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Zur Kritik des Bundesverfassungsgerichts

Das Zeitgeistgericht

Das Bundesverfassungsgericht gehört zu den Staatsorganen, denen die Deutschen am meisten vertrauen. Die zwischenzeitlich geplante Nominierung von Lars Brocker – bisher Präsident des rheinland-pfälzischen Verfassungsgerichtshofes und bekannt für seine Forderung nach einer Corona-Impfpflicht sowie „Verständnis“ für die fundamentalistischen „Klimaaktivisten“ der „Letzten Generation“ – als Nachfolger der Richterin Gabriele Britz ist im Februar zur Herbeiführung einer paritätischen Besetzung der Richterposten abgelehnt worden. Diese absurden Vorgänge stehen gewissermaßen symptomatisch für den Zustand des Gerichts.

Das Bundesverfassungsgericht besitzt heute eine – auch im internationalen Vergleich – beträchtliche Machtfülle. Das war allerdings nicht immer so: Nachdem das Gericht 1952 eingerichtet worden ist, musste es zunächst einen Emanzipationsprozess durchlaufen. Der Bundesgerichtshof stellte sich in die Tradition des alten Reichsgerichts und erhob dementsprechend einen Hegemonialanspruch, und die Politik war wenig begeistert von der Störung ihres Betriebs durch ein Verfassungsgericht. Am Ende hat „Karlsruhe“ die Auseinandersetzung mit beiden gewonnen und seine Position im Gefüge der Staatsorgane stetig ausgebaut.

Ein Streitschlichter, der keiner ist

Anders als der Name es vermuten lässt, ist Karlsruhe kein genuines Gericht. Materiell nimmt es als politisches Organ an der Staatsleitung teil. Seine Selbstdarstellung lebt gleichwohl davon, sich mit dem Schleier des Unpolitischen zu umgeben. Es inszeniert sich als apolitischer „Streitschlichter“, als eine Art pouvoir neutre.

Das liegt zum einen an der geringen Direktionskraft des Verfassungstexts, ist er doch naturgemäß fragmentarisch und interpretationsoffen. Zum anderen setzt das Gericht eigene politische Agenden und reagiert gleichzeitig auf außerhalb seiner selbst liegende Vorgänge, es ist Teil eines wechselbezüglichen Prozesses aus Proaktion und Reaktion.

Mystifizierte Institution: Der I. Senat des Bundesverfassungsgerichts in der Zusammensetzung ab Dezember 1989 unter dem Bundesverfassungsgerichtspräsidenten Roman Herzog
Mystifizierte Institution: Der I. Senat des Bundesverfassungsgerichts in der Zusammensetzung ab Dezember 1989 unter dem Bundesverfassungsgerichtspräsidenten Roman Herzog

Dabei treten – anders als im angloamerikanischen seriatim-Verfahren – im kontinentaleuropäischen per curiam-Modell die individuellen Richterpersönlichkeiten hinter die Institution „Bundesverfassungsgericht“ zurück. Die Arbeitsweise des Bundesverfassungsgerichts wird so effektiv camoufliert und die Institution mystifiziert.

Die Machtfülle des Gerichts kann sich jedenfalls nicht direkt auf eine unmittelbare Determination durch das Grundgesetz stützen, sie ist erklärungsbedürftig. Die Verfassung konstituiert Karlsruhe lediglich als reguläres Gericht mit speziellem sachlichem Zuständigkeitsbereich. Die beiden Senate operieren gleichwohl mit einer Entscheidungstechnik, die den Tatsachenstoff des jeweiligen Sachverhalts, der es eigentlich überhaupt erst zur Verfassungsinterpretation ermächtigt, in den Hintergrund drängt. Es arbeitet nach außen hin kontextunabhängig und hüllt das oft bereits feststehende Ergebnis in einen juristischen Duktus.

Die deutsche Sehnsucht nach dem Unpolitischen

Der Laie erhält so den Eindruck, die „Experten“ in roten Roben bedienten sich einer von außerrechtlichen, diskursiven Prozessen innerhalb der Gesellschaft oder persönlichen Prägungen der Richter unabhängigen wissenschaftlichen Arbeitsweise. Sein Ansehen profitiert von dieser Strategie maßgeblich, weil es seine Interpretationsleistung damit als Ergebnis einer zeitgeistlosen und fallübergreifenden Rechtserkenntnis präsentieren kann, sie gewissermaßen pseudo-technisiert.

Schon früh eine integrative Figur: Das 25-jährige Jubiläum des Verfassungsgerichts würdigte die Bundespost auf einer Briefmarke
Schon früh eine integrative Figur: Das 25-jährige Jubiläum des Verfassungsgerichts würdigte die Bundespost auf einer Briefmarke

Dieser operative Rationalitätsschein befriedigt dabei die Sehnsüchte der Deutschen. Sie stehen dem politischen Prozess eher distanziert gegenüber und sehnen sich nach Konsens. Die Deutschen haben nach einem Akteur gesucht, der diesen Zustand herzustellen vermag, und ihn im Bundesverfassungsgericht gefunden. Das Gericht wiederum hat sich nahezu perfekt in die Rolle einer pazifizierenden und integrativen Figur eingefügt.

