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Interview mit OIDAC-Chefin Anja Tang

Gewalt gegen Christen: Die Einschläge kommen näher

Am heutigen Mittwoch werden Hunderte Kathedralen, Kirchen, Klöster, Denkmäler, Monumente und öffentliche Gebäude rot angestrahlt. Das Rot steht für das Blut, das Menschen in aller Welt lassen müssen, weil sie Jesus Christus nachfolgen. Christen sind die weltweit am häufigsten verfolgte Religionsgruppe. Das Hilfswerk Open Doors spricht von 380 Millionen Betroffenen. Beim von Kirche in Not initiierten „Red Wednesday“ beteiligen sich allein in Deutschland und Österreich rund 500 Pfarrgemeinden, Organisationen und Einzelpersonen.

Blickte man beim Thema Christenverfolgung in der Vergangenheit vorwiegend auf Länder in Afrika, Nah- oder Fernost, so richtet sich der Fokus nun zusehends auch auf Europa. Zwar wäre es vermessen, die jüngsten Entwicklungen auf dem alten Kontinent mit denen etwa in Nigeria oder im Sudan gleichzusetzen angesichts dortiger Massenmorde an und brutaler Drangsalierung von Christen. Doch auch hier steigt die Zahl der personenbezogenen Angriffe, Angriffe also, die nicht „nur“ gegen kirchliche Einrichtungen gerichtet sind, sondern gegen Menschen – wegen ihres christlichen Glaubens.

Das belegt der soeben veröffentlichte jüngste Bericht der Beobachtungsstelle für Intoleranz und Diskriminierung von Christen in Europa (The Observatory on Intolerance and Discrimination against Christians in Europe / OIDAC). Die Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Wien dokumentierte für das Jahr 2024 mehr als 2.200 antichristliche Hassverbrechen in Europa. Darunter befanden sich 274 personenbezogene Angriffe. Besonders alarmierend ist der Anstieg auf 94 Brandanschläge – fast doppelt so viele wie im Vorjahr. 33 davon entfielen auf Deutschland, das damit den höchsten Wert in Europa erreicht. Erstmals stellte OIDAC am gestrigen Dienstag ihre Ergebnisse im EU-Parlament vor. Wir konnten die Direktorin Anja Tang in Brüssel erreichen.

Frau Tang, wenn ich an Christenverfolgung denke, kommen mir zuerst Länder wie der Sudan oder Nigeria, Pakistan oder Indien in den Sinn. Sie mahnen aber: Auch in Europa gibt es Gewalt gegen Christen. Wie kann es sein, dass man als durchschnittlicher Medienkonsument davon so wenig erfährt?

Es ist tatsächlich erstaunlich, dass antichristliche Hassverbrechen häufig medial kaum wahrgenommen werden. Erst vor wenigen Wochen wurde ein assyrischer Christ, der vor zehn Jahren vor dem IS-Terror im Irak nach Frankreich geflohen war, in Lyon brutal ermordet – ausgerechnet von einem IS-Anhänger, während er in einem Livestream in sozialen Medien über seinen christlichen Glauben sprach. Kaum jemand im deutschsprachigen Raum hat überhaupt von diesem Fall erfahren. Gleichzeitig fühlen sich manche öffentlich-rechtliche Medien offenbar eher verpflichtet, die Bevölkerung vor betenden Fußballprofis oder christlichen Influencern zu warnen. Und das ZDF erklärt in einem ausführlichen Artikel allen Ernstes, dass für die Ermordung Tausender Christen in Nigeria vor allem der Klimawandel verantwortlich sei. Da stellt sich zwangsläufig die Frage, ob bestimmte Medien antichristliche Straftaten schlicht nicht in ihr bevorzugtes „Framing“ einordnen können – und ob deshalb gravierende Menschenrechtsverletzungen kaum Beachtung finden.

