Hört auf, einander zu belügen!

Wie ist das eigentlich mit der Wahrheit? Interessiert sich noch jemand dafür? Diejenigen, die gegen sogenannte Fake News vorgehen, tun jedenfalls so, als seien sie unerschrockene Kämpfer gegen jedwede Lüge. Blickt man genauer hin, stellt sich meist heraus, dass sie nicht um „die Wahrheit“ kämpfen, sondern lediglich ihre eigene Ideologie verteidigen wollen. Und also der Kampf gegen Fake News selbst Fake News ist.
Ja, so kompliziert ist es inzwischen. Und tatsächlich scheint man sich gesellschaftlich damit abgefunden zu haben, dass wir ohnehin permanent belogen werden, allen voran von der Politik. Dann die Sozialen Medien – ein reinstes Schummel-Eldorado. Doch das geht nicht spurlos an uns vorbei. Was macht es mit uns, wenn wir in einer Atmosphäre der Lüge leben? Was macht es mit unseren Beziehungen, wenn wir nicht mehr wahrhaftig miteinander sind? Ist es nicht endlich an der Zeit, der Wahrheit wieder näher zu kommen?
Stellen wir uns erst mal der Lüge. Denn es sind ja nicht immer nur die anderen, die an der Wahrheit vorbeileben. Zudem ist die bis zur Schnappatmung getriebene Aufregung um Fake News nicht nachvollziehbar. Denn: Nichts daran ist neu, alles ist, wenn auch nicht KI-generiert, immer schon dagewesen, und das nicht nur auf gesellschaftspolitischer Ebene.
Mal kleine Schummeleien, mal große Lebenslügen
Was beispielsweise Donald Trump vorgeworfen wird, könnten wir ebenso gut an uns selbst richten. Denn: Kaum einer dürfte es 24/7 mit der Wahrheit ganz genau nehmen. Sofern kein Heiligenschein vorliegt, sind wir also im Grunde alle so etwas wie Fake-News-Produzenten. Auch wenn wir bei persönlichen Belangen nicht zwingend eine mediale Verbreitung anstreben, so betreiben wir via Falschaussagen durchaus gezieltes Tricksen und Manipulieren, zumindest innerhalb unseres mikrokosmischen Radius. Mal sind es kleine Schummeleien, mal große Lebenslügen.
Man schwört zum Beispiel: „Das ist die letzte Zigarette“, obwohl man genau weiß, dass man der Sucht nicht widerstehen kann. Man lobt die völlig missratene Frisur der Kollegin, die ihr „wirklich gut steht“. Man grüßt den Chef mit einem Lächeln, obwohl man ihn am liebsten den Krokodilen zum Fraß vorwerfen würde. Und man bedankt sich bei Freunden für das „nette“ Abendessen, das eigentlich todlangweilig war. Und warum? Weil manche Unwahrheit das menschliche Miteinander oft leichter macht, zumindest auf den ersten Blick. Niemand wird gekränkt, Konflikte werden vermieden.
Anders ist es natürlich, wenn Lügen gezielt eingesetzt werden, um andere zu schädigen. Etwa, wenn der Vermieter Schimmel an den Wänden verheimlicht oder wenn Antragsteller von Sozialhilfe die Angabe vorhandener Ersparnisse unterschlagen. Oder wenn Menschen gar ein Doppelleben führen oder sich als Heiratsschwindler betätigen.
Falsches Bewusstsein, Verdrängung, falscher Glaube, Illusionen
Dann wäre da noch die Notlüge. Die sogar Leben retten kann, wie Jurek Becker in seiner 1969 veröffentlichten Erzählung „Jakob, der Lügner“ zeigt: Im Warschauer Ghetto erfindet der Jude Jakob täglich neue Radionachrichten von der unmittelbar bevorstehenden Befreiung und nährt damit bis zum Untergang bei seinen verzweifelten Mitinsassen die Hoffnung. Und tatsächlich: Die Zahl der Selbstmorde im Ghetto geht zurück.
