Wenn wir über Falafel-Buden reden und Menschen meinen
Kaum ein anderes Wort wirkt so harmlos und ist seit Kurzem so aufgeladen wie „Stadtbild“. Ein Begriff aus der Stadtplanung, der seit der CDU-Pressekonferenz in Talkshows landet, als Synonym für alles, was sich verändert hat. Läden, Sprache, doch vor allem – die Bürger Deutschlands. Und wieso fühlt es sich irgendwie falsch an, das direkt zu benennen? Wer sind denn heute noch die „deutschen“ Bürger (und wieso fühlt es sich richtig an, „deutsch“ in Anführungszeichen zu setzen)?
Auf der Pressekonferenz sprach Friedrich Merz darüber, dass sich „das Stadtbild in manchen deutschen Städten verändert“ habe. Jeder Zuhörer weiß: Merz geht es nicht um Hausfassaden, sondern um Gesichter, die die Straße prägen. Das Stadtbild ist zum Codewort geworden für das Gefühl, dass etwas verrutscht ist, nämlich die Identität der Gesellschaft.
Wer oder was ist die Gesellschaft?
Alle reden von der Gesellschaft, als wäre sie etwas, das einfach da ist. Stabil, selbstverständlich, verlässlich. Aber was ist, wenn sie längst zerfällt oder bereits zerfallen ist, ohne dass wir es merken oder gemerkt haben? Nicht nur im multikulturellen Berlin, sondern deutschlandweit sprechen Kinder untereinander kaum noch Deutsch. Weil sie sich in der Pausenhofsprache besser verstehen und weil an der einen oder anderen Schule kaum noch die Kinder in der Mehrheit sind, die Deutsch als Muttersprache sprechen.
Die Pausenhofsprache ist also eine andere als die Amtssprache, derzeit zumeist Arabisch, Ukrainisch und Russisch. Großartig, wie es noch vielfältiger wird. Die deutschen Städte sind so schön „bunt“. Das wiederum ist ein Codewort für Gruppen, die nebeneinander, nicht miteinander leben. Das ist doch keine Gesellschaft, wenn man den Nachbarn nicht versteht.
Erst kürzlich hatte ich den Fall, dass es einem Nachbarn in meinem Haus nicht gut ging. Andere Nachbarn eilten zur Hilfe. Ich war damit konfrontiert, dass die Portugiesen aus dem Erdgeschoss, die seit 30 Jahren im Haus leben, noch nicht einmal verstehen, was „Notruf“ heißt. Wir schalteten die Übersetzer-App ein, um die Polizei zu rufen und um eine Tür aufbrechen zu lassen. Im Treppenhaus glich eine ernsthafte, lebensbedrohliche Situation einem Basar aus aller Welt. Und ich verließ dieses Erlebnis mit dem Gefühl, dass ich in nur 30 Minuten mehr Portugiesisch sprechen konnte, als meine Nachbarn in all den Jahrzehnten ihres Deutschlandaufenthalts Deutsch sprechen können. Wieso muss ich mich auf sie einlassen und einstellen? Woher rührt diese Selbstverständlichkeit?
Für mich jedenfalls definiert sich eine Gesellschaft über Zusammenhalt und damit über den kleinsten gemeinsamen Nenner: die Sprache Deutsch. Man muss nicht befreundet sein oder sich großartig mögen, aber dieselbe Sprache sprechen sollte man schon. Damit meine ich Grammatik und Vokabeln, nichts Esoterisches wie „auf einer Wellenlänge“ sein. Das sind unterschiedliche Kulturen a priori nie.
Kurzum, wir reden von Integration, als wäre sie ein Schulfach, das man bestehen kann. Dieses „Mindset“ ist übrigens sehr deutsch. Nur die Antideutschen merken es nicht. Wie ironisch. Doch das passiert, wenn man sich auf dem Schulhof gar nicht mehr begegnet, weil man längst in verschiedenen Welten lebt, die denselben Ort nur teilen. Das ist wie in den USA. Wobei sich dort wenigstens alle um die Amtssprache des „Land of the Free“ bemühen.
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Das Unbehagen der Vielfalt
In der US-Sitcom „Modern Family“ gibt es eine Szene, die diesen Nerv in nur drei Minuten trifft. Alle Figuren versuchen, politisch korrekt zu bleiben. Tolerant, respektvoll und woke. Alle bis auf das Kind. Kinder sind bekannt für ihre Ehrlichkeit und Direktheit. Und dann platzt es aus einem heraus: „Es wäre besser, wenn jeder dahin ginge, wo er herkommt.“
Der Satz ist aus unserer heutigen, bunten Sicht absurd, verletzend, aber massiv entlarvend. Er zeigt, wie dünn die Haut der Toleranz ist, wenn sie sich im Alltag reibt. Es geht nicht um Herkunft oder um Diskriminierung, es geht auch nicht darum, jemanden als besser oder schlechter darzustellen, sondern es geht um das Gefühl, das wir manchmal haben, wenn wir in einer Umgebung stehen, die uns fremd vorkommt.
Nicht den Falafel-Laden oder die muslimische Bestattungsagentur merkt sich der Mensch, sondern das Gefühl, wenn er an ihnen vorbeiläuft. Das Gefühl ist vermutlich die Erklärung, wieso AfD-Politiker und Sympathisanten dem „alten Deutschland“, den wunderbaren 1990er Jahren unter Helmut Kohl, nachtrauern. Einer Zeit, zu der auf der Neuköllner Sonnenallee noch romantische Teeniefilme gedreht wurden.
