Gutmenschen und ihre Luftschlösser
Gutmenschen suchen weder nach der Wahrheit noch nach Problemlösungen – sie tun das Gute, weil es ihnen als gut erscheint, unbeschadet aller denkbaren Konsequenzen für andere. Wichtiger als die Not der Nächsten ist das eigene Seelenheil, selbst noch in dessen Schrumpfgestalt des Sich-Wohlfühlens.
Aber Gutmenschen sind noch lange keine guten Menschen. Ihre Fernstenliebe geht nicht etwa auf Kosten der Eigenliebe, sondern der Nächstenliebe. Ihr Interesse für die sozial Schwachen in der eigenen Gesellschaft ist gleich null. Diese gelten ihnen immer noch als Angehörige des reichen Westens, der durch die Ausbeutung anderer Kulturen reich geworden sei. Nachträgliche Ablasszahlungen an den „Globalen Süden“ oder bezüglich der globalen Erderwärmung seien moralisch geboten.
Die Eigenliebe bleibt davon meist unberührt. Indem sie humanitäre Aufgaben der Allgemeinheit auflasten, sind sie davon befreit, selbst Gutes tun zu müssen. Als häufig öffentlich Bedienstete leben sie vielmehr von ihrem Engagement. Ein guter Mensch würde hingegen die Folgen selbst tragen und in seinem Haus beispielsweise so viele Migranten wie möglich aufnehmen.
Götzendienst statt Gottesdienst
Die bunte Vielfalt der Gutmeinenden vereint sich im Regenbogen. Das ist ein offenkundiges Plagiat des Bündnisses Noahs mit Gott in Form eines Bündnisses der Menschheit mit sich selbst. Wo kein Gott mehr waltet, walten bekanntlich Götter und schließlich sogar der Götzendienst in politischen Idealen. Der humanitäre Eifer steht meist im umgekehrten Verhältnis zum Verlust des Glaubens an das Christentum oder an die Werte der eigenen Kultur. Moral wird zum Hauptinhalt des Glaubens und verdrängt aufklärerische Differenzierungen nach richtig oder falsch.
Abweichende Meinungen gelten daher nicht einfach als falsch, sondern als unmoralisch. Deren Bekämpfung wird zur Hauptaufgabe und die Dauerempörung füllt das eigene ideologische Vakuum. Die woke Ideenwelt selbst ist konfus. Es ist eine Mischung aus ultraliberalem Individualismus und kollektivistischer Gleichheitsideologie, von Geschlechter- und Klimafragen, die sich nur über immer neue Feinde zusammenfinden kann.
Das Antibürgerliche, Antikapitalistische, Antireligiöse, Anti-Traditionale samt entsprechendem Hass und Militanz verbinde – so der Historiker Peter Hoeres – die Extreme. Ebenso die Geschichtsutopien, die ganzheitlichen Vorstellungen von der Gesellschaft und die Zukunfts- und innerweltliche Heilsgewissheit.
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Da alles mit allem zusammenhängt, werden auch keine spezifischen Kompetenzen für die Eigenlogik von Funktionssystemen gebraucht. Ihrem Aufstieg in höchste Positionen steht daher nichts im Wege. Ob Covid, Klimakatastrophe oder der russische Präsident Wladimir Putin vor Berlin: Immer neue apokalyptische Visionen unterstreichen die Bedeutung der Warner und Mahner. Geradezu totalitäre Tendenzen zeigen sich in der Verabsolutierung von „der Wissenschaft“ oder „der Moral“, beide im Singular und damit ohne Dialektik, Ambivalenz und Alternative.
Die laut bekundete gute Absicht gibt den Warnern und Mahnern Vorsprung vor allen Mitbewerbern, die daraufhin einlenken und selbst zu Gutmenschen werden. Die Konservativen von einst haben damit ihren Realitätsbezug und damit als Lightversion des Gutmenschentums ihre eigene Identität und ihre Wählbarkeit aufgegeben. Ohne Rückbindung an die zweitausendjährige christliche Tradition sind sie über permanente Anpassungen erst relativistisch und dann sogar schon fast nihilistisch geworden.
Rekonstruktion des Guten
Der Wokismus ist – so der Medienwissenschaftler Norbert Bolz – die erste Bewegung der Menschheitsgeschichte, „die gleichzeitig gegen das Lust- und das Realitätsprinzip kämpft.“ Die permanenten Dekonstruktionen der Bewegung haben nicht zuletzt eine Identitätswüste hinterlassen, in der schon die normale Selbstbehauptung des Eigenen in Frage gestellt wird.