Weit weg von der Notlüge ist hingegen die „Lebenslüge“, ein Begriff, den erstmals der Dichter Henrik Ibsen prägte und in seinen Stücken wie „Nora oder ein Puppenheim“ verarbeitete. Andere Denker des 19. und 20. Jahrhunderts reden vom falschen Bewusstsein, von „Verdrängung“, wie etwa der Psychoanalytiker Sigmund Freud oder von „mauvaise foi“, von einem falschen Glauben, von Illusionen, wie der Schriftsteller Jean-Paul Sartre: „Nicht immer erkennt der Mensch die Wahrheit, sondern er täuscht sich selbst fundamental.“
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Lügenforscher, so genannte Mentiologen, an der Universität von South California in Los Angeles fanden heraus: 41 Prozent schwindeln, um Ärger zu vermeiden oder die Stimmung nicht zu trüben, 14 Prozent, um sich selbst das Leben zu vereinfachen, 8,5 Prozent lügen, um geliebt zu werden, und sechs Prozent sagen aus reiner Faulheit die Unwahrheit. Alle acht Minuten, also bis zu 200 Mal am Tag, so heißt es in der Studie weiter, lügen wir uns oder anderen etwas vor.
Ein Ergebnis, das Sozialpsychologin Jeanette Schmidt von der Universität Heidelberg anzweifelt: „Es gibt nicht viele Möglichkeiten, zu erforschen, weshalb und wie häufig Menschen lügen. Wir können nicht einfach danach fragen – selbst wer ehrlich Auskunft geben möchte, weiß vermutlich nicht, wie häufig er in der Woche lügt.“ Außerdem: „Was tatsächlich unter einer Lüge verstanden wird, unterscheidet sich stark von Mensch zu Mensch, sogar von Situation zu Situation.“
Das neunte Gebot
Es fängt ja bereits in der Bibel an. Schon die ersten Seiten des Alten Testaments erzählen von der Lüge. Adam bezichtigt Eva zu Unrecht, ihn verführt zu haben, sein Sohn Kain lügt auf die Frage nach seinem Bruder Abel, den er erschlagen hat.
Als einer der bekanntesten Lügner des Neuen Testaments gilt Petrus. Jener Petrus, dem Jesus voraussagt: „Ehe heute der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.“ Und obwohl Petrus sich sicher ist, dass das nie passieren wird, geschieht es doch. Kaum wird Jesus gefangen genommen, fürchtet Petrus um sein eigenes Leben. Er wird drei Mal gefragt: „Bist nicht auch du einer von den Jüngern dieses Menschen?“ Um heil davonzukommen, antwortet Petrus jedes Mal: „Ich bin es nicht.“
Lügen kann auch tödliche Konsequenzen haben: Als sie lügen, müssen Ananias und Saphira, wie in der Apostelgeschichte nachzulesen, sterben. So weit muss es freilich nicht kommen, aber klar müsste sein, dass man besser beraten ist, sich von der Lüge fernzuhalten. Neben den Zehn Geboten, in denen es im neunten Gebot heißt: „Du sollte kein falsches Zeugnis geben gegen deinen Nächsten“, wurden bereits die Christen im kleinasiatischen Ephesus im Brief angehalten: „Legt die Lüge ab und redet die Wahrheit.“
Wie würde eine Welt aussehen, in der niemand lügt?
Und Jesus warnte im Neuen Testament: „Ihr Lieben, glaubt nicht einem jeden Geist, sondern prüft die Geister, ob sie von Gott sind; denn es sind viele falsche Propheten ausgegangen in die Welt“. Unweigerlich fallen einem da zig Politiker ein, die nichts anderes tun, als sich die Wahrheit nach ihrem Gutdünken zurechtzubiegen. Nichts Ungewöhnliches. Lügen gehört quasi zum Geschäft. Ist sogar ein Erfolgsmodell.
