Weck die tote Christenheit

Die Melodie des Kirchenliedes „Sonne der Gerechtigkeit“ jubelt triumphierend in österliche Höhen empor. Die Melodie, deren Ursprünge auf das 15. Jahrhundert zurückgehen, ist bei Gottesdiensten sehr beliebt. Auch ich liebe es. Nur der Text der 2. Strophe hat bei mir immer Fragen aufgeworfen: „Weck die tote Christenheit aus dem Schlaf der Sicherheit; dass sie deine Stimme hört, sich zu deinem Wort bekehrt. Erbarme dich!“
„Tote Christenheit?“ Was heißt hier „tot“? Man muss wissen, dass die sieben Strophen im heutigen kirchlichen Gebetsbuch Gotteslob Nr. 481 aus Texten verschiedenster Autoren aus mehreren Jahrhunderten zusammengestellt sind. Aber nicht die komplexe Redaktionsgeschichte hat mich schon immer umgetrieben, sondern diese eigenartige Formulierung von der „toten Christenheit“, die erweckt werden soll aus einem Schlaf der Sicherheit.
Seit ich vor acht Jahren mit der Leitung der Päpstlichen Missionswerke in Österreich (Mission Österreich) beauftragt wurde, habe ich ein völlig anderes Bild von Kirche und Christentum. Vor 2016 hatte ich keine Ahnung, wie die Weltkirche im „Globalen Süden“ tickt. Berichte, Fotos, Dokumentationen und Reportagen vermitteln nur Bruchteile. Um für die Weltmission Werbung zu machen, musste ich persönlich erleben, was die Hilfsprojekte von Missio Österreich bewegen.
Von den 600 jährlichen Hilfsprojekten habe ich 24 besucht, in allen Kontinenten. Das Resultat war ein Schock, der sich mittlerweile abgemildert bzw. sich in eine Art Depression über den Zustand der Kirche hier in Europa gewandelt hat.
Glaubensstärke und absoluter Einsatz
Der Kontrast meiner Erfahrungen in Afrika, Asien und zuletzt bei Bischof Kräutler in Amazonien ist kaum zu beschreiben: Übervolle Kirchen, lebendige Gottesdienste, eine innige Frömmigkeit, verkündigungsbegeisterte Laien, Liebe zu den Sakramenten, zur Anbetung, übergehende Priesterseminare, Gestaltungswille, Leitungsstärke – und Glaubensstärke! Und absoluter Einsatz im sozialen, medizinischen und karitativen Bereich!
Zweimal war ich in Pakistan, einem der so vielen Länder, in denen Christen buchstäblich wie der letzte Dreck behandelt werden, wo sie verfolgt und bedrängt werden, nahezu rechtlos sind. Ich durfte mit den Eltern des 20-jährigen Akash Bashir sprechen, der 2015 als Märtyrer starb, als er einen islamistischen Selbstmordattentäter – im Bewusstsein, dass es ihn das Leben kosten würde – am Kircheneingang festhielt und so hunderten Gläubigen das Leben rettete, indem er selbst von der Bombe zerrissen wurde. Und gerade dort, in Pakistan, sind die Gläubigen fröhlich, mutig – und die Gottesdienste übervoll.

Bei einem meiner Besuche in Nigeria, mit einem befreundeten Priester, der jetzt Stadtpfarrer in Wien ist, feierten wir den Sonntagsgottesdienst in einer „normalen“ Pfarrkirche – in der Größe einer Fußballhalle – mit. Unmittelbar nach der Rückkehr durfte ich hier bei uns eine große Pilgermesse halten, zu der tausend Gläubige gekommen waren. Die Wallfahrtsverantwortlichen sprachen von einer Rekordzahl an Gläubigen. Sie waren aus einem großen Einzugsgebiet zusammengeströmt, fast alle mit ergrauten Häuptern. In Nigeria hatten in an einem Sonntagvormittag drei Messen stattgefunden, jedes Mal mit 2.000 Gläubigen, und alle jubelnd, tanzend und jung.
Der Islam in Wien in der Mehrheit – warum nicht gezielt missionieren?
Sind wir in Mitteleuropa bald eine „tote Christenheit“? Die Demografie zeigt, dass das quantitative Schrumpfen der Kirche dramatisch ist. Die Statistik der Deutschen Bischofskonferenz weist für 2024 ein Plus von 122.804 Katholiken aus (Taufen und Konversionen) und ein Minus von 534.581 (Sterbefälle und Austritte), ergibt ein Gesamtminus von 411.777 Katholiken. Als ich 1963 in Wien geboren wurde, waren dort noch 89 Prozent katholisch. Heute, 2025, sind es noch 27 Prozent, und das quantitative Schmelzen wird sich in den nächsten Jahren exponentiell beschleunigen.
