Direkt zum Inhalt
Schriftsteller Patrick Roth

Sunrise mit dem Pflegevater

Von Bertolt Brecht, Lyriker, Dramatiker, Erzähler, unkonventioneller Marxist und bekennender Atheist, ist die staunenswerte Antwort auf die Frage überliefert, welches Buch ihn am meisten beeindruckt habe: „Sie werden lachen – die Bibel!“ Der Literat Patrick Roth, geboren 1953, könnte dasselbe sagen und bekennt sich doch weniger effektvoll, eher leise zu Anregungen, die er dem Buch der Bücher verdankt.

Fasziniert vom Stoff der Erzählungen des Alten und Neuen Testaments distanziert er die geräuschvolle Gegenwart und vordergründig Faszinierendes. Roth achtet auf die Metapher, aber er verwechselt nicht die Wirklichkeit mit einem Symbol oder Gleichnis. In einem Interview mit der Herder-Korrespondenz beschreibt er das Motiv seiner Erzählkunst: „Mich interessiert eigentlich nur die Beziehung des Menschen zu einem – sagen wir es ganz neutral – Unendlichen, einem Höchsten. Dieser höchste Wert, dieses Unendliche transzendiert den Menschen dann im Sinne eines Übersteigens und bezieht ihn dadurch auf ein Anderes, dem er dient.“

Zunächst muten Roths Worte orakelhaft, aber auch mirakulös an. Die Beziehung, die den Schriftsteller interessiert, durchbricht die Horizontalität – also die Säkularität des bloßen Dahinlebens – und überwindet die Banalität der Alltäglichkeit. Die Gottesbeziehung tritt hervor, der Mensch dient, wie Roth sagt, einem Anderen, theologisch und gläubig gesprochen: dem ganz Anderen.

Ursprungserlebnis: ein Traum

Als Ursprungserlebnis benennt Roth einen Traum, in seinen Worten: einen „Quelltraum“, der ihn getroffen habe. Diese innere Erfahrung berührte ihn in einer solchen Intensität, dass er sich Jesus von Nazareth annäherte. Über den Traum selbst, so Roth, dürfe er nicht reden, aber dies sei der Grund für seine Christus-Trilogie gewesen, die er von 1991 bis 1996 verfasst hat. Er bezieht sich nicht auf ein explizit genanntes Erlebnis einer Privatoffenbarung, sondern auf eine persönliche, sodann religiös genannte Einstellung, die auf die „Bilder des Unbewussten“ achtet, solche wahrnimmt und den verborgenen Sinn darin sucht: „Eine religiöse Disposition schärft das Achten auf die innere Stimme, die durchaus widersprechen, in eine ganz andere Richtung gehen kann.“

Roths Blick wurde durch Sigmund Freud und Carl Gustav Jung geschult, bewegte sich dann aber, wenn auch tiefenpsychologisch angeregt, zu einer inneren, wesenhaften Schau der Bilder hin, die nicht in kalter Rationalität verstanden, sondern meditiert werden können: „Literarische Erzählungen aber sollten in die Knochen fahren. In ihnen sollte etwas fühlbar werden von der Sehnsucht des Worts nach Inkarnation.“

Mit der geistigen Ebene verbindet sich so für Patrick Roth eine spirituelle Dimension, die sich der biblischen Erzählweise verdankt. Der Schriftsteller, der weder Wissenschaftler noch Theologe ist, spricht von dem, was dem Menschen widerfährt. Er beschreibt innere Erfahrungen, die sich mit einer „neuen Begegnung mit Gott“ verbinden: „Der höchste Wert ist das Absolute. Es gibt nichts Wichtigeres, als sich dieser Erfahrung zu nähern, sich ihr zu versichern und von ihr her das Leben auszurichten.“ Der Gegensatz ist der „organisierte Atheismus“ in einer Gesellschaft, die materialistisch ausgerichtet und blind für Gott zu sein scheint.

„Die Not besteht darin, dass unser Gottesbild zerbrochen ist“

In Patrick Roths 2012 veröffentlichtem Roman „Sunrise“ tritt Joseph, der Pflegevater Jesu, als Hauptfigur auf. Der Schriftsteller sieht ihn als Hüter der Träume und den, der Maria auf ihrem Weg begleitet, der aufnahmebereit und von innen her offen ist für Gottes Führung: „Die Weisheit spricht nicht zum Kollektiv, nicht zu Komitees, sie spricht auch nicht aus Datenbanken und Suchmaschinen. Sie kennt nur Individuen.“

Roth sieht in Joseph die Wirkung des Paraklets, also, religiös gesprochen, des Heiligen Geistes. Der Zimmermann aus Nazareth würde so in der Not der Zeit, die größer geworden sei, den Lesern heute neu und anders gegenwärtig werden: „Die Not besteht darin, dass unser Gottesbild zerbrochen ist und wir in einer völlig säkularisierten, materialistischen Gesellschaft jede Vorstellung von Gott, jedes Bild eines uns Transzendierenden mit Füßen treten, indem wir uns – kollektiv und individuell – dumm und stumpf den seelischen Bildern und ihren Traditionen gegenüber verhalten.“

Der Schriftsteller erscheint als religiös musikalischer Grenzgänger, der nicht in einem konventionellen Sinne frömmlerische oder erbauliche Erzählungen verfasst, sondern feinnervig und sensibel von inneren Wahrnehmungen, die auf gewisse Weise zur Sphäre Gottes hin offen sind, berichtet.

