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Kolumne „Der Schweizer Blick“

Die Angst vor dem eigenen Volk

Es mag eine urbane Legende sein. Vielleicht ist es auch genau so geschehen. Vielsagend ist es auf jeden Fall.

Die Rede ist von einem deutschen Bürgermeister, der sich einst mit einigen Amtskollegen aus der Schweiz ausgetauscht haben soll. Bald kamen sie auf die Unterschiede des politischen Systems zu sprechen. Die Schweizer Delegation schwärmte von der direkten Demokratie, von der umfassenden Mitsprache des Volks von der kommunalen bis zur nationalen Ebene.

Das deutsche Gemeindeoberhaupt soll zunächst staunend zugehört und dann schliesslich sinngemäss erwidert haben: „Ihr lasst eure Bürger über die Höhe der Steuern abstimmen? Wenn ich das bei mir machen würde, läge der Steuersatz danach bei Null!“

Der Mann hat offenbar keine hohe Meinung von seinen Bürgern. Mit Sicherheit misstraut er aber den wesentlichen Zügen einer Demokratie. Er ist überzeugt: Gib den Leuten eine Chance, sich Vorteile zu ergattern, und sie ergreifen sie – ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Weniger diplomatisch ausgedrückt: Er fürchtet sich vor der Mitbestimmung seiner „Untertanen“. Ein kleiner Sonnenkönig gewissermaßen.

Was darf man Bürgern zutrauen?

Als Schweizer, notabene aus dem Dreiländereck und damit dem nahen Ausland auch kulturell verbunden, staune ich über diese Einschätzung. Natürlich ist die direkte Demokratie, wie wir sie hierzulande pflegen, nicht einfach über Nacht funktionsfähig implementierbar. Dahinter steckt ein Lern- und Erfahrungsprozess. Aber Deutschland hat beste Voraussetzungen dafür. Das Land ist ja keine Diktatur (auch wenn es in den letzten drei Jahren sanfte Anzeichen in diese Richtung gab), und die Demokratie ist den Deutschen kein unbekanntes Konzept. Sie wird einfach sehr zurückhaltend gelebt.

Komplex ist es jedenfalls nicht, die Demokratie auszubauen. Wer in der Schweiz Zeit, Lust und Geld hat, kann jederzeit an der Verfassung schrauben oder neue Gesetze installieren beziehungsweise verhindern. Dazu braucht es lediglich eine Volksinitiative und 100.000 Leute, die diese mit ihrer Unterschrift unterstützen. Und schon werden wir zur Urne gerufen, auf nationaler Ebene vier Mal pro Jahr.

Öffnet man damit die Tür zum Missbrauch politischer Rechte zum eigenen Vorteil? Das lässt sich leicht überprüfen. In der jüngeren Vergangenheit gab es zahllose Verlockungen für uns Schweizer. So wurde uns einmal vorgeschlagen, sechs Wochen Urlaub pro Jahr für alle einzuführen. In der Regel sind es vier bis fünf. Eine Mehrheit der Stimmberechtigten ist Arbeitnehmer und mag arbeitsfreie Zeit durchaus. Und dennoch: 66,5 Prozent sagten Nein zur Initiative „6 Wochen Ferien für alle“. Zwei Drittel, von denen der größte Teil selbst profitiert hätte.

Regelmässig scheitern auch Versuche von linker Seite, auf die sogenannten „Superreichen“ loszugehen. Zu diesen – und hier zerstöre ich das Klischee, das im Ausland vorherrscht – gehört nur ein minimaler Teil der Schweizer. Meist steckt dahinter der Wunsch, diese Leute zugunsten der Staatskasse auszunehmen.

Die „99%-Initiative“ der Jungsozialisten beispielsweise forderte, Kapitaleinkommen ab einer bestimmten Grenze deutlich höher zu besteuern als Arbeitseinkommen. Von diesem Geld sollten Sozialleistungen ausgebaut und die Einkommensteuern in den tiefen und mittleren Lagern gesenkt werden. Rund 65 Prozent der Urnengänger sagten Nein dazu. Obschon der größte Teil von ihnen nicht betroffen gewesen wäre.

