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Kolumne „Mild bis rauchig“

Aufstand gegen die mündige Welt

Zunächst sah es so aus, als würde alles buchstäblich ins Wasser fallen. Ein heftiger Starkregen ging über der ältesten Stadt Belgiens nieder und ließ mich und viele andere von den Straßen in Hauseingänge und unter Eisenbahnbrücken flüchten. Es war in Tongeren mehr los als sonst an diesem Julisonntag, denn es sollte sich bald ein Ereignis entfalten, das viele sehen wollten ­– bewaffnet mit kleinen Klappstühlen und den nötigen Wasserflaschen, die die sommerliche Hitze lindern helfen.

Nach einer kurzen Zeit war die Sintflut vorbei. Die Menschen begannen sich zu sortieren und an den Straßenrändern Aufstellung zu nehmen. Ich suchte meinen Platz auf einer der Tribünen, die im Stadtzentrum aufgestellt waren.

Die Krönungsprozession sollte in einer knappen Stunde durch die Stadt ziehen wie alle sieben Jahre seit dem hohen Mittelalter. Sie gilt dem Gnadenbild der Gottesmutter Maria, das in der Basilika von Tongeren unter dem Titel „Ursache unserer Freude“ verehrt wird. Wobei die Prozession eigentlich zunächst über Jahrhunderte nicht dem Gnadenbild, sondern den zahlreichen Reliquien galt, die der Kirchenschatz der Basilika hütet.

Seit 1390 zieht alle sieben Jahre – zeitversetzt mit der ebenfalls im Siebenjahresrhythmus stattfindenden Aachener Heiligtumsfahrt, dem Servatiusfest in Maastricht und der Virga-Jesse-Prozession von Hasselt – ein prächtiger Umzug durch die Stadt und verehrt die Heiligen, deren Überbleibsel man aufbewahrt. Kleine Knochen, Haare, Gewandstücke. Sie und nicht die kunstvollen goldenen Gefäße, in denen sie aufgehoben werden, sind der eigentliche Schatz der Basilika.

Muttergottes mit Weinrebe

Ein Umstand, den unsere Zeit gerne in ihrer Musealisierungssucht übersieht, wenn sie in den Domschatzkammern die Hüllen als Ausdruck mittelalterlicher oder barocker Goldschmiedekunst bestaunt, deren Inhalt hingegen ignoriert. Wobei man der Fairness halber sagen muss, dass die Erläuterungen auf den kleinen Vitrinenschildchen in den sorgsam konservatorisch abgedunkelten Schatzkammerausstellungen in der Regel auch nur die Gefäße und nicht deren Inhalt beschreiben. Die Kirche leidet selbst an der Distanz zur Realität, die eine Musealisierung stets schafft.

In Tongeren wird hingegen auf die Realität großer Wert gelegt. Mit dabei ist immer die Figur der Gottesmutter aus dem Jahre 1480. Auch sie wird nicht als spätgotisches Kunstwerk betrachtet, sondern als Gnadenbild, das heißt als ein Abbild – in diesem Fall der Gottesmutter Maria –, das etwas Zeitloses in die Gegenwart holt und in dessen Nähe man die Muttergottes als Fürsprecherin weiß. Über Jahrhunderte hinweg fühlten sich Menschen erhört, wenn sie Maria vor diesem Bild um Fürsprache gebeten haben, weswegen man von „Gnadenbild“ spricht.

Die Darstellung ist vertraut für die Menschen dieser Gegend. Das Gesicht Mariens ist das einer flämischen Mutter und der kleine Jesus könnte mit seiner Stupsnase und seinen genussvoll geröteten Backen ein typisches Gewächs des für seine Gourmandise bekannten Belgien sein. Man hat sich deswegen nicht gescheut, die Muttergottes mit einer Weinrebe darzustellen, die sie sanft lächelnd dem Kind überreicht. Seit das Bild 1890 feierlich gekrönt wurde, gab man dem Umzug den Namen „Krönungsprozession“.

Das Mittelalter und besonders das für seine Sinnenfreude bekannte Barock verstanden derlei öffentliche Schauen sehr ganzheitlich. Es waren auch immer Gelegenheiten, in szenischen Darstellungen die Heilsgeschichte an sich Revue passieren zu lassen. Die Prozession von Tongeren verfolgt dabei das Marienleben, wie es in den Rosenkranzgeheimnissen meditiert wird: Verkündigung, Heimsuchung, Geburt, Aufopferung Jesu im Tempel, die Passion und die Auferstehung samt Geistsendung und Erhöhung der Gottesmutter zur Königin des Himmels und der Erde.

Wie Oberammergau, aber ohne pseudointellektuellen Touch

Am Ende werden zahllose Reliquien und das Gnadenbild getragen, bevor das Allerheiligste Sakrament den Abschluss und Höhepunkt bildet, begleitet von Priestern und Bischöfen aus den benachbart gelegenen Bistümern Lüttich, Hasselt, Roermond und Aachen und – wie auch in anderen Abschnitten der Prozession – musikalisch eskortiert von Blaskapellen erstaunlicher Größe. Hier wechselt die Verehrung der Zuschauer in Anbetung. Man erhebt sich und – wer es vermag – beugt das Knie.