Sie kommen gerade von einer Sitzung einer EU-Parlamentsgruppe für Religionsfreiheit, Glaubens- und Gewissensfreiheit, in der Sie den neuen OIDAC-Bericht vorgestellt haben. Es ist das erste Mal, dass Sie offiziell vor EU-Parlamentariern sprachen. Ist das Thema Christenverfolgung und -diskriminierung endlich in Brüssel angekommen?

Die überparteiliche EU-Parlamentsgruppe für Religions-, Glaubens- und Gewissensfreiheit hat unter ihrer neuen Leitung – Bert-Jan Ruissen und Miriam Lexmann – einen deutlich proaktiveren Kurs eingeschlagen. Die Gruppe hat die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bereits mehrfach mit Nachdruck aufgefordert, in diesem Bereich tätig zu werden. 

OIDAC-Direktorin Anja Tang spricht am Dienstag auf Einladung der EU-Parlamentsgruppe für Religions-, Glaubens- und Gewissensfreiheit in Brüssel

Die Sitzung, bei der ich die Daten unseres neuen Berichts vorstellen durfte, hat gezeigt, dass viele Abgeordnete das Thema sehr ernst nehmen und bereit sind, sich stärker damit auseinanderzusetzen. Konkret fordert die Parlamentsgruppe nun die Einrichtung eines EU-Koordinators zur Bekämpfung antichristlicher Gewaltverbrechen und Diskriminierung – analog zu den bestehenden Mandaten zur Bekämpfung von Antisemitismus und antimuslimischem Hass.

Laut dem aktuellen Bericht für 2024 ist die Zahl der Delikte leicht zurückgegangen. Entspannt sich die Lage?

Im Jahr 2024 wurden europaweit 2.211 antichristliche Hassverbrechen registriert. Der leichte Rückgang gegenüber den 2.444 Fällen im Jahr 2023 ist in erster Linie auf unvollständige britische Polizeidaten – die Zahlen aus London fehlen – sowie einen vorübergehenden Rückgang in Frankreich zurückzuführen. Dort sind die Zahlen Anfang 2025 allerdings leider wieder angestiegen. Was auffällt, ist, dass trotz des geringeren Gesamtwerts die personenbezogenen Angriffe von 232 (2023) auf 274 (2024) gestiegen sind, und das, obwohl für Frankreich und Großbritannien 2024 keine entsprechenden Daten vorlagen.

„Bei der Berichterstattung über Christen sollte dieselbe Sorgfalt gelten wie bei anderen religiösen Gruppen“

Schaut man sich die OIDAC-Berichte der vergangenen Jahre an, fallen darin oft Wörter wie „nimmt zu“, „steigt an“ und Ähnliches. Dabei ist es ja nicht so, dass das Christentum in Europa immer größer und mächtiger wird und es Abwehrreaktionen von Christenhassern gibt. Im Gegenteil: Das Christentum nimmt ab und die Angriffe dagegen nehmen zu. Wie erklären Sie sich das?

In den vergangenen Jahren haben mehrere europäische Länder einen Anstieg antichristlicher Hassverbrechen verzeichnet. Gleichzeitig ist es methodisch schwierig, sich ausschließlich auf statistische Daten zu stützen, da Änderungen in den Erfassungsmethoden zu Schwankungen führen können.

Was sind antichristliche Hassverbrechen?

Die OIDAC hält sich an die Definition von Hassverbrechen gemäß der OSZE. Demnach umfassen Hassverbrechen zwei Elemente: eine Straftat und eine entsprechende Motivation. Der Grundtatbestand kann von Hausfriedensbruch über Brandstiftung bis hin zu Körperverletzung reichen und ist grundsätzlich eine Straftat. Hinzu muss aber eine bestimmte Motivation kommen. „Angriffe oder Drohungen gegen Menschen aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen christlichen Identität oder gegen Personen oder Grundstücke und Immobilien, die mit christlichen Menschen oder Gemeinschaften in Verbindung stehen, stellen antichristliche Hassverbrechen dar.“ Die OIDAC weist darauf hin, dass es „keine umfassenden europaweiten Statistiken zu antichristlichen Hassverbrechen gibt“.