Heute treten die lange missachteten Local Player wieder auf den Plan, jene an ihre Wohnorte gebundenen Menschen, deren Nöte und Interessen in den globalen Vernetzungen kaum mehr Beachtung finden. Sie verlangen mit Recht wieder Gehör. Je häufiger „globales Denken“ zu lokalem Ruin führt – ob in Schulklassen, in denen kaum mehr Deutsch gesprochen wird, oder in völlig überlasteten Sozialsystemen und auf den Wohnungsmärkten – desto mehr haben die nachfolgenden Generationen die Folgen der Fernstenliebe zu tragen. Für sie bleiben nur Reste des Wohlstands über, was die neue Popularität halbkommunistischer Umverteilungspläne erklärt. Die Wut der Generation Z gilt den Boomern, die ihnen ein heruntergewirtschaftes Land hinterlassen.
Um mit neuem Realismus den Utopien des Gutmenschen entgegentreten zu können, wird von der westlichen Welt nichts weniger als eine Rekonstruktion des Guten, Wahren und Schönen gefordert. Ohne eine Besinnung auf die Stärken der eigenen Kultur können die Grenzen des Guten, Wahren und Schönen nicht erkannt und nicht legitimiert werden.
Eine Kultur der Transzendenz
Immerhin kann die westliche Kultur auf Weisheiten und Werte des Christentums, der Aufklärung und des Bürgertums zurückgreifen. Langfristig bleibt uns die Hoffnung, dass eine „Kultur der Transzendenz“ – wieder die „Kultur der Materie“ ersetzt. Über eine Rekonstruktion der aristotelischen und christlichen Kardinaltugenden von Maß und Mitte würde wieder eine Hierarchie des Guten möglich werden.
Die christliche Liebesordnung, die ordo amoris, lenkt die Aufmerksamkeit auf das Gedeihen der kleineren Einheiten – von der Familie bis zum eigenen Staat. Erst danach dürfen wir den Blick in die Ferne schweifen lassen. Die Besinnung auf das Subsidiaritätsprinzip der Katholischen Soziallehre könnte den Konflikt zwischen Global Playern und Local Playern in differenzierteren Synthesen aufzuheben helfen.
Kurzfristig müssen sich die Bürger wieder Gehör verschaffen. Sie haben allmählich mehr als ihre Identität zu verlieren. Die auch die feinen Vororte erreichende Barbarisierung wird ihre Kritik an den Luftschlössern und Einsichten in die Notwendigkeiten der Selbstbegrenzung fördern.
Die Brandmauern bröckeln
Zu den schlimmsten Folgen des Gutmenschentums gehören die Brandmauern gegenüber Andersdenkenden, die ausgerechnet über das Ideal der „Weltoffenheit“ die einstmals offenen Gesellschaften abgeschafft haben. Die Vorzüge dialektischer Diskurse werden wir von den Bildungsstätten bis hin zu den Medien in mühsamen Kämpfen zurückerobern müssen. Dabei werden noch viele Bürger merken, wie böse Gutmenschen bei der Verteidigung ihrer Gesinnung und Privilegien sein können.
Signale der Rekonstruktion empfangen wir von konservativen Parteien Mitteleuropas, die schon im Stadtbild auf die Erfolge ihres Realismus von kontrollfähigen Grenzen verweisen können. In einigen Staaten Westeuropas bröckeln immerhin die Brandmauern. In Dänemark schützen Sozialdemokraten den Sozialstaat gegen illegale Migration. Die britische, ebenfalls sozialdemokratische Labour-Party möchte ihnen nacheifern. In Italien bilden angebliche „Postfaschisten“ eine der wenigen stabilen Regierungen Europas.
Auch das Motto Make America Great Again signalisiert den Willen zur Rückkehr zu besseren Werten und Strukturen des Westens. In der von Trump erzwungenen Wiederbewaffnung der europäischen NATO-Mitglieder deutet sich neuer Wille zur Selbstbehauptung an. Nicht die Gutmenschenfantasien von einem gerechten Frieden, sondern die Notwendigkeiten von Geo- und Machtpolitik werden den Frieden in der Ukraine erzwingen. Die Grautöne der Realität finden ihre Entsprechung erst in einer Politik jenseits von Gut und Böse.
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