Vor Palmsonntag hat die Stadt Wien die Statistik über die Religionszugehörigkeit an den Wiener Volks- und Mittelschulen veröffentlicht. Selbst Liberale gaben sich „überrascht“, denn 41 Prozent der Schüler in den Volks- und Mittelschulen Wiens sind Muslime, das sind mehr als doppelt so viele als Christen, die 34,5, Prozent ausmachen, – katholische (17,5 Prozent), orthodoxe (14,5 Prozent) und evangelische (1,7 Prozent) zusammengenommen, 34,5 Prozent ausmachen. Das stärkste Wachstum gibt es unter den Konfessionslosen (derzeit 23,0 Prozent).
Es ist eine statistische (Statistik ist nicht politische Meinung, sondern Mathematik) Realität, absehbar, dass die prägende Religion meiner Geburtsstadt Wien in einigen Jahrzehnten der Islam sein wird. Was ich mich in diesem Zusammenhang immer frage, ist, warum wir in der Kirche nicht missionarische Angebote für Menschen aus islamischen Ländern hochfahren.
Ich möchte nicht passiv bleiben, wenn so viel wegstirbt
Also mir ist das nicht egal, ich möchte nicht passiv bleiben, während so viel wegstirbt. Aber nochmals: Was ist eigentlich „tot“ an der Christenheit bei uns? Therapie funktioniert nur, wenn die Krankheit diagnostiziert ist! Die 2. Strophe aus „Sonne der Gerechtigkeit“ scheint es zu wissen, denn sie setzt fort: „Weck die tote Christenheit aus dem Schlaf der Sicherheit, dass sie deine Stimme hört, sich zu deinem Wort bekehrt (…)“
Dieser Text hat mir nie gefallen. Dass wir dauernd Bekehrung brauchen: ja, natürlich! Aber was da steht, ist doch in Wirklichkeit eine Unterstellung. Die Gemeinde jauchzt einen Text, der eigentlich ein großes Bashing der Kirche ist. Denn wer sich zu Wort Gottes bekehren muss, der hält sich offenbar nicht.
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Missbrauchs- und Finanzskandale sind nicht nur ekelhaft, sondern himmelschreiende Verbrechen. Gepaart mit dem Minderwertigkeitskomplex, den wir Christen seit Jahrhunderten gegenüber neuzeitlich-aufgeklärtem Denken entwickelt haben, kommt es mir so vor, als wären wir irgendwie in eine Art masochistische Schockstarre gefallen, wo wir vorrangig und lustvoll unsere eigenen innerkirchlichen Fehler thematisieren. Natürlich dürfen wir nichts unter den Tisch kehren, natürlich brauchen wir Reinigung! Es gibt vieles, für das wir um Vergebung bitten müssen.
Doch ich erlebe doch auch – nicht nur im Globalen Süden – die humanisierende Kraft, die soziale Stärke, das persönliche bis zur Selbstaufgabe gehende Engagement von gläubigen Christen, von Schwestern, Bischöfen, Priestern, kirchlichen Hilfsorganisationen weltweit. Wie oft steht mir der Mund offen, wenn ich auf Projektbesuch bin: Das Christentum bringt einen unfassbaren Profit in diese Welt.
Gerade unter jungen Leuten gibt es eine starke und klare Gläubigkeit
Ich stimme mit Überzeugung in den ersten Satz, in die Bitte ein: „Weck die tote Christenheit!“ Unter dem, was bei uns tot ist und nicht stimmt, kann ich aber auch nicht das verstehen, was man bei uns permanent „reformieren“ möchte. Als Medikamente gegen das Absterben werden „Reformthemen“ bei uns seit Jahrzehnten rauf und runter konjugiert – Zölibat, Frauenpriestertum usw. –, nach denen in den Regionen, wo die Kirche jung, wachsend und dynamisch ist, kein Hahn kräht!
Ich selbst bin übrigens als Jugendlicher nicht gläubig geworden, weil ich die Mitgliedschaft in einem makellosen und sündlosen Religionsverein wollte, sondern weil ich erkannt hatte, dass die Kirche die empty bottle für einen Inhalt ist, der Sinn, Erlösung, Heil und Angenommensein gerade als fehlerhafter Mensch bedeutet. Und wenn ich mir die wachsende Zahl von jungen Leuten anschaue, die als katholische Influencer derzeit Instagram und Tiktok entern, dann staune ich auch, wie sehr es da um starke und klare Gläubigkeit in der Mitte des Katholischen geht.

