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Kolumne „Ein bisschen besser“

Wie uns der Adventsmarkt emotional komplett zerlegt

Meine Frau Judith und ich stehen am Karussell neben Apfel, Nuss und Mandelkern. Es riecht nach quietschsüßem Glühwein und sanften Räucherkerzen. „Jingle Bells“ scheppert aus Lautsprechern. Es ist Weihnachtsmarkt auf dem Rathausplatz in der Stadt am Rhein, wo wir die Adventszeit verbringen. Das Töchterchen reitet auf einem Elefanten, drei Euro für drei Minuten. Ihre Augen strahlen ins einsetzende frühe Dunkel des Tages und leuchten sich mitten ins Elternherz, das warm zwischen Zärtlichkeit und Zimtduft pocht. 

In mir kommen die Zeilen dieses alten Schlagers hoch: „Was kann mir schon gescheh'n? Glaub mir, ich liebe das Leben. Das Karussell wird sich weiterdreh'n, auch wenn wir auseinandergeh'n.“

Die eigene Erschütterung spüren

„Ich habe einen Sinn fürs Dramaturgische“, erkläre ich Judith, die es nicht so gern hört, wenn ich dieses Liedchen trällere. Abends sitzen wir in der Oper, die Comedian Harmonists gastieren oder die, die sich so nennen: „Gib mir den letzten Abschiedskuss, weil ich dich heut verlassen muss. Und sage mir auf Wiedersehn. Auf Wiedersehn, leb wohl.“ Mir kullert ein Tränchen die Backe hinunter. 

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Es fühlt sich irgendwie gut an, die eigene Erschütterung zu spüren. „Wir haben uns so heiß geliebt. Und unser Glück war nie getrübt, drum sag ich dir auf Wiedersehn. Auf Wiedersehn, leb wohl!“ Judith schaut meiner Träne hinterher. Sehe ich da Spott in ihrem Blick? „Ich bin emotional feinfühlig“, erkläre ich meiner Frau, später an der Garderobe, während ich ihr in den Mantel helfe. „Das müsstest du doch eigentlich wissen.“

Ein Weitermach-Kuss

Als wir abends nach Hause kommen, kramt sie Udo Jürgens heraus. Wir hängen beide dem alten Lebemann ein wenig nach, der am Ende bei der Geburt seiner Freundin dabei gewesen sein könnte: „Ich wünsch dir Liebe ohne Leiden und eine Hand, die deine hält“, hat Judith aufgelegt. „Und wenn du suchst nach Zärtlichkeit, wünsche ich dir Liebe ohne Leiden und Glück für alle Zeit.“ Ich bin irritiert. Was will sie mir damit sagen?

„Nichts, mein Lieber, nur ein Lied“, antwortet sie, Und es sei auch ein bisschen besser, wenn ich jetzt von meinem Karussell hinunterstiege. Der Adventsstern müsste noch an die Wand gedübelt, Geschenke geplant und eine Feier mit Würde und Wein vorbereitet werden. Und: Essen wir die Gans mit Knödeln oder Spätzle? Das Töchterchen kräht: Sie will den Adventskalender schon einen Tag früher öffnen. Der Blick der Hündin verrät, dass sie gern einen Knochen auspacken würde. Die Steuernachzahlung kommt. Das Wachs der Kerzen tropft aufs Parkett. Ich gebe Judith einen Kuss. Es sei ein Weitermach-Kuss, versichere ich ihr.

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