Dreitausend Mitwirkende sind in Tongeren auf den Beinen. Man braucht ja auch schließlich riesige Gruppen von Hirten, die von ihren Herden nach Betlehem strömen, man braucht die Menschenmenge, die bei der wunderbaren Brotvermehrung gespeist wird und die Menschen aus Kana, die das Hochzeitspaar umgeben und sich an der Wandlung des Wassers in Wein erfreuen. Die Darsteller entstammen allen Altersgruppen und Lebensständen: Erwachsene und Kinder, Jugendliche und Behinderte, Kleinkinder, die von ihren Großeltern im Bollerwagen mitgezogen werden.

Bei der Krönungsprozession und den Passionsspielen beteiligen sich auch die Kleinsten. Auf der Tribüne Platz genommen haben Belgiens Königin Mathilde (Mitte) und der Bürgermeister von Tongeren (rechts der Königin)

Es ist Oberammergaustimmung. Allerdings ohne den im Passionspielort mittlerweile angesagten pseudointellektuellen Touch und die damit verbundene innere Distanzierung zur Realität dessen, was ursprünglich Passionsspiele und religiöse Umzüge darzustellen beabsichtigten. In Tongeren ist das religiöse Spiel wohltuend unerfasst von einer Regie, wie sie etwa in Oberammergau das Passionsgeschehen bearbeitet. Dort ist der seit über drei Jahrzehnten auf dem Posten des Spielleiters klebende Christian Stückl, der sich selbst als ungläubig bezeichnet, einer besonders inbrünstigen Verehrung einer 1968er-Entmythologisierung der Heiligen Schrift verfallen. Mit dem Erfolg, dass seine Ungläubigkeit auch das Passionsspiel seines religiösen Kerns beraubt.

Nach der Zigarette als Hirte im Umzug

In Tongeren – und das ist neben der beachtlichen organisatorischen Leistung das Beeindruckendste überhaupt – spürt man die innere Beziehung der Mitwirkenden zu dem, was sie darstellen. Sie glauben der Heilsgeschichte. Sie schämen sich nicht dafür und unterliegen auch nicht dem vor allem bei den deutschen Nachbarn verbreiteten Gefühl der Peinlichkeit, das in unserem Land jeden Katholiken beschleicht, der dabei erwischt wird, alles so zu glauben, wie es in der Heiligen Schrift geschrieben und durch die Kirche überliefert wurde. Niemand versucht sich bei der Krönungsprozession an einer symbolischen oder gar politischen Deutung.

Die Darsteller, die Marieke, Anneleen, Pieter und Jos heißen, und die, obwohl schon als betlehemitische Hirten verkleidet, noch schnell eine Zigarette rauchen, bevor sie sich gemeinsam mit dem trompetenden Engelchor in den Umzug einreihen, und ebenso der wohlgenährte Zuschauer, der ein wenig zu spät seinen Tribünenplatz einnimmt, weswegen er noch sein halbgefülltes Glas mit belgischem Trappistenbier mit zu seinem Platz nimmt, sie sind allesamt davon überzeugt, dass sie etwas darstellen und bei etwas zusehen, das es gegeben hat und das auch heute bedeutsam ist.

An den dreitausend Mitwirkenden ist nicht der Hauch eines Zweifels spürbar, dass Maria eine Jungfrau war und ist, dass Jesus der Sohn Gottes ist und er nach seinem Tod und seiner Auferstehung die Gottesmutter an seine Seite im Himmel erhöht hat.

Ihr, der Königin, geben am Ende, bevor ihr Gnadenbild an der Reihe ist, „de Zingende Maagden“, die singenden Jungfrauen, ihre Reverenz. An die zweihundert Mädchen zwischen zwölf und dreißig Jahren schreiten mit Palmenzweigen in den Händen in choreographischer Anordnung dem Bild der Muttergottes voran. Seit gut hundert Jahren singen sie dabei Gesänge von Edmond Jaminé (18561932), einem Rechtsanwalt, der sich nebenbei noch als Schriftsteller, Fotograph und auch als Komponist einen Namen gemacht hatte.

Man darf ungeschminkt naiv gläubig sein

Die Gesänge der Mädchen sind heute ein unverzichtbarer Teil der Krönungsprozession und Markenzeichen von Tongeren neben dem siegreichen Eburonenkönig Ambiorix, der als einer der hartnäckigsten Gegner Julius Cäsars galt und dessen Standbild im Schatten der Basilika ihn mit geflügeltem Helm zeigt. Natürlich assoziiert man mit ihm den Comic-Helden Asterix und sein unbeugsames gallisches Dorf. Dessen Unbekümmertheit im Umgang mit der Übermacht liegt auch heute hier in der Luft.

