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Kolumne „Mild bis rauchig“

Beinhart

Don Fulvio D’Angelo hält gerade die Predigt in der Sonntagsmesse, als es draußen auf der Straße knallt. So, wie wenn im Fernsehkrimi jemand erschossen wird. Der Pfarrer weiß, dass es leider kein Fernsehkrimi ist, sondern blutige Realität. Er unterbricht seine Predigt, läuft im Messgewand aus der Kirche auf die schmale Straße in Secondigliano und erkennt in dem Mann, der auf der Straße liegt, ein Mitglied seiner Gemeinde.

Jemand fühlt den Puls, holt den Notarztwagen. Don Fulvio spricht indes ein leises Gebet, gibt dem Mordopfer die Absolution für den Fall, dass der Mann noch lebt, und macht ihm ein Kreuzzeichen auf die Stirn. Auf so etwas musste der Priester jederzeit eingestellt sein, bevor er in seinen derzeitigen Wirkungsort, die 32.000-Seelengemeinde Arzano in der Metropolregion Neapel versetzt wurde, um dort die Pfarrei zum Heiligen Geist zu leiten. Bis vor einigen Jahren war er lange Pfarrer in der Gemeinde SS. Cosma e Damiano in Secondigliano am nördlichen Stadtrand von Neapel.

Es war und ist nicht einfach, dort die Frohe Botschaft zu verkünden. Vormittags ist das Leben zwar harmlos, und die Straßen sind voll von netten Gemüse- und Fischhändlern. Doch ab Einbruch der Dunkelheit verdüstern Drogen und der Tod das Leben. Selbst Taxifahrer fragen zweimal nach, wenn man sie am Hauptbahnhof bittet, nach Secondigliano zu fahren.

Im Reich der Camorra: ein Leben in Todesangst

Es ist ein Eldorado der Camorra, der Stützpunkt der „Alleanza di Secondigliano“, eines der mächtigsten Unterwelt-Bündnisse, das sich nach dem Stadtteil benennt, in dem Don Fulvio lange als Priester gearbeitet hat. Dort ist ein Leben nur in Angst und in dem Bewusstsein des jähen Endes möglich. Oft hat er dort in seinen Predigten die blutigen Fehden gegeißelt und zur Beendigung des Blutvergießens aufgerufen.

Gebeinhaus der Kirche Santo Spirito im Dorf Campagna in den Monti Picentini, Kampanien, Italien

Wie gut, dass es unter seiner damaligen Pfarrkirche zu den Heiligen Cosmas und Damian etwas gibt, das eine andere Perspektive auf das Problem ermöglicht: das Beinhaus in der Krypta, eine bizarre Gruft von übereinandergeschichteten Totenschädeln hinter Glas, hübsch dekoriert wie die Auslagen in einem Schaufenster. Man schreitet dort die Knochen ab, berührt sie, betet und hinterlässt Gedenkbildchen.

Die Gemeindemitglieder von Cosmas und Damian heißen dort unten in der Krypta der toten Körper Touristen willkommen – wenigstens jene, die sich nach Secondigliano trauen –, bieten aber auch oberhalb der Unterwelt ihrer Pfarrkirche inmitten der unterweltdominierten Alltagswelt ihres Viertels konkrete Caritas für lebende Leiber an: eine Armenküche für Bedürftige.

Wir alle sind auf der Suche nach dem, was unvergänglich ist

Die irdischen Überreste Verstorbener sind in der Unterkirche indes nicht als makabre Mahnwache, sondern eher wie Botschafter einer anderen Welt drapiert, einer Welt, die dem Tod ins Angesicht lachen kann. Denn die Botschaft dieser Botschafter lautet: Es gibt mehr als das, was wir zu sein scheinen, mehr als die Zerrüttung des Lebendigen. Es gibt die Welt über dieser Welt, weshalb die Stapel von Knochen nicht vom Ende künden, sondern von der Heilung, die Gott allem Irdischen schenken will.

