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Kolumne „Berliner Luft“

Jahresrückblick aus Berlin

Zu Beginn des Jahres war Berlin gespalten. Das konservative Berlin nahm die erneute Inauguration von Donald Trump am 20. Januar mit großer Freude zur Kenntnis, während das linke Berlin offen trauerte. Trump begann seine zweite Amtszeit mit einer Serie von Dekreten, neuen Zollankündigungen und einer antiwoken politischen Sprache: America first. Sein zentrales Wahlversprechen, den Krieg in der Ukraine rasch zu beenden, blieb unerfüllt. Stattdessen verschärften sich die Spannungen zwischen den USA, China und Europa. Handelskonflikte kehrten zurück, alte Bündnisse wirkten plötzlich verhandelbar. Europa blieb Zuschauer und Berlin Resonanzraum.

Warum sollte sich Washington um europäische Sicherheitsinteressen bemühen, wenn wir doch unseren eigenen Kanzler haben? Friedrich Merz trat sein Amt erst im zweiten Anlauf an. Ein Kanzler, der wirkt, als habe er den Staat nicht aus Überzeugung übernommen, sondern weil es ihm sehr gut passt. Politik als Karriereziel für das eigene Ego, nicht als Opfergang und aus Liebe zum Bürger, zum deutschen Volk. So befiehlt es die Inschrift auf dem Reichstagsgebäude. Für Rechte gilt Merz als zu links. Für Linke ist er zu rechts, fast schon AfD-tauglich.

Entsprechende Reaktionen folgten schnell: Am 30. Januar und am 2. Februar versammelten sich zehntausende Menschen im politischen Viertel. Berlin zeigte, dass es Opposition nicht nur denkt, sondern praktiziert. Besonders von links. Merz reagierte, indem er sich entzog. Als Außenkanzler reiste er, konferierte, telefonierte. Paris, Warschau, Brüssel, Washington. Das Inland überließ er Koalitionen, Verwaltung und Schweigen. Am 2. Februar fand die „Demo der Anständigen“ statt. Eine Demo aus der Kategorie „gegen Rechts“, hier gegen die CDU gerichtet:

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Gerade Berlin spürt solche Leerräume. Diese Stadt ist historisch überbeansprucht: zwei Weltkriege, Teilung, Mauer, Wiederaufbau – und heute eine Wirtschaft, die auffällig stark auf Politik, Medien und Projektlogiken ruht. Berlin trägt Geschichte nicht als Erinnerung, sondern als Last. Frieden ist hier keine moralische Pose, sondern Voraussetzung fürs Funktionieren.

Diese Erschöpfung zeigt sich 2025 vor allem im Alltäglichen. Die Wohnungsfrage ist längst keine soziale Debatte mehr, sondern eine existentielle. Mieten steigen weiter, selbst jenseits des Innenstadtrings. Verdrängung ist kein Schlagwort, sondern Normalzustand. Menschen ziehen nicht mehr in andere Kieze, sondern aus der Stadt oder sie leben auf Pump. Wohnungsanzeigen werden zu Statussymbolen. Wer günstig wohnt, schweigt. Wer sucht, verzweifelt öffentlich.

Gleichzeitig wird Berlin zum Versuchslabor der Migrationspolitik. Deutschlands größte Flüchtlingsunterkunft in Tegel ist nach dreieinhalb Jahren leergezogen, Geflüchtete wurden auf kleinere Unterkünfte verteilt und damit wurde das Problem verlegt, vertagt und nicht gelöst. Solidarität trifft auf Überforderung, Integration auf Bürokratie. Die Stadt wirkt hilfsbereit, aber ausgelaugt. Ein ungesunder Zustand, der sich in einer nach wie vor links-dominanten Toleranzgesellschaft schlecht skandalisieren lässt, politisch jedoch hochexplosiv ist.

Vom Frühling in den Sommer

Der Frühling ging nahtlos in einen leichten, beinahe übermütigen Sommer über. Die Sommer in Berlin sind wie ein Lottogewinn, aber wenn es warm und sonnig ist, was dieses Jahr besonders der Fall war, wird die Stadt zu Bühne und Rückzugsort zugleich. Cafés, Spreeufer, Parks – die Stadt zeigt sich weltoffen, kulinarisch experimentierfreudig, politisch erschöpft, aber noch nicht resigniert.

Im Sommer hatte man den Eindruck, niemand arbeite, und doch funktionierte alles. Bewohner und Touristen verschwammen miteinander. Politische Debatten traten in den Hintergrund. Der Bundestag leerte sich, Minister flogen aus, die Stadt atmete auf. Berlin ohne Tagespolitik wirkt freier, freundlicher, beinahe versöhnlich. Für einen Moment entstand die Illusion, man könne globale Krisen einfach aussitzen.

Berliner Sommer: Hier der Blick auf die Spree, den berühmten Fernsehturm und auf die Museumsinsel

Vom Sommer in den Herbst

Diese Illusion endete abrupt. Mit dem Herbst kehrte die Verdichtung der politischen Ereignisse zurück. Internationale Konferenzen, Gipfeltreffen und Sicherheitsdebatten bestimmten wieder den Takt. Auf dem NATO-Gipfel rückten Verteidigungsausgaben und militärische Einsatzbereitschaft ins Zentrum. Deutschland bekannte sich offen zu höheren Rüstungsetats, Europa zur langfristigen Abschreckung. Worte wie „Wehrfähigkeit“ und „Pflicht“ kehrten zurück in den politischen Wortschatz.

