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Deutungsrevolution des Grundgesetzes

Wenn Gefühle plötzlich zum Menschenrecht werden

Nach den Schrecken des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs stand die Frage der Menschenrechte in Westdeutschland im Zentrum der Wiedererrichtung eines demokratischen und rechtsstaatlichen Systems. Die Alliierten machten deutlich, dass eine Rückkehr zu einem autoritären Regime ausgeschlossen sei. Vor diesem Hintergrund sollte das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht nur die institutionelle Machtverteilung regeln, sondern unveräußerliche Menschenrechte in den Mittelpunkt stellen.

Eine frühe Auseinandersetzung bei der Konzeption der Menschenrechte war die Frage, ob diese naturrechtlich oder liberal verstanden werden sollten. Eine naturrechtliche Konzeption hätte die Rechte traditionell gefasst, während die liberale Auffassung eher rechtspositivistisch geprägt und je nach herrschender Denkweise veränderbar ist. Und sich in erster Linie als Ermöglichung von Freiheit versteht, ohne konkrete Inhalte festzulegen, was heute vor allem bei den Freiheitsgrundrechten, aber auch beim Grundrecht auf Schutz der Ehe deutlich wird. Was ist eine anerkannte Religion? Was ist eine Ehe? Wie weit darf die freie Entfaltung der Persönlichkeit gehen, ohne gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz zu verstoßen? Und was überhaupt ist sittlich und was nicht?

Im Parlamentarischen Rat, der 1948 zusammentrat, um das Grundgesetz zu erarbeiten, kam es zu intensiven Debatten über die Konzeption der Menschenrechte. Diese Debatten wurden maßgeblich von den beiden großen politischen Lagern geprägt: den Christ- und Sozialdemokraten.

Als man in der CDU noch über Naturrechte sprach

Die CDU war damals noch in Teilen vom Naturrecht geprägt. Demnach basierten die Menschenrechte auf der Würde des Menschen, die auf die Gottesebenbildlichkeit zurückgeht. Nach dieser Position stünden die Rechte nicht unabhängig für sich, sondern würden im Rahmen einer universellen Ordnung verstanden werden, die von Gott gegeben ist und der alle menschlichen Gesetze untergeordnet sind. Damit einher geht eine konkrete Auffassung von Sitte, Moral, Ehe und Familie. 

Innerhalb der CDU beinhaltete die christlich geprägte Auffassung von Menschenrechten auch eine besondere Betonung der sozialen Verantwortung. Die Partei sah in den Menschenrechten nicht nur Abwehrrechte gegenüber dem Staat, sondern auch eine Verpflichtung der Gesellschaft und des Staates, soziale Gerechtigkeit zu fördern. Dieser Aspekt spiegelte sich in der sozialen Marktwirtschaft wider, die von der CDU als Wirtschaftsmodell propagiert wurde und eine Synthese aus wirtschaftlicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit anstrebte.

Die SPD vertrat ein eher liberales Verständnis der Menschenrechte, das stärker an den Staat gebunden war. In ihrem Verständnis sind Menschenrechte durch die Gesellschaft und den Staat ausgestaltet und garantiert. Sie betonte die Rolle des Staates als Garanten dieser Rechte, was auch bedeutet, dass Menschenrechte durch staatliches Handeln weiterentwickelt werden können und müssen. Diese Auffassung widersprach der CDU-Position insofern, als die SPD die Rolle des Staates bei der Festlegung und Gewährleistung von Rechten stärker in den Vordergrund rückte. 

„Recht der Personen“ gegen „Recht der Wahrheit“

Im Gegensatz zur CDU legte die SPD großen Wert auf den wirtschaftlichen und sozialen Aspekt der Menschenrechte. Die Partei argumentierte, echte Freiheit könne nur dann erreicht werden, wenn Menschen auch wirtschaftlich abgesichert seien und soziale Gerechtigkeit gewährleistet sei. Dies umfasste Rechte wie jenes auf Arbeit, auf Bildung, soziale Sicherheit und angemessene Lebensbedingungen.