Aussagekräftiger ist daher die Wahrnehmung der christlichen Bevölkerung selbst. Und hier zeigen aktuelle Umfragen aus Deutschland, Spanien, Polen und England ein deutliches Bild: In all diesen Ländern nehmen Christen eine Zunahme feindseliger Einstellungen wahr. Besonders alarmierend sind die Ergebnisse aus Polen. Dort gaben 50 Prozent von mehr als 1.000 befragten Priestern an, im vergangenen Jahr Aggressionen erlebt zu haben. Über 80 Prozent berichten zudem, dass diese Aggressionen im letzten Jahrzehnt spürbar zugenommen haben.

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Auf die Frage nach den Ursachen nannten die meisten Befragten politische und mediale Narrative als wesentliche Treiber. Auch wenn dies sicherlich nicht die einzige Ursache ist, sehe ich hier eine besondere Verantwortung bei politischen Entscheidungsträgern und Medien: Bei der Berichterstattung über Christen sollte dieselbe Sorgfalt und Sensibilität gelten wie bei anderen religiösen Gruppen.

„Frankreich, Großbritannien, Deutschland und Spanien sind besonders betroffen“

Welche europäischen Länder sind besonders betroffen?

Laut derzeit vorliegenden Daten sind Frankreich, Großbritannien, Deutschland und Spanien besonders von antichristlichen Hassverbrechen betroffen. Wenn man sich nur die von NGOs erhobenen Zahlen ansieht, ist Deutschland allerdings direkt hinter Frankreich. Außerdem entfielen im vergangenen Jahr ein Drittel aller von unserer Organisation verzeichneten Brandanschläge auf Deutschland.

Nicht nur Anschläge auf Gebäude oder eher abstrakte Angriffe gegen christliche Organisationen und Institutionen haben laut dem Bericht zugenommen, sondern auch Attacken auf Personen. Gibt es Regionen oder Stadtteile in Europa, wo man sich besser nicht mit einer sichtbaren Kreuzkette oder anderer christlicher Symbolik auf der Straße sehen lassen sollte?

Ich halte nichts davon, unnötig Panik zu verbreiten oder den Eindruck zu erwecken, dass Christen in Europa grundsätzlich Gefahr laufen, auf offener Straße angegriffen zu werden. Dennoch gibt es konkrete Situationen, in denen Christen tatsächlich einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind. Kürzlich sprach ich mit einem christlichen Missionar aus Ägypten, der in einem überwiegend muslimisch geprägten Wiener Stadtteil arabische Bibeln verteilt. Nach mehreren körperlichen Übergriffen riet ihm die Polizei, seinen Standort zu wechseln, weil seine Sicherheit vor Ort nicht mehr gewährleistet werden könne.

Wo rohe Kräfte sinnlos walten: Vandalismus gegen Kirchen und Friedhöfe wird immer häufiger begangen

Ähnliche Risiken bestehen auch für Konvertiten, insbesondere in Asylunterkünften. Dort berichten immer wieder Menschen, die zum christlichen Glauben übergetreten sind, von Bedrohungen oder sogar körperlicher Gewalt. Auch der neue OSZE-Leitfaden zu antichristlichen Hassverbrechen hebt die besondere Schutzbedürftigkeit dieser vulnerablen Gruppe hervor.

Deshalb ist es wichtig, hier ohne politische Scheuklappen genau hinzusehen. Menschen, die vor Christenverfolgung in ihren Herkunftsländern geflohen sind, müssen in Europa besonderen Schutz erhalten – und zwar unabhängig davon, welche politischen Narrative gerade vorherrschen.

