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Kolumne „Ein bisschen besser“

Die Balz ruft

Als meine Frau Judith, das Töchterchen und ich neulich des Abends auf unserer roten Bank vor dem verfallenden Palazzo sitzen, sich der volle Mond im See spiegelt, und ich zum Erstaunen der Jüngsten ziemlich perfekt mit der hohlen Hand den Balzruf eines Käuzchens nachmache, kommen wir in die Stimmung, über die Endlichkeit des Lebens nachzudenken. 

Wir sind in dem Alter, in dem wir wirklich nicht den Countdown runterzähen, aber wir haben zähneknirschend eingesehen, dass Worte wie „nie“ und „ewig“ hast-du-nicht-gesehen von der Zeit überholt werden – und zwar rechts.

Das next big thing in der Bestattungsszene

Heiter lese ich Judith eine Presseeinladung nach Lübeck vor, die mich den Tag erreicht hatte: „Seit Jahrzehnten“, so startet der Text, den eine PR-Beraterin entworfen hatte, „fehlen innovative Impulse in der Bestattungskultur. Das letzte big thing war vor 25 Jahren die Zulassung von Wäldern als Bestattungsorte.“ Während das Töchterchen vergeblich versucht, auch ein Käuzchen zu imitieren, ist Judiths und meine Neugier nach dem next big thing in der Bestattungsszene geweckt.

Die PR-Beraterin hatte munter weiter über die „spektakuläre Neuinterpretation eines alten Themas“ getextet: Es gehe um einen Kornspeicher, den der Vater des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann 1873 errichten ließ, und der nun umgebaut als Urnenaufbewahrungsort Schauplatz einer „würdevollen Abschiedskultur“ werde.

Über Vater Thomas Johann Heinrich Mann ist bekannt, dass er bei seinen schriftstellernden Kindern jegliche kaufmännische Ader vermisste und deswegen testamentarisch die Liquidation seiner Firma anordnete, was dann der Stoff für die Untergangssaga der Buddenbrooks wurde.

Die Balz ruft bis kurz vor dem Lebensende

Den Korn- jetzt zum Urnenspeicher zu machen, sei durchaus eine Angelegenheit, die ein neues letztes Kapitel in der Saga wert sei, sage ich zu Judith, und ich würde ernsthaft überlegen, in die Fußstapfen des großen Thomas zu treten und das jetzt anzugehen.

Judith fügt hinzu, dass ich damit sicher unsterblich würde, was sie ein bisschen besser finde, als meine Asche einmal im Jahr am Totensonntag im nächsten big thing zu besuchen, zumal sie ja ein wenig jünger als ich sei und möglicherweise länger auf dieser Welt. 

In diesem Augenblick gelingt dem Töchterchen ein täuschend echter Käuzchenruf und erinnert uns daran, dass bis kurz vor dem Lebensende die Balz ruft, der wir uns dann ausgiebig widmen.

 

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