Die Menschenrechte der Moderne, wie sie auch im Grundgesetz Eingang fanden, werden verstanden als Schutz- und Freiheitsrechte der Person gegenüber dem Staat. Darunter fallen vor allem Grundrechte wie die Religionsfreiheit, die Meinungs- und Redefreiheit und die Pressefreiheit. Das ist die kopernikanische Wende der Moderne, von der unter anderen der Rechtsphilosoph Norberto Bobbio sprach, nach der die Person als autonomes, vernunftbegabtes Individuum selbst Rechtsträger und Souverän ist.

Eine Entwicklung, die sich ideengeschichtlich seit der Aufklärung und politisch im Zuge der Französischen Revolution und ihrer Kriege seit 1789 stark in Europa ausbreitete. Ältere Menschenrechte wie das Recht auf Eigentum, auf Leben und Freiheit (von Sklaverei) finden sich schon in der Antike und spielen bei der Entdeckung der Neuen Welt wieder eine neue Rolle.

In der katholischen Kirche herrschte damals eine Opposition zum modernen Rechtsverständnis vor. Diese hat die Wende zum modernen staatstheoretischen Denken nicht akzeptiert. Der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde formulierte es so: 

„Die traditionelle katholische Lehre, bis hin zur sogenannten Toleranzansprache Pius’ XII. von 1953, hat die Anerkennung der Religionsfreiheit, oder, was auf dasselbe hinausliefe, der Toleranz als Prinzip im Ergebnis immer abgelehnt. Sie geht dabei von dem Primat der Wahrheit gegenüber der Freiheit aus und von der These, dass der Irrtum an sich kein Recht hat gegenüber der Wahrheit. Nur besondere Gründe – ‘graves causae’ – im Hinblick auf das Gemeinwohl können es gestatten, dass dem Irrtum gleichwohl Existenz zuerkannt werde, dies aber niemals de jure, als Prinzip, sondern immer nur de facto, als Hinnahme eines Übels.“ 

Der Dogmatikprofessor Johann Baptist Walz erklärte diese Haltung anhand des Selbstverständnisses der Kirche: „Ist eben die Kirche die einzige Trägerin und Vermittlerin des Heils, so ergibt sich von selbst die absolute Verwerfung des religiösen Indifferentismus oder der sogenannten religiösen Toleranz (Duldung).“ 

Der moderne, liberale Staat klammert Heilsfragen aus. Er ist der Ansicht, es sei nicht seine Aufgabe, sich mit der Wahrheit einer Religion zu beschäftigen. Stattdessen soll das Individuum als autonomes und vernunftbegabtes Wesen diese Entscheidung eigenständig treffen. Mit der kopernikanischen Wende der Moderne wird die Religion entmachtet, und die Frage nach ultimativen Wahrheiten wird zur Privatsache. Religion wandelt sich von einer öffentlichen zu einer persönlichen Angelegenheit. Gleichzeitig entsteht dadurch auch Raum für totalitäre Regime wie den Nationalsozialismus und Kommunismus. Diese Entmachtung der Religion könnte das weitreichendste Erbe der Aufklärung in unserer Zeit sein.

Die Würde des Staates besteht „in der sittlichen Gemeinschaft“

Zu Beginn der Neuzeit entbrannte in Europa eine Debatte über die Existenz universaler Rechte. In der Schule von Salamanca in Spanien fand diese Diskussion im Zusammenhang mit der Behandlung der indigenen Völker Lateinamerikas statt. Bedeutende Vertreter dieser Schule waren der Dominikaner Francisco de Vitoria und der Jesuit Francisco Suárez. Zusammen mit anderen Gelehrten ihrerzeit entwickelten sie das Konzept des Naturrechts weiter, indem sie betonten, dass alle Menschen aufgrund ihrer gemeinsamen menschlichen Natur Anspruch auf Rechte besitzen. In diesem Zusammenhang erließ Papst Paul III. im Jahr 1537 die Bulle „Sublimis Deus“, die den Indigenen vor allem das Recht auf Freiheit und Eigentum zusprach und damit Sklaverei und willkürliche Gewalt verbot.

