen Tatra schaffen wollen. Der Express „Tatran“ fährt um 5:30 Uhr am Hauptbahnhof in Bratislava (Pressburg) los, durchquert über die nördliche Strecke die Slowakei in gerade einmal fünf Stunden und endet in Košice (Kaschau).

 

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Begeistert stiegen wir in sportlicher Kleidung am frühen Morgen in den Zug ein. Am meisten freuten wir uns auf das köstliche Frühstück im Speisewagen. An unserem Platz am Fenster wurden uns ein Café, Säfte, Würstchen und Eier serviert. Die frühe Stunde hielt einige Passagiere freilich nicht davon ab, sich an der Bar ein „flüssiges Frühstück“, also ein Bierchen oder gar Härteres, zu holen. Der Expresszug fühlte sich bald wie ein Partyzug an, und der Ausblick in Täler und Berge steigerte die Begeisterung.

Unsere Freunde warteten bereits auf uns, und der klare Himmel lud direkt zu einer Wanderung ein. Der Großvater, der erst am frühen Morgen aus Kroatien zurückgeflogen war und bereits zwei Stunden in seinem Büro verbracht hatte, bot sich an, uns direkt zum Wanderpfad zu fahren. Die Natur zog uns sehr schnell in ihre Ruhe und Schönheit. Wir liefen weiter und weiter, die Töchter haben sich kaum beschwert. Irgendwann wollten wir jedoch zurück, um den Abend in Ruhe ausklingen zu lassen.

Wie zur Familie gehörig

Das Haus in einer Kleinstadt an der Tatra war voller Überraschungen. Neben der Garage mit einigen Autos entdeckten wir ein Tonstudio, einen Fitnessraum, einen Pool, Saunen und sogar eine kleine Sportbar. Draußen waren ein Außenpool, eine Grillecke und ein Tennisplatz zu sehen, der im Winter zur Eislauffläche wird. Es wurde mir erklärt, dass diese Räume immer wieder von Familie und Freunden genutzt werden. Der Freundeskreis wird hier sehr weit gefasst, wir gehörten nun auch schon dazu und wurden tatsächlich wie Familie behandelt.

Jeder Anlass wird hier genutzt, um Feste zu feiern und Zeit miteinander zu verbringen. Im Winter werden Eishockeyturniere organisiert, erzählte der noch ziemlich junge Großvater und zeigte stolz auf die Narben in seinem Gesicht: „Die Chirurgen hier kennen mich und kriegen das immer ganz gut hin.“ Im Sommer feiert man selbst den Namenstag der Enkelin, ein Sommerfest auf der Terrasse, zu dem bis zu vierzig Menschen eingeladen werden. Die Gastfreundschaft wird hier großgeschrieben und auch nicht überdacht, man tut es einfach.

Wofür arbeitet und müht man sich sonst im Leben, wenn nicht für andere?

Nach dem Abendbrot brachte der Großvater eine Flasche kalten Prosecco und erzählte aus seinem Leben. Seine Jugend verbrachte er als Sänger und Gitarrist in einer lokalen Band, spielte und feierte an den Wochenenden, ging aber sonntags immer in die Kirche. Dann begann er bei der Eisenbahn zu arbeiten, und in den wilden 90er Jahren baute er ein Unternehmen auf, das sich auf den Transport spezialisiert hatte. Heute will er einige seiner LKWs verkaufen und sich auf ein neues Projekt konzentrieren: den Bau eines Freizeitparks – dieses Mal für die Öffentlichkeit.

Der Musik ist er treu geblieben, manchmal nimmt er in seinem Tonstudio neue Songs auf, und manchmal bringt er seinen Enkelinnen das Gitarrespiel und Singen bei. Diesen Sommer steht noch Urlaub mit Freunden in seiner Wohnung in Kroatien und im Herbst der große runde Geburtstag an. Er überlegt, welche Komiker und Musiker eingeladen werden könnten. Ich lachte und sagte ihm, dass das Leben schon ganz toll sein kann. Seine Antwort war knapp: „Das Leben ist, was du daraus machst.“

Diesem Mann muss man lassen, dass er aus dem Seinen ziemlich viel gemacht hat. Auch wurde mir klar, dass das Leben nur zusammen Sinn hat. Die Gastfreundschaft und die familiären Bindungen, die man den Slowaken zuschreibt, gibt es wirklich. Und ich frage mich: Wofür arbeitet und bemüht man sich sonst im Leben, wenn nicht für Familie und gute Freunde?

 

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