Aber irgendwie muss es da doch einen Ausweg geben. Mal ein Gedankenspiel: Wie würde eigentlich eine Welt aussehen, in der niemand lügt? Das fragte sich auch der britische Komiker Ricky Gervais. In seinem Film „Lügen machen erfinderisch“ erzählt er, was passiert, wenn das Konzept der Lüge den Menschen einfach fremd ist. Wenn sie sich jede Wahrheit ungefiltert sagen. Fazit: die Welt wird nicht nur ehrlich und offen, sondern auch takt- und rücksichtslos. Beleidigungen sind an der Tagesordnung.
Auch der Journalist Jürgen Schmieder hat vierzig Tage lang versucht, konsequent ehrlich zu sein: im Ehebett, bei der Steuererklärung, beim Pokern – und natürlich gegenüber sich selbst. Spaßig war das nur selten. Es gab blaue Flecken, Nächte auf der Couch, jede Menge Konflikte. Vom besten Freund kassierte er sogar eine gestauchte Rippe, wie er in seinem Buch „Du sollst nicht lügen“ berichtet.
Erst mag es einfach erscheinen, letztlich belastet aber das Lügen
Nicht gerade ermutigend. Und doch, die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. So sagte es die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann. Gemäß Immanuel Kant habe man ohnehin keine andere Wahl. Denn bei der Wahrheit handle es sich um einen „sittlichen Grundsatz“, also quasi um eine Verpflichtung. Die Lüge hingegen schade der „Menschheit überhaupt“. In seinem 1797 erschienenen Aufsatz „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“ verwies er darauf, dass man den Aufenthaltsort eines Freundes sogar einem Axtmörder verraten müsse, wenn der nach ihm suche. Auch das bereits von Sokrates und Platon formulierte Konzept der Parrhesia sieht vor, es als Pflicht anzuerkennen, die Wahrheit zu sagen. Und zwar unter jeden Umständen, egal wie unbequem das ist oder sogar gefährlich.
So sieht es auch der amerikanische Psychotherapeut Brad Blanton, der die Methode „Radical Honesty“ entwickelte, wonach die kompromisslose Wahrheit dringend geboten ist, vor allem in zwischenmenschlichen Beziehungen. Ihm zufolge würden wir alle davon profitieren, denn der Mangel an Ehrlichkeit sei der hauptsächliche Auslöser von Konflikten.
Es mag vielleicht erst einmal einfacher sein zu lügen, letztlich belastet es aber, sich immer wieder zu verleugnen, zu verstellen und das zu unterdrücken, was rausmuss. Dass auch der Belogene geschädigt wird, ist ohnehin klar. So kann jedenfalls weder Nähe noch Vertrauen wachsen. Denn immer steht da das Ungesagte dazwischen, das sich im Laufe der Jahre weiter und weiter ansammelt. Und dann still vor sich hinschwelt – und damit die Atmosphäre vergiftet.
Ehrlichkeit schafft eine Nähe, die die Lüge verhindert
Wer ehrlich zum anderen ist, schafft also eine Nähe, die die Lüge verhindert. Das steht im Gegensatz zu der Vorstellung, dass Wahrheit oft verletzend ist. Und sicher ist sie das bisweilen auch, aber auch nur, weil man es im Miteinander noch zu wenig eingeübt hat, einander die Wahrheit zuzumuten. Das erfordert einerseits Taktgefühl und auch Mut, denn viele sind darauf programmiert, es anderen recht zu machen und mit ihrer ehrlichen Meinung hinter dem Berg zu halten. Und es braucht andererseits beim Adressaten die Bereitschaft, sich nicht sofort auf den Schlips getreten zu fühlen. Letztlich hilft, sich vor Augen zu halten, dass Wahrheit vor allem eines ist: freundlich. Denn sie nimmt den anderen ernst genug, ihn nicht mit einer Lüge abzuservieren.
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