Pius XII., der Einfluss auf die Katholiken in der CDU und besonders auf Konrad Adenauer ausübte, sprach regelmäßig über das Thema Menschenrechte. Gott müsse als Ursprung und der Mensch als Herrschaftsanwender verstanden werden. Gleichzeitig sprach der Papst in seiner Weihnachtsansprache 1944 jedoch vom Menschen, „der, weit davon entfernt, ein passives Element des sozialen Lebens zu sein, sein Träger, Fundament und Zweck sein und bleiben soll“. Die mögliche Sprengkraft dieses Satzes, die den Menschen zum Rechtssubjekt im modernen Sinne macht und ihm damit autonome bzw. souveräne Züge gibt, wird jedoch durch andere Aussagen relativiert

Papst Pius XII.: „Die Würde des Menschen besteht in der Gottebenbildlichkeit, die Würde des Staates in der sittlichen Gemeinschaft, die Würde der politischen Autorität in der Teilnahme an der Autorität Gottes“

Der Papst sah, wie sein Sozialethiker Gustav Gundlach bereits ausführte, eine „absolute Seins- und Zielordnung“ gegeben, die auf Gott zurückgeht. 

„Da diese absolute Ordnung, wenn man sie im Lichte der Vernunft und vor allem des christlichen Glaubens betrachtet, keinen anderen Ursprung haben kann als einen persönlichen Gott, unseren Schöpfer, so ergibt sich daraus: die Würde des Menschen besteht in der Gottebenbildlichkeit, die Würde des Staates in der sittlichen, von Gott gewollten Gemeinschaft, die Würde der politischen Autorität in der Teilnahme an der Autorität Gottes.“ 

Noch weniger als jede andere Staatsform könne die Demokratie diese Verbindung auflösen. Eine Politik, die in ihrer Autorität nicht den Auftrag sehe, die von Gott gewollte Ordnung zu verwirklichen und bei der Selbstsucht vorherrsche, sei nur eine „formelle Demokratie“ und eigentlich „sehr wenig demokratisch“.

„Auch die bürgerliche Gesellschaft ist göttlichen Ursprungs“

Nur die klare Einsicht in die Ziele Gottes könne verantwortungsvolle Politik gewährleisten. Die Männer, die in einer Demokratie Macht ausübten, müssten „Männer von klarer und gesunder Lehre“ sein. Weiterhin richte sich „eine gesunde Demokratie“ an „den unveränderlichen Grundlagen des Naturgesetzes und der geoffenbarten Wahrheiten“ aus und wende sich gegen den Staatsabsolutismus. Ein wesentlicher Teil zur Errichtung der Demokratie werde der „Religion Christi und der Kirche zukommen“. Die Kirche verteidige die Wahrheit und gebe Gnadenkräfte, um die Ordnung des Seins und Sollens zu verwirklichen. Diese Ordnung sei die letzte Grundlage und Richtschnur jeder Demokratie.

Deutlich wird der Papst in einem Brief an US-Präsident Henry Truman von 1947: „Auch die bürgerliche Gesellschaft ist göttlichen Ursprungs und in der Natur selbst angelegt. Wenn der Staat einmal unter Ausschluss Gottes sich selber zur Quelle der Rechte der menschlichen Person gemacht hat, so ist der Mensch damit zu einem Sklaven oder zu einer rein bürgerlichen Ware herabgewürdigt, um für die selbstsüchtigen Zwecke einer Gruppe, die zufällig an der Macht ist, ausgebeutet zu werden. Die Ordnung Gottes ist umgekehrt.“

 

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Ernst-Wolfgang Böckenförde und der Verfassungsrechtler Josef Isensee haben in der Folgezeit wesentliche Beiträge zur Interpretation der Menschenrechte im deutschen Kontext geleistet. Böckenförde, Schüler Carl Schmitts und Katholik, vertrat eine liberale Auffassung des Verhältnisses von Staat und Religion. Seiner Ansicht nach müsse der Staat weltanschaulich neutral sein, könne aber nicht ohne ethische Grundlagen existieren. Menschenrechte sind für Böckenförde zwar von zentraler Bedeutung, doch sie allein reichten nicht aus, um die gesellschaftliche Integration sicherzustellen. Er warnte vor einer Überdehnung der Menschenrechte in Bereiche, die seiner Meinung nach die gesellschaftliche Solidarität gefährden könnten.