„Kirchenvandalismus in Deutschland findet immer mehr Beachtung“

Sie erwähnten vorhin eine Umfrage aus Polen, nach der jeder zweite Priester Aggressionen oder Schlimmeres gegen sich erlebt hat. Mehr als 80 Prozent hätten die Fälle aber nicht bei der Polizei gemeldet. Warum nicht?

Die meisten Priester meinten, was ihnen widerfahren ist, sei nicht gravierend genug, um es der Polizei zu melden. Manche dachten, dass die Polizei ihnen ohnehin nicht helfen könnte – oder sie fanden schlichtweg im Trubel des Pfarrlebens keine Zeit, sich mit der Bürokratie einer Meldung zu befassen. Wenn es um Vandalismus ging, sahen sie oft keine Chance, dass die Täter gefasst werden könnten.

Vermissen Sie ein pointierteres Auftreten der Kirchen, wenn es um Christenverfolgung geht?

Was das Thema der globalen Christenverfolgung angeht, freue ich mich, dass viele Kirchen am „Red Wednesday“ – dem internationalen Gedenktag für verfolgte Christen – teilnehmen und durch die rote Beleuchtung ein Zeichen der Solidarität setzten. In Österreich haben wir auch mehrere Gebetsaktionen und Gedenkmärsche, bei denen wir an jene Glaubensgeschwister denken, die an vielen Orten der Welt schwere Formen der Verfolgung ertragen müssen.

Zur Person Anja Tang

Anja Tang (geb. Hoffmann) ist Direktorin der Beobachtungsstelle für Intoleranz und Diskriminierung gegen Christen in Europa (OIDAC Europe) mit Sitz in Wien. Nach Abschluss ihres Masterstudiums der Menschenrechte mit Schwerpunkt Religionsfreiheit im Jahr 2017 arbeitete sie einige Jahre im österreichischen Nationalrat. Für die Beobachtungsstelle OIDAC Europe, die sie seit Oktober 2023 leitet, arbeitet Tang mit internationalen Organisationen zusammen und veröffentlicht regelmäßig Berichte und Medienbeiträge zur Religionsfreiheit von Christen in Europa.

Auch die Problematik von Übergriffen und Kirchenvandalismus innerhalb Deutschlands findet immer mehr Beachtung vonseiten der kirchlichen Verantwortungsträger. Erst vor wenigen Monaten warnte die Deutsche Bischofskonferenz in einer öffentlichen Stellungnahme vor einem „Tabubruch“ angesichts einer Reihe von Brandstiftungen in Sakralräumen, Exkrementen in Beichtstühlen und enthaupteten Christusstatuen in Kirchen.

„Erst mal Karriere machen und alles offen halten – diese Ratschläge sind fatal“

Frau Tang, als wir das vorige Mal mit Ihnen ein Interview führten, sprach meine Kollegin Sie noch mit Frau Hoffmann an. Sie haben inzwischen geheiratet. Erlauben Sie mir eine persönliche Frage: Was hat Sie zu diesem Schritt bewogen? Was stimmt Sie zuversichtlich?

Ich bin in einer Generation aufgewachsen, in der uns suggeriert wird, dass man sich alle Optionen offenhalten sollte und dass es als junge Frau am wichtigsten ist, erst einmal Karriere zu machen. Ich glaube, beide dieser Ratschläge sind fatal. Auch wenn ich ein Kind meiner Zeit bin und eine solche Lebensentscheidung mir schon irgendwie ominös erschien, wusste ich auch, dass man – oder besser gesagt Frau – die Entscheidung für eine Familie nicht aufschieben kann. Was mich zuversichtlich stimmt, ist, dass uns neben einem gemeinsamen Sinn für Humor auch unser Glaube verbindet.

Wo würden Sie jungen christlichen Familien raten hinzuziehen? Wo wird es auch in 25 Jahren noch lebenswert sein?

Als geborene Wienerin kann ich dazu nur sagen: Hoffentlich in Wien! (lacht)

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