„Weck die tote Christenheit!“ Es war ein Aha-Erlebnis, den ursprünglichen Text der 2. Strophe dieses Liedes zu entdecken. Die sieben Strophen sind, wie gesagt, eine Komposition von verschiedenen Autoren. Die starke Bitte für die „tote Christenheit“ stammt von dem evangelikalen Pastor Christian Gottlob Barth aus dem Jahr 1827. Im Original lautet sie sehr anders: „Weck die tote Christenheit aus dem Schlaf der Sicherheit, mache deinen Ruhm bekannt überall im ganzen Land.“
Tot sind wir, wenn wir nicht mehr Christus zu den Menschen bringen wollen
Natürlich können wir es nicht abhaken, dass die Kirche „Sünder in ihrem Schoß umfasst“, wie das Zweite Vatikanum es formuliert (LG 8,3). Aber warum triggert uns das so sehr? Es sollte doch nach dem Judasverrat und dem Versagen der Apostel keine Überraschung sein. Die Kirche ist doch nur eine empty bottle. Institutionell transportiert sie einen Inhalt durch die Jahrhunderte, der übernatürlich ist.
Und von dem sie auch ihren Namen trägt: „Kirche“ kommt von „Kyrios“, „Herr“. Das schöne Pfingstlied von Maria-Luise Thurmair aus dem Kriegsjahr 1941 tönt hoffnungsgebend: „In seiner Kirche Pilgerkleid, da schreitet Christus durch die Zeit!“ (Gotteslob Nr. 348) Wenn wir als Christen unsere Hauptaufgabe darin sehen, unsere eigene Brust in Mea-Culpa-Ritualen grün und blau zu schlagen – übersehen wir dann nicht, dass wir den Menschen von heute, die in tiefen geistigen Krisen stecken, eigentlich den bringen sollten, dessen Namen wir tragen: den Kyrios, den Retter, den Erlöser und Herrn Jesus Christus?!
„Tote Christenheit!“ – Meine Diagnose: Tot sind wir dort, wo wir nicht mehr das wollen, was der Pastor Christian Gottlob Barth ursprünglich getextet hatte: „Mache deinen Ruhm bekannt überall im ganzen Land.“ Er starb übrigens später als Missionar der Herrnhuter Brüdergemeinde, seine missionarische Leidenschaft hatte ihn als Missionar nach Grönland geführt.
Sei das demütige Gefäß des Wirken Gottes
Tot sind wir dann, wenn wir nicht mehr Christus zu den Menschen, zu „allen“ (Matthäus 18,19) Völkern und Menschen bringen wollen. Wenn wir weiter den Eindruck erwecken, wir seien ein Supermarkt mit Regalen, die leer sind oder nur Güter zu bieten haben, die man in den Discountläden des Zeitgeistes billiger haben kann, dann sind wir tatsächlich schon tot.
Ich schließe mit Papst Franziskus, der zwar geliebt, aber auf den wenig gehört wird: Wenn etwas die Kirche ins Leben bringen kann, dann das. Er schreibt:
„Ich betone, dass das, was ich hier sage, eine programmatische Bedeutung hat und wichtige Konsequenzen beinhaltet: Ich hoffe, dass alle Gemeinschaften dafür sorgen, die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um auf dem Weg einer pastoralen und missionarischen Neuausrichtung voranzuschreiten, der die Dinge nicht so belassen darf, wie sie sind. Jetzt dient uns nicht eine ‘reine Verwaltungsarbeit’.“
Ich erlaube mir, es mit meinen Worten zu formulieren: Kirche, erwache aus dem Weiter-so-wie-bisher und sei das demütige Gefäß des Wirken Gottes, der durch uns die Menschen von heute mit Glauben, Hoffnung, Sinn und Liebe beschenken möchte.
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Kommentare
Der Islam wird mehr weil Christen von der Amtskirche sehr enttäuscht sind nichts und nichts mehr damit zu tun haben wollen. Dazu der rasante Modernismus auch in der Kirche wo die Menschen einfach nicht berührt. Wieviel predigen werden nur heruntergeredet oder es wird über Politik gesprochen . Da wo die katholische Tradtion ausgeübt wird, da wachsen die Christen. Denkt darüber nach .