Isensee ging in seiner Interpretation der Menschenrechte von einem staatszentrierten Ansatz aus. Er betonte die Rolle des Staates als Garant und Schützer der Menschenrechte, lehnte aber eine zu starke Politisierung dieser Rechte ab. Isensee war der Auffassung, dass Menschenrechte im Kontext der jeweiligen gesellschaftlichen Ordnung interpretiert werden müssten. Während er die Bedeutung von Menschenrechten anerkannte, sah er in einer zu weitgehenden Ausdehnung der Rechte die Gefahr, dass die staatliche Ordnung und der gesellschaftliche Zusammenhalt untergraben werden könnten.

Das liberale Verständnis setzte sich durch

Bei der Entstehung des Grundgesetzes kämpften liberal-rechtspositive und naturrechtliche Konzeptionen miteinander, letztlich aber, wie Isensee bemerkte, setzte sich ein liberales Verständnis durch: 

„Das Grundgesetz selbst ist nicht Naturrecht, es ist positives Recht und unterliegt den Interpretationsregeln des positiven Rechts. Doch stellt sich die Frage, in welchem Maße christliche naturrechtliche Vorstellungen in das positive Recht einflossen und sich verfestigten. Hier wird man auf Differenzierungen stoßen. Das Grundgesetz ging bei der Ehe von der auf Dauer ausgelegten Gemeinschaft von Mann und Frau aus. Das hat das Bundesverfassungsgericht auch bestätigt, jedoch auch den Weg zur ‘Ehe für alle’ vorbereitet. Dazu hat das Gericht ein Wort im Artikel 6 des Grundgesetzes unterschlagen. Vom ‘besonderen Schutz’ der Ehe blieb nurmehr der ‘Schutz’ übrig. Denn wo ein ‘besonderer Schutz’ besteht, können sich nicht alle darauf berufen.“

Jedes gesetzte Recht ist positives Recht, was hier aber zählt sind die Grundlagen und Fundamente. Isensee macht deutlich, dass naturrechtliche Interpretationen des positiven Rechts nicht der alleingültige Maßstab sind, um das Recht auszulegen. Weil eine eindeutige naturrechtliche Absicherung fehlt, kann man sich nur auf das positive Recht beziehen und dieses letztlich liberal-rechtspositivistisch interpretieren und verändern. Die Schwäche des Rechtspositivismus ist, dass Recht hierbei willkürlich gefasst, verstanden und verändert werden kann, weil es keine normativen Vorgaben gibt, die auf überzeitlichen Ordnungsvorstellungen jenseits des verfassten Rechts beruhen.

Für das Ehebeispiel von Isensee heißt das, dass es keine feste Definition von Ehe gibt und man darunter alles und das Gegenteil verstehen kann. Bei der Religionsfreiheit bedeutet das, dass nicht nur die Noch-Mehrheitsreligionen des Christentums völlige Freiheit genießen, sondern jede Religion. Damit ist einer massiven Veränderung der Gesellschaft zum Beispiel durch den Islam keine Grenze gesetzt.

In Sachen Religion setzte sich das liberale Verständnis auch in der Kirche durch

Ein modernes Verständnis der Menschenrechte in Fragen der Religion hat sich mittlerweile auch in der katholischen Kirche durchgesetzt. Sie änderte ihre Position auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil mit der Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae“ (1965). In der Erklärung heißt es, dass das Recht auf Religionsfreiheit in der „Würde der menschlichen Person selbst gegründet“ sei. Damit nahm auch die katholische Kirche das liberale Denken der Aufklärung an. 

Durch die kirchliche Anerkennung der Religionsfreiheit als Prinzip änderte sich wenig in der Rechtspraxis der meisten Staaten. Viel entscheidender ist jedoch der Wandel im Denken und in der Perspektive, der langfristige Veränderungen bewirkt. Wenn die Person von der Kirche – und das ist etwas anderes, als wenn der Staat dies tut, der auch aus praktischen Gründen agiert – das Recht erhält, die Religion zu wählen, die sie für richtig hält, relativiert sich die Kirche. Das führt zu einem Mentalitätswandel in der katholischen Welt, der die Idee gebiert, in allen Dingen das Recht zu haben, das tun zu können, was die Person für richtig hält. Kann man dann noch objektive Maßstäbe für Sitte und Moral aufstellen? 