Abstimmen gegen den eigenen „Vorteil“

Die Urheber solcher sozialromantischen Vorschläge sind immer völlig fassungslos über die Ablehnung. Warum bitte setzt sich der Mittelstand für Leute mit Milliarden auf dem Konto ein? Warum lehnen Arbeitnehmer eine zusätzliche Ferienwoche ab? Warum – um auf den deutschen Bürgermeister zurückzukommen – segnen kommunale Bürgerversammlungen Steuererhöhungen ab, die sie im Folgejahr in der eigenen Brieftasche zu spüren bekommen?

Wer darüber staunt, traut den Leuten zu wenig zu. Wir sprechen hier von Erwachsenen, nicht von Kleinkindern, die etwas einfach unbedingt haben wollen, ohne sich Gedanken über die Folgen zu machen. Der ganz normale Bürger macht sich durchaus Gedanken darüber, was mit seinem Steuergeld geschieht. Und er weiß: „There ain’t no such thing as a free lunch.“

Selbstverständlich kann man Vermögende plündern, sich selbst mehr Urlaubswochen gönnen und die Steuern abschaffen. Aber was kommt danach? Wer finanziert den Staat, wenn auch der letzte Unternehmer die Flucht ergriffen hat? Wer bezahlt die Zeche, wenn der Bäcker von nebenan die Preise erhöht, weil sein Personal plötzlich viel öfter fehlt?

Die Antwort auf solche Fragen ist keine Raketenwissenschaft und erfordert auch kein Studium der Betriebswirtschaft. Deshalb wird in der Schweiz nicht einfach reflexartig zu allem Ja gesagt, das zunächst gut klingt für die eigene Brieftasche oder den persönlichen Komfort. Denn wir wissen: Das dicke Ende kommt noch, und wenn wir uns heute etwas gönnen, blechen wir morgen oder spätestens übermorgen dafür.

Das nennt man Eigenverantwortung im Sinne des großen Ganzen. Und diese traue ich auch unseren nördlichen Nachbarn zu. Sehr viel mehr übrigens als den meisten Berufspolitikern.

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Helene Dornfeld
Vor 9 Monate 3 Wochen

"..die Demokratie ist den Deutschen kein unbekanntes Konzept. Sie wird einfach sehr zurückhaltend gelebt."
Charmant!
Tatsächlich wurde z.B. das Ansinnen eines Volksbegehrens (in HH und Ba-Wü) gegen das Gendern in Amtssprachen etc. von den regierungstreuen deutschen Leitmedien bereits im Vorfeld als homophob verworfen. Der Obrigkeitsstaat steckt halt in den Knochen, auch wenn er neuerdings grünrote Vorzeichen hat. Aber schau'n mer mal, wie sich die Sache entwickelt, und ob man nicht auch in Deutschland in die Puschen kommt.
Einstweilen trägt Wikipedia in aller Absichtslosigkeit immerhin zur Verbreitung des Unsinns bei, nach dessen Lektüre es hoffentlich manchen zur Volksabstimmung treibt :
Was sagt man statt Mutter?
Statt „Mutter“ soll man in Zukunft „austragendes Elternteil“ sagen, der Vater heißt „nicht-gebärendes Elternteil“. Das diskriminierende Wort „Muttermilch“ könnte etwa durch „menschliche Milch“ ersetzt werden.27.02.2021

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Helene Dornfeld
Vor 9 Monate 3 Wochen

"..die Demokratie ist den Deutschen kein unbekanntes Konzept. Sie wird einfach sehr zurückhaltend gelebt."
Charmant!
Tatsächlich wurde z.B. das Ansinnen eines Volksbegehrens (in HH und Ba-Wü) gegen das Gendern in Amtssprachen etc. von den regierungstreuen deutschen Leitmedien bereits im Vorfeld als homophob verworfen. Der Obrigkeitsstaat steckt halt in den Knochen, auch wenn er neuerdings grünrote Vorzeichen hat. Aber schau'n mer mal, wie sich die Sache entwickelt, und ob man nicht auch in Deutschland in die Puschen kommt.
Einstweilen trägt Wikipedia in aller Absichtslosigkeit immerhin zur Verbreitung des Unsinns bei, nach dessen Lektüre es hoffentlich manchen zur Volksabstimmung treibt :
Was sagt man statt Mutter?
Statt „Mutter“ soll man in Zukunft „austragendes Elternteil“ sagen, der Vater heißt „nicht-gebärendes Elternteil“. Das diskriminierende Wort „Muttermilch“ könnte etwa durch „menschliche Milch“ ersetzt werden.27.02.2021