Parallel einigten sich die EU-Staaten auf ein milliardenschweres Hilfspaket für die Ukraine. Der Krieg war längst kein Ausnahmezustand mehr, sondern Teil der europäischen Normalität. Russland erneuerte seine Narrative, sprach von Provokation und Selbstverteidigung. Friedensdemonstrationen waren eher rar, außer bei Gaza-Israel. Da gingen gefühlt ständig Pro-Palästina-Demonstranten auf die Straße.

Auch andere geopolitische Verschiebungen wurden sichtbar. Der G20-Gipfel fand erstmals auf afrikanischem Boden statt und wurde zugleich von der Abwesenheit mehrerer westlicher Staats- und Regierungschefs geprägt. Weltpolitik zeigte sich nicht mehr als Gemeinschaft, sondern als Koexistenz widerstreitender Interessen. Die Münchner Sicherheitskonferenz zu Beginn des Jahres kündigte eine multipolare Welt und den Rückgang an Sicherheitsgarantien sogar an. Der Nahe Osten blieb fragil. Waffenruhen wirkten provisorisch, Eskalationen jederzeit möglich. Sicherheit wurde wieder als knappes Gut verhandelt, auch in Berlin, wo Poller, Polizeipräsenz und Schutzmaßnahmen längst Teil des Stadtbildes sind.

Gleichzeitig präsentierte sich der Herbst 2025 ungewöhnlich schön. Goldenes Licht, klare Luft, kaum Regen. Die Stadt wirkte ästhetisch versöhnt, politisch jedoch angespannt. Klimaberichte über Hitzewellen, Brände und Überschwemmungen verstärkten das Gefühl, dass Krisen nicht mehr nacheinander, sondern gleichzeitig stattfinden. Berlin reagierte nicht mit Aufruhr, sondern mit Müdigkeit. Empörung war zwar vorhanden, aber die Debatten waren kürzer und routinierter. Die Stadt wirkte informiert, aber nicht mehr überrascht. Vielleicht ist das Realismus. Vielleicht ist es Erschöpfung.

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Parallel verschärften sich die innerstädtischen Spannungen. Sicherheit wurde zum Dauerthema – nicht spektakulär, sondern kleinteilig. Messerverbotszonen, Debatten über Jugendgewalt, Clanstrukturen und Strafverfolgung prägten den Alltag. Berlin diskutierte nicht mehr, ob es ein Problem gibt, sondern nur noch, wie man darüber sprechen darf. Auch die Haushaltslage spitzte sich zu. Sparauflagen setzten Kulturinstitutionen unter Druck, Clubs und freie Szene kämpften ums Überleben. Subkultur, einst Markenzeichen der Stadt, wurde zur haushaltspolitischen Verhandlungsmasse. Berlin blieb kreativ, aber nicht mehr selbstverständlich.

Berliner Herbst. Unsere Kolumnistin im Biergarten am Schlachtensee Ende September

Vom Herbst über den Winter ins neue Jahr

Der Winter zeigt sich jetzt zu Beginn mild, beinahe gnädig. Schnee fällt, ohne zu lähmen. Doch politisch bleibt die Lage angespannt. Strom- und Gaspreise steigen weiter, viele Menschen müssen sich verschulden, um Rechnungen zu begleichen. Sparappelle ersetzen Entlastung. Unter den Linden bleibt die Weihnachtsbeleuchtung aus. Gleichzeitig leuchtet das Russische Haus ununterbrochen mit einer gigantischen Lichterkette. Politik zeigt sich dort, wo man sie nicht vermuten würde: in der Weihnachtsbeleuchtung. Die Weihnachtsmärkte dagegen überraschen. Trotz der Poller, der Sicherheitszonen und einer latenten Angst wirken sie friedlich, bemüht, menschlich. Der Breitscheidplatz ist nicht nur Erinnerungsort, sondern wieder Begegnungsraum. Für kurze Zeit entsteht ein Gefühl von Zusammenhalt, das im politischen Alltag selten geworden ist.

Berlin fungiert in diesen Monaten mehr denn je als innenpolitischer Seismograf. Was hier diskutiert wird, erreicht das Land mit Verzögerung: Migration, Sicherheit, soziale Gerechtigkeit, politische Sprache. Die Polarisierung ist spürbar, aber im Vergleich zu den Jahren zuvor eher leidenschaftslos. Protest gehört zur Biografie, nicht mehr zur Hoffnung. Der Krieg in der Ukraine dauert an und geht 2026 in sein fünftes Jahr. Die Debatte um die Wehrpflicht ist zurück. Musterungen sind beschlossen. Geschichte rückt näher, hoffentlich nur als Warnung und nicht als Wiederholung.

Menschen vergessen schnell. Auch die Jahrzehnte vor den Katastrophen des 20. Jahrhunderts galten als modern, fortschrittlich, aufgeklärt. Auch damals glaubte man, vieles überwunden zu haben. Vielleicht liegt der Fehler nicht im Vergessen. Vielleicht liegt er darin, dass wir gelernt haben, mit allem zu leben. Sogar mit dem Unhaltbaren.

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