Irdische Überreste Verstorbener im Beinhaus auf dem Fontanelle-Friedhof, Neapel

Dort, wo in den Straßen Neapels der Tod und damit die Vernichtung all dessen allgegenwärtig ist, was irdisch ist, tritt das Beinhaus von Sankt Cosmas und Damian die Flucht nach vorn an. Es stellt sich mit dem Depot seiner Totenschädel auf seine Weise der Allgegenwart des leiblichen Todes in unserer Welt und damit dem Umstand, dass wir auf der Suche nach dem sind, was nicht vergeht. Die Art und Weise, die Knochen dort zu horten, lässt ahnen, dass es keinen Schrecken geben muss vor dem leiblichen Tod – obwohl es natürlich diesen ständigen stillen Skandal gibt, der sich zwischen Körper und Geist in uns Menschen abspielt.

Es sind eben nicht nur die schönen, ungezwungenen Tage, sondern auch die dunklen, gefährlichen Nächte, die unser Leben bestimmen und ihm Angst machen. Dazu müssen nicht ständig die Kugeln fliegen wie im neapolitanischen Secondigliano. Es reichen auch die täglich zu erwartenden Hiobsbotschaften des Hausarztes, die Bilder aus den Tunneln des Gaza-Streifens oder die Nachricht von der misslungenen Operation des Kollegen, der nicht mehr aus der Narkose aufwacht.

Im Himmel wird es keineswegs amorph zugehen

Wie in jedem Sommer stellt ein katholisches Fest – vielleicht das katholischste von allen – der Angst vor der Vernichtung eine frohe Botschaft entgegen: Mariä Himmelfahrt. Es ist der Mutmacher par excellence inmitten unserer Welt der ständig dem Zahn der Zeit und der Angst vor Zerstörung durch böse Krankheiten oder Gangster ausgelieferten Menschheit. Denn am 15. August, dem Fest „Mariä Himmelfahrt“ – oder wie es präziser heißt: dem „Hochfest der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel“ –, feiert die katholische Kirche den Glaubenssatz, dass die Gottesmutter nicht nur einfach mit ihrer Seele in den Himmel eingezogen ist, sondern sie auch eine leibliche Aufnahme in den Himmel erfahren hat – wie immer man sich die auch vorzustellen hat.

In jedem Fall also ein Fest, bei dem unter dem Strich die Wertschätzung des menschlichen Lebens als Ganzes zum Ausdruck kommt. Es bekundet, dass es auch für den geliebten, aber in vielerlei Hinsicht arg bedrängten Leib des Menschen eine Zukunft gibt und deswegen die Hoffnung, dass alles Leibliche, mit dem wir stets in der Spannung zwischen Sorge und Wohlgefühl leben, das uns freut und ärgert, das uns gleichzeitig Wonne und Belastung ist, um das wir uns permanent kümmern müssen und das uns durch seine Gefährdungen und seine Zerbrechlichkeit nie wirklich in Ruhe lässt – dass dieses Leibliche eine Erlösung von seiner Zerstörbarkeit erfahren wird, die eben nicht in der Entkleidung des Menschen von seiner Leiblichkeit besteht, sondern in seiner himmlischen Imprägnierung.

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Dort im Himmel – so sagt es das Glaubensbekenntnis – wird es keineswegs amorph zugehen, sondern es wird eine Auferstehung des Fleisches geben. In der „leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel“ hat Jesus Christus an Seiner Mutter als erstem Menschen gezeigt, wie wichtig wir Ihm sind, wie sehr Er uns liebt und wie sehr Er uns eine Zukunft gönnen möchte – auch mit unserem Leib. Denn er offenbart uns, dass der, der wie Maria im Glauben Ja sagen kann zur ganzen Fülle der Wirklichkeit, auch ganz erlöst werden wird.

Zu Tische sitzen in Seinem Reich – ja, tschakka!