Die Einsicht, dass „mein Plan“ durchkreuzt wird

In einem Gespräch mit dem Magazin a tempo berichtet Patrick Roth über religiöse Momente seines Lebens: „Ich bin evangelisch aufgewachsen, habe aber eine katholische Mutter, so dass gewisse Einflüsse und Eindrücke sicher auch von der Seite gegeben sind. Religion oder eine religiöse Einstellung ist für mich etwas, das sich aus dem Inneren meldet, auf einer persönlichen Erfahrung beruhen muss.“ Die innere Erfahrung erscheint als ein mystisches Moment, das auch jenseits der Sprache liegen kann, nicht aussagbar ist oder auch nicht ausgesagt werden darf.

Für Roth ist die Dimension des Religiösen zugänglich durch Träume, die er nicht als Gespinste im Schlaf begreift, sondern als Spalt, durch den die Transzendenz hindurchscheinen kann. „Das Tiefste, was es je in meinem Leben gab, waren Traumerfahrungen. Träume, die ungleich einschneidender, machtvoller waren als alles, was mir je in der äußeren Wirklichkeit widerfahren ist. … Träume kommen, uns etwas zu zeigen, was wir noch nicht wissen. Dieser Weg – damit meine ich das Beachten der Träume für mein Leben und Arbeiten – ist mein ganz persönlicher Weg, den ich so nicht geplant habe.“ Er versucht sodann das Bild zu entschlüsseln, das aus dem Unbewussten heraus entstanden ist. In der Auseinandersetzung mit der inneren Erfahrung entspinnt sich das eigentlich Religiöse, etwa die Einsicht, dass „mein Plan“, anders gesagt: dass „der Wille des Ich“, durchkreuzt wird.

Der Joseph, von dem die Evangelien berichten, nimmt an, was er im Traum erfährt. Er besitzt, so Patrick Roth, eine „Sensibilität für das Unbewusste“. Ein bekennend gläubiger Christ würde dies so übersetzen: Er ist empfänglich für Gottes Wort und Weisung, die ihm im Traum erfahrbar wird. Joseph gebe mit seiner Achtsamkeit „dem Wertvollsten Raum, für das ‘in der Welt’ zunächst nie Platz, nie ‘Herberge’ ist“.

Im Glauben verwurzelt und widerständig gegen die Strömungen der Zeit

Doch Patrick Roth scheut davor zurück, hier von Gott zu sprechen. Wer darüber nachsinnt, der mag ahnen, dass dies für den Schriftsteller unangemessen erscheinen könnte. Er zeigt, dass die Tür zum Raum der religiösen Erfahrung offensteht, aber den Weg des Glaubens gehen muss der Leser selbst, wenn er möchte. Damit sind Roths Werke Zeugnisse einer religiösen Musikalität in der Moderne, mitnichten aber katechetische Unterweisungen. In ihnen spiegeln sich neue Formen der christlichen Mystik.

2020 publizierte Patrick Roth den Band „Gottesquartett“. In einem Interview mit dem Portal Herder sagte er: „Ohne ein Wissen von den Wurzeln, ohne Tradition, ein sorgfältig beachtend-wertendes Behandeln dieser Traditionen – bist du in Gefahr, dem reißenden – mitreißenden Konfliktstrom dieser Zeit zu verfallen. Du lässt dann DAS fahren, was dir Orientierung verschaffen könnte, wenn sich alles verändert, ändern MUSS. Denn das Muster für solche riesigen kollektiven Veränderungen ist uns vorgegeben, ist Teil der Tradition, Teil unserer Glaubenstradition zum Beispiel. Wer die Verbindung zu den Wurzeln verliert – hat losgelassen, verliert früher oder später ‘den Boden unter den Füßen’, verliert auch den verpflichtenden Bezug zur Realität.“

Nicht den Ungläubigen, den leidenschaftlich oder gleichgültig Gottlosen stellt Patrick Roth als Realisten vor, sondern den Menschen, der im Glauben, auch in der Tradition, verwurzelt ist und widerständig bleibt gegen die Strömungen der Zeit. Biblisch-christliche Motive sind in Patrick Roths Werk allgegenwärtig. Ob der Autor selbst ein gläubiger Christ ist, wird nur er selbst wissen – und mehr noch ein ganz Anderer, dessen oft verborgene, doch lichtreiche Spuren Patrick Roth literarisch zu erkunden scheint.

Kommentare

Comment

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.
Kommentar