Staat Nimmersatt
Der Staat wächst. Dies ist ein Phänomen, das Ökonomen in vielen Ländern beobachten – zumindest dann, wenn sie lange Zeitreihen betrachten. In Daten des Bundesfinanzministeriums finden wir für Deutschland im Jahr 1960 eine Staatsquote von 32,9 Prozent. Dies bedeutet, dass knapp ein Drittel des Bruttoinlandproduktes (BIP) durch öffentliche Budgets geflossen ist. Oder anders gesagt: Für knapp ein Drittel der 1960 in der gesamten Volkswirtschaft generierten Einkommen entschied der Staat darüber, wie diese verwendet werden sollten.
Es folgte ein kontinuierlicher Anstieg der Staatsquote in Deutschland. Bereits in der Mitte der 1980er wurden 45,2 Prozent erreicht. Der hohe Aufholbedarf etwa bei Infrastrukturinvestitionen in den fünf neuen Bundesländern, aber auch bei der Finanzierung von Sozialausgaben infolge der Deutschen Einheit führte 1995 zum bisher höchsten in Deutschland gemessenen Wert von 55,1 Prozent. Anschließend sank die Staatsquote und stabilisierte sich in den 2010ern bei Werten um 44 Prozent, bevor die hohen Ausgabenbedarfe der Corona-Krise 2020 und 2021 wieder zu Quoten knapp über 50 Prozent führten.
Man muss hier unterschiedliche Dinge auseinanderhalten. Es gibt immer wieder einmal kurz- und mittelfristige Sondersituationen wie Konjunkturkrisen, Pandemien oder andere Katastrophen, die gleichzeitig das BIP senken und dem Staat eine Rolle als Nothelfer zukommen lassen. Das treibt die Staatsquote für einige Jahre in die Höhe, bevor sie sich wieder mehr oder weniger normalisiert.
Aber es gibt andererseits auch den langen, säkularen Trend über Jahrzehnte steigender Staatsausgaben. Für länger zurückliegende Zeiträume ist die Datenbasis weniger verlässlich, aber für 1900 schätzen Wirtschaftshistoriker die deutsche Staatsquote auf nur etwa 10 bis 15 Prozent.
Wer Wahlen gewinnen will, wird Rentenausgaben ausweiten
Wie können wir das langfristige Wachstum erklären? Die ökonomische Theorie öffentlicher Finanzen kann eine ganze Reihe von verschiedenen Erklärungsansätzen anbieten, die sich teilweise nicht widersprechen, sondern ergänzen und jeweils unterschiedliche Aspekte des Phänomens betonen. Die Tatsache, dass Sozialausgaben steigen, kann beispielsweise damit erklärt werden, dass die entscheidenden Wählergruppen in der Einkommensverteilung tendenziell nach unten gewandert sind.
Dies passierte zunächst durch politische Reformen wie die Ausweitung des Wahlrechts. Heute hat die Alterung der Gesellschaft einen ähnlichen Effekt. Die Wählergruppen, die bereits im Ruhestand sind oder deren Ruhestand nahe ist, werden immer größer. Wer Wahlen gewinnen will, sollte daher Renten oder Krankenversicherungsleistungen eher ausweiten als kürzen. Belastet werden vor allem die arbeitenden Mittelschichten.
Ein besonders interessanter Aspekt des Staatsausgabenwachstums ist aber die immer dicker werdende Personaldecke im öffentlichen Sektor. Greifbar wird dieser Trend in aktuellen Plänen für einen Ausbau des Kanzleramts in Berlin, der rund 400 neue Büros schaffen und deutlich über 600 Millionen Euro kosten soll. Das Kanzleramt würde damit größer als Downing Street und sogar als das Weiße Haus.
