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Kolumne „Der Schweizer Blick“

Die Entzauberung eines Landes

Alle vier Jahre ein Kreuzchen machen bei einer bestimmten Partei: Für mich hat das wenig mit Demokratie zu tun. Meine Nachbarn in Deutschland waren dennoch immer überzeugt, dass das ausreicht. Sie befanden die direkte Mitbestimmung durch das Volk, wie es sie in der Schweiz gibt, als zu weitreichend. Dauernd über konkrete Sachverhalte abstimmen – ergibt das Sinn?

Heute ist klar: Die Zweifel sind berechtigt. Die Schweiz ist in keiner Weise besser als Deutschland. Aber nicht, weil die direkte Demokratie der falsche Weg ist. Sondern weil sie sich unterlaufen lässt. Die direkte Demokratie, wie wir sie in der Schweiz pflegen, ist reine Theorie. Und ich kann sie nicht mehr mit gutem Gewissen weiterempfehlen.

Vor rund einer Woche wurde bekannt, dass ein Bundesrat – vergleichbar mit einem Bundesminister in Deutschland – direkten Einfluss nahm auf eine der auflagenstärksten Zeitungen. Was strafrechtliche Aspekte wie die Verletzung des Amtsgeheimnisses angeht, gilt die Unschuldsvermutung. Aber die politische Dimension der Ereignisse ist unstrittig. Der Sprecher von Innenminister Alain Berset von den Sozialdemokraten fütterte einen reichweitenstarken Verlag mit Vorabinformationen, die als Vorlage für fette Schlagzeilen dienten.

Im Gegenzug publizierte die Zeitung das, was dem Regierungsmitglied nützte. Auf diese Weise wurde die breite Bevölkerung auf den offiziellen Kurs der Schweizer Bundesregierung in Sachen Corona-Politik eingeschworen.

Ein Geben und Nehmen zwischen Politik und Medien

Was auch immer die Strafuntersuchung ergibt: Die Fakten sind unübersehbar. Aus dem direkten Dunstkreis des Bundesrats, der für die Bewältigung der Corona-Situation verantwortlich war, drangen Woche für Woche Indiskretionen an eine Zeitung, die diese in exklusive Schlagzeilen verwandelte und gleichzeitig alles dafür tat, die offizielle Politik bei der breiten Bevölkerung zu verankern. Es war ein Geben und Nehmen.

Was bedeutet: Die direkte Demokratie, auf die die Schweiz so stolz ist, wurde unterwandert durch eine unheilige Allianz zwischen Politik und Medien. Damit wissen wir nun: Es gab nie eine freie Meinungsbildung vor einer Volksabstimmung. Im Verbund mit einem großen Medienhaus wurde dafür gesorgt, dass nur eine Meinung zum Zug kam: die des Staates.

Das wird außerhalb der Schweizer Grenzen kaum zur Kenntnis genommen. Aber für uns ist es ein handfester Skandal. Die direkte Demokratie wird so zu einer Farce. Man kann sie unterlaufen – wenn man einen Verlag mit großer Reichweite findet, der bereit ist, mitzuspielen.

Vom Staat beeinflusste Meinungsbildung

Die Schweiz war weltweit das einzige Land, in dem die Bevölkerung über die Fortführung der Maßnahmen gegen Covid-19 abstimmen durfte. Zwei Mal sagte eine Mehrheit deutlich: Ja, wir sind dabei. Das galt allgemein als Legitimation der Maßnahmen gegen das Virus. In Tateinheit zur Unterlaufung von Grund- und Freiheitsrechten. Aber das geschah nicht auf der Grundlage einer unabhängigen Meinungsbildung. Wir wurden dabei geführt von großen Schlagzeilen, die orchestriert waren von engen Kreisen um die Regierung.

Das bedeutet: Die direkte Demokratie in der Schweiz wurde entzaubert. Ja, wir können vier Mal pro Jahr sagen, was wir finden. Aber wenn die Meinungsbildung auf dem Weg dorthin vom Staat beeinflusst wird, könnten wir uns das auch sparen.

Man kann das als internes Problem eines Landes interpretieren. Aber es ist mehr als das. Die Schweiz gilt vielen Staaten als Vorzeigemodell. Die Bevölkerung als oberstes Organ, die Möglichkeit der direkten Mitwirkung: das ist verführerisch.

Wir sind eine staatlich gelenkte direkte Demokratie

Nun wissen wir aber: Wir sind eine staatlich gelenkte direkte Demokratie. Man lässt uns „frei“ abstimmen, aber erst, nachdem wir von dem Staat wohlfeilen Medien in die „richtige“ Richtung gelenkt wurden.

Da findet man das Kreuzchen alle vier Jahre plötzlich gar nicht mehr so schlecht. Deutschland, mach einfach weiter wie bisher. Die Schweiz ist leider kein Vorbild. Wir melden uns wieder, wenn wir eines sind.

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