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Vor 80 Jahren

Manna statt Bomben

Bomber, die keine todbringenden Sprengkörper auf Häuser und Fabriken werfen, sondern Pakete mit Mehl, Zucker und sonstigen Lebensmitteln? Klar, sagen informierte Zeitgenossen, das war doch die Berliner Luftbrücke, mit der Amerikaner und Briten 1948/49 den von den Sowjets blockierten Westteil der Hauptstadt mit Lebensmitteln und anderen Gütern versorgten. Doch tatsächlich hatte diese verwegene Aktion einen Vorgänger, der den meisten Menschen zumindest in Deutschland unbekannt sein dürfte. Dabei waren Deutsche an den Ereignissen beteiligt, wenn auch bis auf wenige Ausnahmen äußerst negativ.

Ende April 1945 war die Niederlage der deutschen Wehrmacht gegen die massiv überlegenen alliierten Streitkräfte im Westen und Osten unübersehbar. Dennoch hielten Hitlers Truppen bis zum Ende noch mehrere größere Gebiete, darunter auch Teile der Niederlande. Deren Bevölkerung hatte im gerade zu Ende gegangenen Winter unsägliches Leid erfahren.

Holland litt unter knallhartem NS-Besatzungsregime

Nachdem die niederländische Exilregierung unter Prinz Bernhard in London im September 1944 einen Eisenbahnerstreik veranlasst hatte, um durch die Störung der deutschen Nachschubwege die alliierten Angriffsoperationen zu unterstützen, erfolgte seitens der deutschen Besatzer eine harte Reaktion. Dort herrschte seit 1940 einer von Hitlers getreuesten Paladinen, der österreichische Jurist Arthur Seyß-Inquart, als Reichskommissar für die Niederlande.

Sein Besatzungsregime war von gnadenloser Ausbeutung der Bevölkerung, Zwangsarbeit, Deportationen und Judenverfolgung geprägt. Über 100.000 holländische Juden wurden verhaftet und verschwanden in NS-Vernichtungslagern. Einen von Kommunisten organisierten Generalstreik, der sich im Februar 1941 nach judenfeindlichen Razzien durch die Besatzer von Amsterdam aus über das ganze Land ausbreitete, ließ Seyß-Inquart blutig niederschlagen.

Grausamer „Hongerwinter“

Auf den Streik der Eisenbahner 1944 reagierte das Besatzungsregime mit einer Unterbrechung der Lebensmittelversorgung. Dies traf die Bevölkerung umso härter, als der Winter 1944/45 früh einsetzte und ungewöhnlich hart und kalt war. Da die Flüsse zugefroren waren, brach auch die Versorgung mit Heizmaterial zusammen. Auch die Strom- und Gasversorgung funktionierte nicht mehr. In diesem Winter, der in den Niederlanden bis heute als „Hongerwinter“ in schrecklicher Erinnerung geblieben ist, verhungerten und erfroren mehr als 20.000 Menschen.

Im April 1945 war die Versorgungslage der drei Millionen Niederländer unter deutscher Herrschaft schlicht katastrophal. Angesichts des nahenden Kriegsendes wollte Seyß-Inquart vorsorgen und sich bei den baldigen Siegern lieb Kind machen. Er ließ durchsickern, er sei womöglich zu einem Waffenstillstand bereit. Sollten die alliierten Truppen jedoch weiter vorrücken, werde er die „Festung Holland“ gemäß Hitlers „Nero-Befehl“ ohne Hemmungen völlig zerstören.

Seyß-Inquarts Verhandlungsführer: ein bekennender Christ

So kam es zu Verhandlungen zwischen dem alliierten Oberkommandierenden Dwight D. Eisenhower und den Deutschen. Für die Besatzer führte Seyß-Inquarts Beauftragter Ernst August Schwebel die Verhandlungen. Im Gegensatz zu seinem Vorgesetzten war Schwebel alles andere als ein strammer Nazi. Der konservative Verwaltungsjurist war ein tiefgläubiger Protestant, 1931 gehörte er zu den Mitbegründern der Michaelsbruderschaft. Sie war aus einer Bewegung in der evangelischen Kirche entstanden, die das kirchliche Leben spirituell und liturgisch erneuern wollte. Der 1886 geborene Rheinländer war später, wie sein Schwager Hans Dombois, Mitglied der Bekennenden Kirche.

Schwebel handelte nun mit den Alliierten die Einzelheiten des Waffenstillstands aus. Während sich die deutschen Besatzer jeglicher Kampfhandlungen gegen die gegnerischen Truppen enthalten sollten, wurden mehrere Einflugschneisen und Abwurfzonen festgelegt, über die die hungernde Bevölkerung mit Lebensmitteln versorgt werden konnte.

Die Briten flogen unter anderem die Pferderennbahn Duindigt und den Flugplatz Ypenburg bei Den Haag an, den Flugplatz Waalhaven bei Rotterdam und den Flugplatz Valkenburg. Die Amerikaner durften ebenfalls Valkenburg anfliegen sowie den Flughafen Amsterdam-Schiphol.

Die Deutschen sagten zu, die beteiligten Flugzeuge innerhalb der festgelegten Luftkorridore nicht zu beschießen. Sie behielten sich jedoch die Kontrolle über die abgeworfenen Güter vor, um zu verhindern, dass der niederländische Widerstand mit Waffen versorgt würde.

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Und so stiegen, noch während die Verhandlungen liefen, am 29. April 1945 die ersten beiden Lancaster-Bomber der Royal Air Force auf und warfen ihre Ladung aus 15 Metern Höhe am vereinbarten Zielpunkt ab.

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In den folgenden Tagen, bis zum 8. Mai 1945, starteten britische Flugzeuge im Rahmen der sinnigerweise als „Operation Manna“ bezeichneten Aktion zu 3.300 weiteren Einsätzen und warfen dabei 6.680 Tonnen Lebensmittel ab. Am 1. Mai schlossen sich die Amerikaner an. Sie nannten ihre Operation weitaus prosaischer als ihre britischen Kameraden schlicht „Chowhound“ (Futtersack). Bis Kriegsende lieferten zehn Bombergruppen bei 2.270 Einsätzen an die 4.000 Tonnen Lebensmittel aus.

Ein wirkliches Licht in der Finsternis

Heute erinnert fast nichts mehr an die beiden Operationen, bei der die Kriegsparteien – aus welchen Motiven auch immer – ein Stück Menschlichkeit zeigten. Diese Menschlichkeit scheint immer wieder in den unwahrscheinlichsten Situationen auf, sei es der Weihnachtsfrieden 1914, als deutsche und britische Soldaten sich in den Schützengräben Flanderns trafen und gemeinsam Weihnachtslieder sangen. Oder eben kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges, als inmitten der schrecklichsten Verbrechen kleine Lichter der Hoffnung aufflackerten.

Ernst August Schwebel wurde übrigens nach Kriegsende von den Alliierten zunächst in sogenannten automatischen Arrest genommen. Vom Vorwurf, an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen zu sein, wurde er später freigesprochen; seine Mitgliedschaft in der Bekennenden Kirche wertete der Alliierte Kontrollrat als Widerstand.

Von 1948 bis 1952 war Schwebel Leiter der Christlichen Nothilfe in Marburg. In dieser Funktion kümmerte er sich um die Notversorgung der Flüchtlinge mit Lebensmitteln, Kleidung, Unterkünften und Suchdiensten. Er starb am 31. Oktober 1955.

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