Die Zahl der Regierungsbeschäftigten wächst und wächst
Der Büroraum könnte angesichts der Pläne für weiteren Stellenaufwuchs in der Bundesregierung dennoch knapp bleiben. Für die Bundesregierung allein ist in der aktuellen Haushaltsplanung ein Nettoaufwuchs von 700 Stellen vorgesehen. Diese kommen zu rund 5.000 neuen Stellen hinzu, die bereits seit 2015 neu geschaffen wurden. Ähnliche Entwicklungen sind bei den meisten Landesregierungen zu beobachten, und auch in Bundesbehörden nimmt die Zahl der Stellen im Trend zu.
Diese Entwicklung ist auf den ersten Blick überraschend. Man könnte schließlich erwarten, dass der technische Fortschritt auch die Verwaltung effizienter und die Beamten produktiver macht, so dass man vielleicht sogar mit weniger Personal regieren könnte. Dass dies nicht so ist, hat aber bereits der Ökonom William J. Baumol in den 1960ern prognostiziert.
Er hielt die möglichen Produktivitätsgewinne im öffentlichen Sektor für wesentlich geringer als im Privatsektor, da im Staat Aufgaben dominieren, die nur schwer zu automatisieren sind. Arbeit ist hier nur schwierig durch Maschinen zu ersetzen. Das gilt etwa für Aufgaben in der Pflege oder der Bildung, aber eben auch für viele Verwaltungsaufgaben, bei denen es auf menschliche Urteilskraft und Problemlösungsfähigkeit ankommt.
Wenn die Schiffe weniger, die Bürokraten in der Admiralität aber mehr werden
Damit erklärt Baumol allerdings vor allem, wieso die Verwaltung nicht schrumpft. Wieso wächst sie aber? Cyril Northcote Parkinson, ein britischer Historiker, postulierte 1955 das Parkinsonsche Gesetz, nach dem jede bürokratische Organisation mit einer mehr oder weniger konstanten Rate wächst, unabhängig davon, ob die zu erledigende Arbeit ebenfalls zunimmt.
Er illustrierte dies neben anderen Beispielen anhand der britischen Admiralität: In der Zeit zwischen 1914 und 1928 nahm im Vereinigten Königreich die Zahl der Kriegsschiffe um zwei Drittel ab und die Zahl der Matrosen und Offiziere zur See um knapp ein Drittel. Die Zahl der Bürokraten in der Admiralität nahm dagegen um fast 80 Prozent zu.
Lässt man Politiker und leitende Bürokraten solche Entwicklungen kommentieren, dann werden diese in der Regel auf die steigende Komplexität und Vielfalt von Aufgaben verweisen. Im Bundeswirtschaftsministerium werden derzeit beispielsweise zahlreiche Stellen neu geschaffen, die die Transformation der deutschen Volkswirtschaft zur Klimaneutralität steuern sollen.
Jedoch findet man bereits jetzt im Organigramm des Ministeriums Abteilungen und Referate, die sich mit allen Themen beschäftigen, die zu dieser Transformation beitragen: Klimaschutz, Wasserstoff, Rohstoffmärkte, Mobilität und vieles mehr.
Bürokraten schaffen sich ihre Aufgaben selbst
Hinzu kommt, dass Bundesregierungen neben dem Stellenaufwuchs seit längerer Zeit auch erhebliche Summen für externe Beratung aufwenden. So wurde im Juni bekannt, dass die Ampelregierung allein in ihrem ersten Halbjahr rund 270 Millionen Euro für externe Beratungsaufträge aufgewandt hat. Dass die zumindest zahlenmäßig permanent wachsende interne Expertise nicht ausreicht, könnte daran liegen, dass externe Beratung noch einmal andere Funktionen hat als nur die Bereitstellung von Wissen.
So kann externe, neutrale Expertise helfen, unpopulären Entscheidungen zusätzliche Legitimität zu verschaffen. Und Beratungsaufträge können auch dazu dienen, scheinbar unabhängige politische Vorfeldorganisationen zu finanzieren, die als Nichtregierungsorganisationen helfen, die Öffentlichkeit im Sinne der mit ihnen lose verbundenen Parteien zu informieren.
