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Was ist Europa?

Erwirb es, um es zu besitzen

Was ist Europa? Kurioserweise stellt sich die Frage nach einer gemeinsamen europäischen Identität erst seit einigen wenigen Jahrzehnten. Denn spätestens seit den Karolingern war die Tatsache, dass alle Völker von Spanien bis Polen und von Norwegen bis Italien ganz selbstverständlich Teil eines gemeinsamen Kulturkreises waren, allgemein akzeptiert.

Und selbst noch in jenen Zeiten, die heutzutage in den Medien und Geschichtsbüchern rückblickend zum „dunklen Zeitalter“ des Nationalismus deklariert werden, also dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, war trotz unzähliger Erbfeindschaften, Ressentiments, Chauvinismen und Irredentismen doch immer noch klar gewesen, dass alle jene Völker zu einer einzigen Kultur gehörten, die sich fundamental von der indischen, chinesischen oder muslimischen Zivilisation unterschied: dem Abendland.

Paradox indessen ist: Nun, wo die abendländischen Nationen durch die europäischen Institutionen auch tatsächlich politisch zusammengewachsen sind, scheint die Frage nach dem, was sie im Innersten vereint, immer schwieriger zu beantworten; und der Verweis auf eine gemeinsame europäische Identität stößt bei immer mehr Menschen auf eine gewisse Skepsis, ja selbst Ablehnung. Nie ist es seit der Frühen Neuzeit gelungen, Europa auf gleichgewichtigere Art zu vereinen, aber nie schienen die europäischen Nationen ferner von dem Empfinden einer kulturellen Schicksalsgemeinschaft.

„Europäische Werte“ gegen das christliche Abendland

Wie konnte es dazu kommen, und wie können wir Europa definieren? Man wird sehen, dass die erste Frage bereits auch schon Antworten auf die zweite liefert.

Wieso im (angeblich) besten Europa aller Zeiten die Definition dessen, was „europäisch“ ist, zunehmend problematisch scheint, ist einfach zu beantworten. Die europäischen Institutionen gründen nicht (beziehungsweise nicht mehr) auf jenem tausendjährigen, durch Geschichte und Tradition gewachsenen Gemeinschaftsgefühl, das mit dem schönen Wort „christliches Abendland“ umschrieben wurde, sondern zunehmend auf den sogenannten „europäischen Werten“.

Diese dürfen jedoch trotz gelegentlicher terminologischer Kontinuitäten mit jenen Zielen, die bereits unzählige frühere Generationen bewegten („Menschenwürde“, „Freiheit“, „Gerechtigkeit“, „Rechtsstaatlichkeit“ etc.) , nicht als bloß aktualisierte Variante dessen verstanden werden, was schon seit jeher das Abendland ausmachte, sondern die „europäischen Werte“ sind zu relativistisch ausgehöhlten Leerstellen geworden.

Sollen Mehrheitsbeschlüsse die „universellen“ Werte bestimmen?

Früher lieferten die christlichen Wurzeln der abendländischen Identität wie selbstverständlich das ultimative metaphysische Fundament für die spezifisch europäische Sicht auf die beste Weise, unser gesellschaftliches Zusammenleben zu ordnen.

Heute allerdings hat der Wegfall jener transzendenten Wurzeln zwar bewirkt, dass in schon fast inflationärer Weise tagtäglich in Schulen, Medien, Arbeitsplatz und Politik eine Reihe beeindruckender Formeln beschworen wird. Gleichzeitig wird allerdings weithin die Überzeugung vertreten, dass jeder „absolute“ Wert an sich als „fundamentalistisch“ zu verneinen sei, da in einer „inklusiven“ und multikulturellen Gesellschaft die Rahmenbedingungen unserer Identität wie unserer Institutionen immer wieder neu „ausgehandelt“ werden müssten.