Das Gefühl ist vermutlich auch der Grund, wieso so viele Menschen so gerne links sind. Man fühlt sich einfach als „Gutmensch“ besser als jemand, der Grenzen setzt und die Wahrheit anspricht. Eine Metapher für die, die es immer noch nicht verstehen: Den Papa hat man für seine schludrige, spielerische Art der Erziehung zeitweise auch lieber als die strenge und ernste Mama, die einen zwingt, früh ins Bett zu gehen. Mit Papa gibt’s noch iPad-Zeit oder eine Serie mehr am Abend! Und das ist einfach ehrlich.
Ehrlich ist es auch festzustellen, dass das Gefühl kein politisches Vergehen ist, sondern eine menschliche Reaktion! Nur reden darf man darüber kaum, ohne als unsensibel zu gelten. Denn bekanntermaßen tut nichts so sehr weh wie die Wahrheit. Und ein Teil der Wahrheit ist die Unsicherheit von rund zehn Millionen AfD-Wählern und genau genommen auch vielen CDU-Wählern. Sie sind alle ein Teil der Vielfalt. Ja, die Kreuzberger Hafermilch-Matcha-Mafia hört das mit Sicherheit nicht gern. Die ist übrigens zumeist ethnisch deutsch.
Wir sind langweilig – und das ist unsere Stärke
Ein Blick auf die Hauptstadt. Wir nehmen die Kontraste Berlin-Neukölln und Berlin-Charlottenburg. Zwei Berliner Stadtteile, die als zentral gelten. Es sind zwei Haltungen zur Welt, kurz durchdekliniert: Migrantisch versus einheimisch. Reizüberflutung versus Selbstbeherrschung. Türkischer Chai versus Chardonnay. Sonntagsspaziergang versus Grillen auf dem Mittelstreifen. In Neukölln lebt Berlin im Plural – laut, spontan, unfertig. In Charlottenburg lebt Berlin im Singular – geordnet, gedämpft, gepflegt.
Oft hört man sogar die Nachkommen der Zugezogenen, also die dritte Generation, die auf jeden Fall schon in Deutschland geboren ist, sagen: „Die Deutschen sind langweilig. Verbissen. Die Almans halt, die Kartoffeln.“ Ja, vielleicht. Na und? Es stellen sich mehrere Fragen. Zum einen: Woher kommt diese Haltung, die eindeutig respektlos ist? Von den Eltern, den Großeltern? Oder sogar von den wenigen deutschen Mitschülern – wieso auch immer. Zum anderen ergibt sich eine Frage aus einer logischen Schlussfolgerung. Wenn wir so lahm sind, so träge – und ja, bereits Fjodor Dostojewski schrieb noch im 19. Jahrhundert, dass Deutschland langweilig sei, eine „qualvolle Öde“ – wieso wollen dann alle hier sein und sich quälen? Konkret all jene, die hier dauerhaft leben, arbeiten, heiraten und Kinder kriegen.
Welten prallen aufeinander und es ist nicht nur der arabische Raum, der uns als „Kartoffel“ beleidigt. Ein Beispiel ums Eck: Reist man ins benachbarte polnische Świnoujście (Swinemünde) an der Ostsee, dröhnt dort der Bass ebenfalls lauter als im direkt angrenzenden und schlafenden deutschen Ahlbeck. Es ist einfach eine andere Mentalität, und das ist auch gut so. Das ist Vielfalt, und jede Vielfalt hat eine Heimat.
Früher zahlten die Migranten einen sehr hohen Preis für ihre persönliche Entscheidung – nämlich den des Ablegens der Identität, um eine andere anzunehmen. Spätestens die dritte Generation, also die Enkelkinder der Eingewanderten, sollte gänzlich beheimatet sein. Noch einmal ein Blick auf unsere Nachbarn. Von den rund zehn Millionen Polen, die über zwei Jahrhunderte in die Welt wanderten, werden die wenigsten noch wissen, dass ihre Vorfahren aus der Nähe von Krakau, Lodsch oder Lublin stammen. Heute aber wird die Anpassung an das Wahlheimatland nicht mehr erwartet. Und damit geht es allen langfristig nicht gut.
Was viele Gutmenschen leugnen, ist, dass Migranten durch eine identitätsbefreite Politik weder in ihrem Ursprungsland zu Hause sind noch eine neue Heimat für sich und ihre Nachkommen finden. Und diejenigen, die schon immer an einem Ort waren, werden zu Migranten im eigenen Land. Deshalb ist in den USA Patriotismus in den Schulen spürbar. Und zwar durch die Nationalhymne, die alle Menschen aus aller Welt mit nur vier Strophen verbinden und Teil der amerikanischen Gesellschaft werden lassen soll. Warum dürfen die Amerikaner das und wir nicht?
Epilog: Was wir wirklich sehen
Wie meine Kolumne anreißt, geht es am Ende bei der Stadtbild-Debatte um sehr viele Themen, die aufeinanderprallen und sich doch in einem simplen, unangenehmen Satz zusammenfassen lassen: Wenn wir über Häuser und Straßen reden, dann reden wir über Menschen, über das, was uns vertraut ist, und das, was uns verunsichert. Eine Stadt, in der sich alle sofort wohlfühlen, wäre tot. Eine Stadt, in der sich alle nur fremd fühlen, ist verloren.
Vielleicht hat Friedrich Merz endlich einmal eine Sache richtig gemacht. Mit seinem Hot Take hat er uns daran erinnert, dass Zusammenleben kein Zustand ist, sondern ein Prozess, und dass Zugehörigkeit nicht gebaut, sondern empfunden wird.
Kommentare
Meine Erfahrung aus einer typisch deutschen Metropole: Die Menschen unterschiedlichster provenience leben neben- und nicht miteinander. Wir haben keine Gesellschaft, sondern einen Mix aus vielen Parallelgesellschaften.