Direkt zum Inhalt
Kolumne „Ein bisschen besser“

Oh wie lacht

„Hey Judith“, sage ich „das ist die letzte Kolumne vor Weihnachten.“ Sie nickt. Im Moment ist ja alles das Letzte vor Weihnachten: Ich habe eben das letzte Mal vor Weihnachten getankt, nachher wollte ich das letzte Mal vor Weihnachten in die Badewanne. So häufig klettere ich da nicht mehr hinein, seitdem Judith sagt, es sei zu teuer und der Füllstand der deutschen Gasspeicher lasse auch zu wünschen übrig. 

Ich fürchte, das letzte Mal den Müllbeutel runtertragen vor Weihnachten ist heute noch nicht dran. Genauso wie sich jetzt das letzte Mal Groß-Einkaufen vor Weihnachten schon zweimal wiederholt hat. Richtig Verlass ist jedenfalls nicht darauf.

„Ist Weinachten für dich eine Zäsur?“, frage ich meine Frau. „Wenn es vorbei ist, kommen wir auf jeden Fall mal zur Ruhe“, sagt sie, während sie das Wasser in der Blumenvase erneuert – wahrscheinlich das letzte Mal vor Weihnachten – und den Maltisch vom Töchterchen aufräumt – sicher nicht das letzte Mal vor Weihnachten.

Wie Weihnachten früher war

Ich selbst habe ein lange währendes Verhältnis mit Weihnachten. Er beginnt mit den Gedichten, die ich früher unterm Baum vortragen musste, bevor ich mich den bunten Päckchen zuwenden durfte. Es handelt vom Steak, das meine Mutter immer briet und welches das beste des Jahres war. Es dreht sich um den Hundespaziergang vor der Bescherung, bei dem ich mit meinem Vater durch die fremden Fenster schaute, wo denn der Baum schon brennen würde. 

› Abonnieren Sie den Corrigenda-Newsletter und erhalten Sie einmal wöchentlich die relevantesten Recherchen und Meinungsbeiträge

Ich rieche die ausgepusteten Kerzen. Ich kann die Oma rascheln hören, die das gebrauchte Geschenkpapier glättete und faltete, damit es nächstes Jahr noch einmal seinen Dienst tun könnte. Überhaupt war Weihnachten das einzige Mal im Jahr, zu dem die beiden Großelternpaare aufeinandertrafen. Es ging weitgehend unfallfrei, glaube ich. 

Die Erinnerung ist wie ein Proviant, um weiterzukommen

„Die Erinnerung“, sage ich zu Judith, „ist wie ein Rucksack: Sie wiegt manchmal so schwer, dass sie dich niederringt.“ „Aber sie ist der Proviant, damit du weiterkommst“, erwidert sie leichthin. Bei ihr habe es im übrigen Leberkäs gegeben mit Kartoffelsalat, Kirche mit Papa und ein Glöckchen, das „ihr Kinderlein kommet“ gerufen hat.

Zum Schluss freue ich mich alle Jahre wieder aufs Singen. Ein bisschen besser ist es, laut zu singen. Nicht so verdrückt, sondern dem Schall der eigenen Stimme lauschend, sich berauschend. Die stille Nacht kann mich mal. Meine Lieblingszeile ist: „Gottes Sohn, oh wie lacht.“ Mit Oh wie lachen wir alle lautstark zusammen: Judith, die Kinder, die Brüder, die Eltern und sogar die Hündin spitzt die Ohren. Und dann ist plötzlich nach Weihnachten. „Endlich Ruhe“, sagt Judith. „365 Mal werden wir noch wach“, entgegne ich.

› Folgen Sie uns schon auf Instagram oder LinkedIn?

6
2

Kommentare