Europäisches Erbe in der Altstadt von Kaunas. Die zweitgrößte Stadt Litauens ist eine der drei Kulturhauptstädte Europas 2022

Was also genau mit jenen „universellen“ Werten gemeint ist, soll also rein relativistisch stets wechselnden Mehrheitsbeschlüssen unterworfen werden, was letzten Endes zur inneren Aushöhlung jener beliebig neu zu definierenden Werte geführt hat und ihre Instrumentalisierung und Manipulation durch verschiedenste politische Strömungen vereinfacht, ja eine solche sogar zur „Quintessenz“ der Demokratie stilisiert.

Den Menschenrechten mangelt es an Verankerung in der Tradition

Dass auf dieser Grundlage keine kontinentale Solidargemeinschaft errichtet werden kann, deren Ziel es ist, gerade in schlechten Zeiten an die Verpflichtungen gemeinsamer kultureller und somit auch politischer Identität zu appellieren, und dass das moderne, sowohl universalistische als auch relativistische Menschenrechtsdenken jenen älteren Begriff der abendländischen Schicksalsgemeinschaft geradezu verneint und somit auch Europa eher entzweit als stärkt, wird wohl jedem unvoreingenommenen Beobachter eingängig sein.

Damit ist keine Kritik der Menschenrechte impliziert, sondern vielmehr ihrer mangelnden Verankerung in transzendenten oder traditionellen Konstanten: Ein Gerechtigkeits-, Freiheits- oder Rechtsbegriff, der letztlich nur auf dem Gedanken des „Aushandelns“ beruht, wird früher oder später zur beliebigen Leerstelle – und zur Sollbruchstelle in Krisenzeiten, sobald es nicht mehr gilt, den Aufschwung zu verwalten, sondern Wohlstandseinbußen zu verteilen.

Freilich: Jene Einsicht in eine gemeinsame kulturelle Identität schützte Europa auch in früheren Jahrhunderten nicht gegen innere Konflikte – wenn diese auch vor allem der konfessionellen Spaltung und dem nationalstaatlichen Imperialismus geschuldet waren und vor 1500 doch nur recht beschränkte Dimensionen aufwiesen.

Nach dem Traditionsabbruch scheint nur noch das Nationale der Bezugspunkt für Identität

Ohne sie wäre aber die heroische Verteidigung des Abendlands gegen die zahlreichen Invasionsversuche aus dem Ost wie dem Süden unmöglich gewesen; ganz zu schweigen von der unglaublichen inneren Blüte unserer Kultur, die ohne den enthusiastischen Austausch von Glauben, Wissen und Kunst über alle Ländergrenzen hinweg unmöglich gewesen wäre.

Esch an der Alzette ist die kleinste der drei Kulturhauptstädte Europas 2022. Nach dem Strukturwandel von der Kohle ins digitale Zeitalter musste sich die einstige luxemburgische Industriemetropole neu erfinden – dazu das Leitmotiv „Remix Culture“

Wo aber stehen wir heute? Inmitten eines vereinten Europas werden von den Bürgern leider zunehmend nur noch nationale Identitäten als im Alltag erkennbare identitäre Bezugspunkte fassbar, während die übergeordnete europäische Identität sich zusammen mit den letzten Resten christlichen Glaubens und abendländischer Tradition verflüchtigt hat beziehungsweise durch die ideologische Kampfansage durch die real existierenden europäischen Institutionen bewusst diskreditiert wird.

Faustisches Streben in kultureller Gemeinschaft

Hieraus folgt aber auch, was Europa tatsächlich ist – und was die Gründerväter der europäischen Gemeinschaften durchaus noch wussten: eine kulturelle Gemeinschaft. Diese teilte nicht nur die jüdischen, griechischen, römischen und christlichen Wurzeln miteinander und pflegte diese in exemplarischer Weise, sondern setzte diese auch in unverwechselbarer Weise in die Realität um.

Für die seelische Modalität dieser Umsetzung aber wurde in der Forschung oft genug der Begriff des „faustischen“ Strebens benutzt, um den dem Abendländer inhärenten Drang nach beständigem Überschreiten aller Grenzen zu charakterisieren.