Wer sich den Plänen Gottes nicht verweigert, wer auch ein Ja sagen kann zu den beschwerlichen Momenten des Lebens, zum Kreuz und zum Tod in dieser Welt, der soll wissen, dass es einen Himmel gibt, in dem sich nicht nur Geistwesen tummeln, sondern in dem der Mensch mit Seele und Leib erlöst sein wird; mit einem Leib, der keine Verwesung mehr kennt. Und der – das ist jetzt das Beste – sogar mit Gott und den anderen Erlösten an einem Tisch essen und trinken wird, ohne auf die Kalorien schauen zu müssen. Na, wenn das keine Botschaft ist!

Maria ist diejenige, die hier beispielhaft gelebt hat, die ohne Vorbehalt geglaubt hat – auch in den dunklen und fragwürdigen Stunden wie in der auf Golgotha – und die deshalb jetzt schon auf jene Art und Weise in der Ewigkeit sein darf, wie wir es für uns erhoffen dürfen: mit allem, was auch im Diesseits zum Leben dazugehört.

Schädelkapelle im niederschlesischen Bad Kudowa-Tscherbeney

Darum ist der 15. August am Ende dieser Woche in erster Linie ein Tag der Hoffnung für den Leib – jedoch nicht im Sinne der Ratschläge aus Reformhäusern und Fitnessstudios, sondern im Sinn einer göttlichen Gesundheitsschule: Wer glaubt, wird leben, wer den Leib nicht vergötzt, wird mit ihm den Weg in die Unverweslichkeit antreten, wer wie Maria ein ganzes Ja sagen kann, zu dem wird Gott auch ein ganzes Ja sagen – mit Seele und Leib.

Wie eine Gruppe Wartender vor dem Einlass in eine andere Welt

Das Beinhaus von Secondigliano, die aufgeschichteten Totenschädel, umgeben von Blumen und Heiligenbildern, sind stumme Zeugen, dass die Straße und die Nacht mit all ihren Gefahren nicht das letzte Wort haben werden, sondern die Hoffnung auf die Vollendung in einer anderen Welt. Denn sie sind dort in der von Verbrechen und Niedertracht umgebenen Pfarrkirche ja nicht auf der Mülldeponie gestapelt, sondern türmen sich in der Krypta ordentlich übereinander wie eine Gruppe Wartender vor dem Einlass in eine andere Welt ohne Tod, Verwesung und Vergessenheit.

Mariä Himmelfahrt ist damit zugleich das in unseren Tagen so nötige Korrektiv gegenüber der Hilflosigkeit im Umgang mit dem Tod und mit dem, was er an Materiellem von einem Menschen übriglässt.

Beinhaus Sedletz (Sedlec) in Kuttenberg-Sedletz (Kutná Hora, Ortsteil Sedlec), Böhmen

In einer Zeit, in der selbst Christen sich nur noch in wohlmeinenden, aber zweifelhaften Trostnachrichten verlieren, wie jene, die ich immer wieder bei Trauergesprächen höre, dass „Willi“ jetzt „in unserer Erinnerung weiterlebt“ oder „die Oma jetzt ein Sternchen ist“, in einer Zeit, in der der moderne Bestatter die Toten kaum noch in ein Grab legt, sondern sie zur Pulverisierung, Urnendeponierung am Baum, Verstreuung oder zur Weiterverarbeitung in der Diamantherstellung durchreicht, eröffnet der hohe Festtag im Hochsommer eine andere Perspektive für den Menschen.

Gott, der selbst einen menschlichen Leib angenommen hat, will den Leib Seines liebsten Geschöpfes in die Ewigkeit tragen, wo er in verklärter Schönheit all das hören und sehen wird, das ihn glücklich macht.

Maria, „eine von uns“, ist schon da. Sie bürgt für das Ziel. An ihrer Seite können deswegen dann ruhig die Kugeln fliegen. „Mariä Himmelfahrt“ proklamiert ein Happy End des Zweikampfes zwischen Licht und Schatten – auch für den Körper, der zwar erschossen werden kann, aber für Gott niemals stirbt. Die Botschaft der Gebeine von Secondigliano ist deswegen hart – härter noch als die Härten des lauernden Todes, weswegen sie ihn ertragen hilft.

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