Selbst Max Horkheimer (1895–1973), Neomarxist und Vertreter der Frankfurter Schule, benannte diesen Zusammenhang: 

„Alle Versuche, die Moral anstatt durch den Hinblick auf ein Jenseits auf irdische Klugheit zu begründen – selbst Kant hat dieser Neigung nicht immer widerstanden –, beruhen auf harmonistischen Illusionen. Alles, was mit Moral zusammenhängt, geht letzten Endes auf Theologie zurück.“

Spätestens seit 1965 ist im Westen sowohl im Staat als auch in der Kirche die Würde der Person die zentrale Richtschnur und ersetzt alle Konzepte, die Rechte an eine objektive Wahrheit knüpfen. Wie die Geschichte zeigt, bleiben kopernikanische Wenden nicht statisch; die Souveränität der Person entwickelt sich weiter. Es geht nicht länger nur um die staatliche Ermöglichung von Freiheit, sondern zunehmend darum, dass der Staat mit Fürsorge und Finanzmitteln das Glück der Person herstellt. Damit wird  auch ein Anliegen aus der Nachkriegs-SPD aufgegriffen. Ebenso Teile der CDU erdachten im Ahlener Programm (1947) einen „christlichen Sozialismus“, in dem der Staat nicht nur Freiheit ermöglichen, sondern auch eine entsprechende Fürsorge zur Erfüllung des menschlichen Glücks leisten sollte.

Der Gegensatz zwischen Gut und Böse ist im Prinzip aufgehoben

Aktuelle Entwicklungen gehen noch weiter, weil sie gar keine äußeren Grenzen mehr anerkennen und die Bedürfnisse oder Gefühle der Person zur Richtschnur erheben. Diese gelten heute als die eigentlichen „Quellen des Selbst“, als Kern der Würde der Person. Der Mahnung aus der Bundestagsrede Benedikts XVI., „Auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muss und die er nicht beliebig manipulieren kann“, wird nicht mehr geglaubt. Das Böckenförde-Diktum, eine Warnung und Bestandsaufnahme, spricht vom großen Wagnis der Freiheit des liberalen Staates: 

„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert.“

Kann man sich auf die „moralische Substanz des Einzelnen“ verlassen, wenn es keine letztgültigen Prinzipien mehr gibt? Die „Homogenität der Gesellschaft“, das heißt ihre Einheitlichkeit und Gemeinsamkeit, zerbricht offenkundig seit vielen Jahren. Wie soll dieses Dilemma ohne eine naturrechtliche Verankerung der Menschenrechte gelöst werden? Wie soll verhindert werden, dass Menschenrechte durch eine zunehmende Polarisierung, Pluralisierung und Individualisierung der Gesellschaft willkürlich und ins Gegenteil verkehrt werden, wenn sie nicht auf einem objektiven Fundament ruhen?

Die liberale Tradition hat dazu geführt, dass Konzepte von der Natur des Menschen und dem Gewissen als Instanz im Bewusstsein für Gut und Böse keine Relevanz mehr haben. Unser Zeitalter ist zum Zeitalter des Gefühls geworden, das sich gegen alle objektiven Ansprüche verwahrt.

Die Menschenrechte müssen auf ein festes Fundament gestellt werden

Es wird mit Gefühlen, mit Selbstbestimmung und Identität argumentiert. Aus den Grundrechten der Person – wie etwa dem Recht auf freie Meinung, Freizügigkeit oder Eigentum – ist mittlerweile die Selbstermächtigung der Person geworden, selbst über das Geschlecht oder die sexuelle Identität zu bestimmen und gleichgestellt zu sein.

Um zu verhindern, dass Menschenrechte ins Absurde abgleiten, ist es notwendig, das Versäumte nachzuholen: eine klare, unveränderliche und inhaltlich präzise Definition dessen zu formulieren, was Menschenrechte sind. Dazu müssen sie auf ein festes Fundament gestellt werden. Was könnte dieses Fundament anderes sein als das Erbe des durch das Christentum gewordenen Europas? 

Wenn wir unsere Grundwerte losgelöst von unserer Tradition und Geschichte betrachten, folgt Revolution auf Revolution, und diese frisst, wie der Girondist Pierre Vergniaud in seinem letzten Ausspruch auf dem Schafott bemerkte, am Ende stets ihre eigenen Kinder. 

 

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