Es profitierte dabei maßgeblich von einer vordemokratischen und autoritätsgläubigen politischen Kultur. Seine akontextuelle und ahistorische Verfassungsinterpretation erweckt den Eindruck, Karlsruhe greife auf ein neutrales und unpolitisches Verfassungsverständnis zurück. Das entspricht jedoch nicht der Realität. Das Bundesverfassungsgericht ist ein originär politischer Akteur, seine Richter sind der Sache nach also Politiker.

Politiker in roten Roben

Entsprechend lang ist die Reihe problematischer Entscheidungen. Susanne Baer, Richterin von 2011 bis 20. Februar 2023, Anhängerin von Gender Studies und Befürworterin eines aggressiven Gleichstellungsfeminismus, äußerte sich rückblickend über den sogenannten Klimabeschluss von März 2021: „Wir haben gedacht: Jugendliche haben Rechte, und es ist die Aufgabe des Gerichts, dem Gesetzgeber klarzumachen, dass er diese Rechte angemessen berücksichtigt.“

Kaum ein Satz demonstriert mehr die Art und Weise, wie das Gericht in der Realität arbeitet. Es ging nicht um die Verfassung, sondern darum, sich ideologisch in einen gesellschaftlichen Mehrheitsdiskurs einzureihen und diese Praxis in eine pseudo-juristische Erscheinungsform zu gießen. Die Kassation des „Bundes-Klimaschutzgesetzes“ am 24. März 2021 und die Verpflichtung des Gesetzgebers ist damit weniger das Produkt rechtswissenschaftlicher Erkenntnis, sondern vielmehr eine politisierte Verarbeitung soziokultureller Phänomene.

Es ging nicht um die Verfassung, sondern um eine politisierte Verarbeitung soziokultureller Phänomene: Susanne Baer, Richterin am Bundesverfassungsgericht von 2011 bis 2023
Es ging nicht um die Verfassung, sondern um eine politisierte Verarbeitung soziokultureller Phänomene: Susanne Baer, Richterin am Bundesverfassungsgericht von 2011 bis 2023

Auch die beiden Entscheidungen zur „Bundesnotbremse“ stehen ganz vorn in einer Reihe unsäglicher Verfassungsjudikate, stellen sie sich weniger als Ergebnis ehrlicher Verfassungsauslegung dar, sondern eher als Schutzmaßnahme, um eine politische Beschädigung Angela Merkels zu vermeiden. Die „Notbremse“ zählte doch zu ihren Pilotprojekten in der Hochphase der Pandemie. So reiht sich auch die Haltung von Stephan Harbarth (gegenwärtiger Präsident) ein, der 2019 als „Ziehsohn“ der damaligen Bundeskanzlerin direkt von der Abgeordnetenbank nach Karlsruhe wechselte. Das gesellschaftliche Narrativ befürwortete zum damaligen Zeitpunkt restriktive Maßnahmen; dementsprechend wagten es die Verfassungsrichter nicht, im Angesicht drohender Skandalisierung dem Zeitgeist entgegenzutreten.

Das Grundgesetz wird zur Disposition des Mainstreams gestellt

So zerbarst eine der großen Lebenslügen der Bundesrepublik. Karlsruhe ist kein Gericht und war auch nie eines. Das Bundesverfassungsgericht ist ein genuin politischer Akteur, steht aber nicht zu dieser Rolle, sondern versteckt sich hinter einem intransparenten Umhang aus Scheintechnizität. Man mag Karlsruhe zugutehalten, dass es nicht allein dafür verantwortlich ist. Verfassungsjurisprudenz enthält notwendigerweise ein dominantes Element nicht der Rechtserkenntnis, sondern der Rechtsschöpfung.

Gleichwohl lässt sich das verfassungsrichterliche Kreativitätsmoment methodisch domestizieren; hier zeigte Karlsruhe sich jedoch wenig einsichtig und rekurriert zumeist auf ergebnisorientierte Argumentation. Das Gericht bewegt sich in einem Korridor aus soziokultureller Akzeptanz, es kanalisiert also eher Standpunkte (vermeintlich) dominierender sozialer Mehrheiten.

Das Grundgesetz büßt damit einen Großteil seiner normativen Geltungskraft ein, indem es praktisch zur Disposition eines gesellschaftlichen Mainstreams gestellt wird. Es ist nicht per se verwerflich, dass das Gericht ein Akteur im Fluss des Zeitgeistes ist. Das Problem liegt vielmehr im unehrlichen Umgang Karlsruhes mit seiner Rolle.

Wer wird die Wächter bewachen?

Anspruchsvoller als die Problemdiagnose gestaltet sich indes die Suche nach Lösungen. Eine effektive methodische Domestizierung der im Rahmen der Verfassungsinterpretation besonders großen richterlichen Freiheit ist praktisch schwierig, wenn nicht sogar unmöglich. Quis custodiet ipsos custodes?, „wer wird die Wächter selbst bewachen? Über Karlsruhe befindet sich, wie sein ehemaliger Präsident Andreas Voßkuhle zutreffend feststellte, „nur noch der blaue Himmel.