Nach dem Fest ist Wundenlecken – und sonst?

Judith und ich feiern Feste, wie sie fallen, und dieses hier fällt auf einen launigen Sommertag. Es ließe sich sagen, er ist der Scheitelpunkt des Jahres. Es ließe sich sogar sagen: der Scheitelpunkt des Lebens. „60 Jahre auf dem Weg zum Greise, und doch 60 Jahr davon entfernt“, singt mir Judith zu diesem Festtag vor und zitiert damit Curd Jürgens, auch so ein Mann, der auf alles verzichten wollte – außer auf Luxus.
Warum fällt ihr ausgerechnet der heute ein? Kennt ihn noch einer? Unser Töchterchen? Niemals. Früher, denke ich, betrug die Haltbarkeit von Ikonen zwei Generationen, heute schaffen sie vielleicht zwei Sommersaisons. Ich erwische mich, wie ich in Kategorien wie „früher“ und „heute“ denke und verbiete sie mir, denn sie machen alt, und Judith verlangt von mir ewige Jugend.
„One day baby we’ll be old …“
So ein Fest beginnt lange vorher im Kopf. Du malst dir aus, wer kommen wird. Du willst sie alle. Du hast sie alle lange nicht gesehen, die alten Freunde und die, die dazu gekommen sind. Mit denen du Blues und mit denen du Rock ’n’ Roll getanzt hast. Du schreibst die Einladung. Von da ab gibt es keinen Weg zurück.
Du entwirfst die Logistik, kalkulierst die Getränke. Am Anfang sagen alle zu, am Ende manche ab. Früher war ich bei jeder Absage untröstlich, heute weiß ich, es kommen genug. „One day baby we’ll be old and think about the stories, that we could have told“, steht über der Eröffnungsrede. Ich halte sie von dem Balkon, der über dem Tor des in die Jahrhunderte gekommenen Palazzos an der oberitalienischen Seenplatte klebt, in dem das Fest steigt. Ich liebe Balkonreden, zumindest die, die völlig folgenlos bleiben. And what’s the story now?
Nur die Sterne über uns
Sie geht so: Die Gläser klirren. Das Buffet: niedergefressen. Am Ende wird nicht eine Käserinde mehr da sein. Pizzaduft zieht durchs Gewölbe. Der Klang eines Klaviers schwillt durch die Eingangshalle, die an sich nur ein Flur mit bröckelndem Putz ist, aber heute wie der Weg zum Kronsaal funkelt. Das Instrument spielte einst ein Virtuose aus Venedig, auch er so tot wie der Curd, aber ich spüre, wie er im Himmel lächelt, als er sein Piano vernimmt.
› Abonnieren Sie den Corrigenda-Newsletter und erhalten Sie einmal wöchentlich die relevantesten Recherchen und Meinungsbeiträge
Die Terrasse mit dem horizontweiten Blick über den nächtlichen See zittert wie die Discohölle bei „Daddy Cool“. Nur die Sterne über uns. Die Couch im Herrenzimmer wird zum frühen Rückzugsort, die letzten bleiben, bis die Sonne sie ins Bett schickt.
Judith, haben wir es besiegt?
Der Morgen, der zum Mittag wird, streicht vorbei mit Wundenlecken und Schweigen, unterbrochen vom Klirren leerer Flaschen, die im Glascontainer aufschlagen. Abschiede. Wann sehen wir uns wieder? Ach bald, ach irgendwo. Bilder im Kopf an den Tanz auf einem Bein zu griechischem Wein, der immer geht. Ich habe mal wieder „Lilli Marleen“ gesungen, auch so ein Ding von gestern.
Selfies? Es gibt keine. Jeder ist mit sich im Augenblick zu Hause. Das Alter? Wir haben es angehalten. Judith, haben wir es besiegt? Sie zitiert wieder den Curd: „Die Pose hat darüber weggetrogen.“ Und was ist die Story? Machen wir es ein bisschen besser. Bis der Vorhang fällt.
Kommentare