Ganz ähnlich geht es auch beim internen Stellenaufwuchs nicht nur einfach darum, Expertise in Ministerien und Behörden zu sammeln. Der bereits erwähnte Historiker Parkinson argumentierte, dass Bürokraten die Zahl der ihnen Untergebenen vermehren wollen und dass eine Bürokratie stets in der Lage sein wird, Aufgaben für sich selbst zu definieren, die die eigenen Kapazitäten auslasten. Ganz ähnlich argumentierte der Ökonom William A. Niskanen, der eine der ersten ökonomischen Bürokratietheorien formulierte.
Es geht um Macht und Einfluss
Da Bürokraten nicht wie Unternehmer einen Gewinn maximieren und ausschütten können, müssen sie sich andere Zielgrößen suchen. Aus Sicht der Bürger mag der ideale Bürokrat zwar durch den Willen zur effizienten Pflichterfüllung charakterisiert sein. Tatsächlich geht es ihm aber eher darum, Macht und Einfluss zu maximieren.
Beides hängt vom Umfang des Budgets und der Anzahl der Mitarbeiter ab, über die er verfügt. Ein Referatsleiter oder eine Abteilungsleiterin in einer Behörde oder einem Ministerium wird also typischerweise darauf aus sein, beide Zielgrößen wachsen zu sehen.
Die Aufgabe der Politik wäre es eigentlich, diesen Expansionsdrang zu kontrollieren. Wenn aber eine Regierung das Ende einer Legislaturperiode erreicht und ihr die Abwahl droht, dann hat sie ein großes Interesse daran, noch einmal möglichst viele ihr ideologisch nahestehende Personen auf einflussreichen, verbeamteten Stellen zu versorgen. Und wenn eine neue Regierung gewählt ist, dann hat diese ihrerseits ein Interesse daran, neue und politisch möglichst gleichgesinnte Beamte in den Ministerien und Behörden zu sehen.
Was zu tun wäre
Theoretisch wird diesem Problem zwar mit der Unterscheidung von regulären und politischen Beamten begegnet. Die politischen Beamten, die in den Ministerien die Führungsebene aus Staatssekretären und Ministerialdirektoren umfassen, können jederzeit in den einstweiligen Ruhestand versetzt und durch politisch loyales Personal ersetzt werden. Die übrigen Beamten sollen dagegen einen dauerhaften, verlässlichen Bestand von Wissen bereitstellen und für Kontinuität in der Exekutive sorgen.
Tatsächlich aber führt die oben skizzierte Anreizstruktur dazu, dass reguläre Beamte zwar bei einem Regierungswechsel nicht in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden, aber immer wieder neue Beamtenstellen geschaffen werden, auch um politisch genehme Personen zu versorgen. Die Politik, die den Expansionsdrang der Bürokratie kontrollieren sollte, spricht sich stattdessen mit dieser ab und sorgt aus ihrem Eigeninteresse heraus für stetig wachsende Budgets.
An der Wahlurne wird dieses Verhalten kaum bestraft. Dazu ist es verglichen mit anderen Themen zu unwichtig. Und vor allem: Alle Parteien verhalten sich hier ähnlich. Ein Ausweg wäre möglicherweise ein System wie in den USA, wo nach einem Regierungswechsel nicht nur die schmale Führungsebene, sondern das gesamte Personal zur Disposition steht.
Dies reduziert zumindest den politischen Anreiz, am Ende einer Legislaturperiode noch neue Stellen zu schaffen. Es reduziert aber nicht unbedingt den Anreiz, nach Regierungsübernahme für möglichst viele loyale Personen neue Stellen zu schaffen.
Es gibt also kein Patentrezept zur Lösung des Problems. Zunächst einmal sollten politische Aufmerksamkeit und Transparenz dafür sorgen, dass der stetige Stellenaufwuchs kritisch diskutiert und seine tatsächliche Notwendigkeit öffentlich überprüft wird.
Vielen Dank für diesen gut verständlichen Artikel!
Die Finanzpolitik eines Staates hat oberstes PRIMAT.
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