Ein im Guten wie im Bösen unbändiger Drang, der im Mittelalter wesentlich durch eine geistliche und ästhetische Sinnsuche zum Ausdruck kam und dann seit der Frühen Neuzeit auf eher materielle und technologische Aspekte übertragen wurde.

Aus der Rettung der Seele wurde die Klimarettung

So steckt immer noch viel Heilsgeschichte im Fortschrittsglauben; der Priester ist oft genug durch den Experten ersetzt worden; der faustische Drang baut keine himmelstürmenden Kathedralen, sondern Hochhäuser; die Rettung der Seele wurde von der Rettung der Umwelt abgelöst; der Drang zur Bekehrung des Ungläubigen ist zum Bemühen um die Ausbreitung der Menschenrechte gewordendie Erbsünde wurde durch eine negative Anthropologie verdrängt; und selbst in den globalistischen Bestrebungen der Gegenwart steckt immer noch ein Gutteil jener Energien, die ursprünglich die innere Stärke des universalen Sacrum Imperium ausmachten.

Ein einziger Gang durch einige beliebige europäische Hauptstädte und Museen sollte ausreichen, einem jeden Europäer zwingend vor Augen zu führen, dass er mit seinen Nachbarn erheblich mehr teilt als mit Menschen außereuropäischer Kulturkreise: Wie Ortega y Gasset einmal formulierte, sind zwei Drittel dessen, was uns spontan als „nationale“ Charakteristik gelten mag, faktisch gesamteuropäischer Natur.

Über regionalen Spezifika ein gemeinsamer Himmel

Ob es sich nun um Madrid, Paris, Rom, Berlin, Prag oder Warschau handelt – überall sieht man trotz regionaler und nationaler Spezifika nicht nur genau dieselben kunst-, geistes- und politikgeschichtlichen Strömungen, sondern oft genug sogar dieselben Künstler, Denker und Herrscher beziehungsweise ihre Verwandten und Schüler am Werk: Europa ist spätestens seit der Karolingerzeit eine einzige große Familie.

Blick auf Novi Sad (Neusatz) mit der neogotischen Kirche Maria Namen. Die heutige Hauptstadt der serbischen Provinz Vojvodina geht auf den Bau eines Zisterzienserklosters zurück und teilt sich den Titel Kulturhauptstadt 2022 mit Kaunas und Esch

Leider hat sich diese Einsicht unter dem linksliberalen ideologischen Druck von Schulen, Medien und selbst politischen Institutionen in den letzten Jahrzehnten ebenso verflüchtigt wie die Allgemeinbildung, die, christlich durchwebt, diese Einsicht viele Jahrhunderte lang garantierte.

Heute müsste daher erst einmal eine komplette neue Generation dazu erzogen werden, um jene jahrhundertealte Identität wieder als eine solche zu erkennen und das Abendland in seinen Höhen wie Tiefen zu verstehen, anstatt die verschiedenen Züge jener Identität bloß als nationalstaatliche Charakteristiken oder gar gesamtmenschliche Anlagen zu missdeuten.

Gemeinsame Identität erst wieder bewusst machen

Daraus folgt aber auch für die konservativen Kräfte unseres 21. Jahrhunderts, dass es eben nicht die naive Rückkehr zum Nationalstaat sein kann, welche unsere gegenwärtigen identitären Probleme zu lösen imstande ist, sondern nur eine erneute Bewusstwerdung unserer geteilten christlich-abendländischen Identität – denn ohne jene Solidarität muss Europa angesichts des Migrationsdrangs aus Afrika, der Konkurrenz aus China, des Expansionismus Russlands oder der Hegemonie der USA erneut in viele Dutzend rivalisierende Kleinstaaten zerfallen.

Ohne das, was ich einmal „Hesperialismus“ genannt habe, also einen gesamteuropäischen kulturkonservativen Patriotismus, welcher der gegenwärtigen Ideologie der EU fundamental entgegengesetzt ist, wird nicht nur unser Kontinent, sondern auch jeder einzelne Nationalstaat zum Scheitern oder zur politischen Belanglosigkeit verdammt sein. Wollen wir das im Ernst?

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