Es ist den Mitwirkenden und Zuschauern egal, dass man heute eigentlich nicht mehr so einfach, so schlicht und so ungeschminkt naiv gläubig sein darf, will man in einer modernen Kirche eine Rolle spielen. Dieser Eindruck begleitet einen in Tongeren während der Krönungsprozession. Denn hier ist ein subtiler Widerstand spürbar. Es ist das, was Botho Strauß den „Aufstand gegen die sekundäre Welt“ nennt, die geradezu schmerzfrei-unhinterfragte Bejahung des offenbarten Glaubens, dass sich der Himmel mit der Erde zu deren Gunsten eingelassen hat, ohne sich als Himmel deswegen aufzugeben und seine Ansprüche fallenzulassen. Ein Aufstand, der sich in der entwaffnenden Imprägnierung gegen alles Uneigentliche zeigt, die die Krönungsprozession von Tongeren zu einem liebenswert anrührenden Fest des Glaubens macht.

Alles ist hier echt und ungekünstelt. Und zwar gerade weil der Mut siegt, einen innigen Glauben in Gewänder aus synthetischen Stoffen der singenden Jungfrauen, Hirten- und Aposteldarsteller zu hüllen und ihn damit zu schützen vor der in derbes Leinen gekleideten Unechtheit eines teutonisch-klimaneutralen Akademiekatholizismus, der die Offenbarung hinter den Nebeln destruktiver Bibelauslegung verschwinden lässt. Es ist wie ein Aufbegehren gegen die Allgegenwart der Diktatur der Politisierung Gottes.

Man möchte gerne deutsche Bischöfe und Theologen mitsamt ihren mediokren Helfershelfertruppen in Verbänden und Pfarreien auf den Tribünenplätzen in Tongeren festbinden und sie zwingen, hier diesem geradezu unverschämt direkten und unverbogenen Verhältnis zum katholischen Glauben und seiner Geschichte zu begegnen.

Aufstand gegen eine Welt ohne Gott

Nachdem wir die über siebzig Träger von Reliquien an uns hatten vorbeiziehen lassen und uns zu Ehren des Allerheiligsten Sakramentes von den Plätzen erhoben hatten, das unter dem Tragehimmel von einem Bischof in der Monstranz gehalten wurde und das umwölkt war vom duftenden Nebel der zahlreichen, weitschweifig geschwenkten Weihrauchfässer, gehe ich nach dem Ende der Prozession noch eine Weile hinter der letzten Musikkapelle her. Diese setzt mit einem gigantischen Auflauf aus Dudelsackspielern, Blechbläsern und Trommlern den Schlussakzent, während die Menge auseinanderströmt und sich jetzt auf Pommes frites mit fetter Mayonnaise und Abteibier in den Brasserien freut.

Da schießen mir unwillkürlich die Verse aus dem Matthäusevangelium durch den Kopf: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du das vor den Weisen und Klugen verborgen und es den Unmündigen offenbart hast. Ja, Vater, so hat es dir gefallen.“ (Matthäus 11,25f) Just an diesem Sonntag waren sie weltweit in der katholischen Liturgie verkündet worden.

Und am Nachmittag desselben Tages hatten sie in Tongeren eine, wenn auch nicht beabsichtigte, so dennoch einzigartige Bestätigung erfahren: Dass in der kindlichen Annahme dessen, was Gott geschenkt hat und in der entschiedenen Unmündigkeit im Verhältnis zu ihm die Größe des Glaubenden liegt.

Glaube ist nur in der Gehorsamshaltung des Kindes echt, das nicht deswegen gehorcht, weil der Vater sich erklärt, sondern weil er das Kind liebt und das Kind ihn. Es war ein liebenswert-gemütvoller Aufstand gegen die mündige, aufgeklärte und darin entgottete Welt gewesen, den diese Prozession mit ihren dreitausend Mitwirkenden bewerkstelligt hatte.

Ambiorix, der wackere Widersacher des Julius Cäsar, hätte seine Freude daran gehabt, wie tapfer seine Nachfahren hier das große gegenwärtige Imperium der Emanzipation durch die entschiedene Naivität ihres Glaubens ins Wanken gebracht hatten. Ja: „Die spinnen, die Mündigen!“

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Andreas Braun
Vor 1 Jahr 2 Monate

Wunderbar.
Danke für diesen Bericht. Es scheint zu schön, ist es wirklich so?
Das schönste, was ich seit langem gelesen habe.

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Jutta
Vor 1 Jahr 2 Monate

Wie gerne wäre ich dabei gewesen!
Und wunderbar, dass es das noch gibt ...

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Andreas Braun
Vor 1 Jahr 2 Monate

Wunderbar.
Danke für diesen Bericht. Es scheint zu schön, ist es wirklich so?
Das schönste, was ich seit langem gelesen habe.

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Jutta
Vor 1 Jahr 2 Monate

Wie gerne wäre ich dabei gewesen!
Und wunderbar, dass es das noch gibt ...