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SPD und Labour in der Krise

Das Ende der Sozialdemokratie

Im Rückblick waren die fünf Jahrzehnte zwischen 1950 und der Jahrtausendwende ein goldenes Zeitalter der Demokratie in Europa. Nach dem Sieg über Nationalsozialismus und Faschismus gelang es nicht nur, die Kernländer dieser Diktaturen, Deutschland und Italien, zu demokratisieren und zu liberalisieren. Mit der Zeit verschwanden auch die letzten autoritären Regime in Westeuropa, in Portugal und Spanien, und auch die vorübergehende Diktatur der Obristen in Griechenland konnte überwunden werden.

Die eigentliche Stunde des Triumphes kam, als die spätleninistische Zwangsherrschaft der UdSSR in Ostmitteleuropa 1989 kollabierte. An diesem Siegeszug der Demokratie hatten die sozialdemokratischen Parteien Europas sicher einen großen Anteil. Sie integrierten die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter und hielten die radikale kommunistische Linke in Schach, jedenfalls in Ländern wie Deutschland und Großbritannien. Weniger gut gelang dies der Mitte-links-Partei der Sozialisten in Frankreich, wo die Kommunisten vor 1989 ein wichtiger Machtfaktor blieben, was in etwas anderer Form auch für Italien galt.

Pragmatische, wirtschaftsnahe Politiker ohne sozialistische Visionen

Zwar drangen die sozialdemokratischen Parteien lange Zeit fast überall auf einen immer weiteren Ausbau des Sozialstaates, der sich im Rückblick oft als überzogen erwies, aber die meisten dieser Parteien besaßen immer auch einen moderaten Flügel, der kompetente, pragmatische Politiker von Format hervorbrachte.

Männer, die durchaus bereit waren, auf die Bedürfnisse der Wirtschaft Rücksicht zu nehmen, und die sich dabei nicht von sozialistischen Visionen oder Utopien leiten ließen. In Deutschland verkörperten die Kanzler Helmut Schmidt und Gerhard Schröder diesen Typus, in Großbritannien Tony Blair, aber bis zu einem gewissen Grade auch noch sein Nachfolger Gordon Brown.

Die nötige Neupositionierung der sozialdemokratischen Parteien

Sowohl Blair als auch Schröder zahlten für ihre eher wirtschaftsnahe Politik jedoch einen hohen Preis. Der harte Kern der Anhänger ihrer Parteien hatte das Gefühl, dass diese Regierungschefs die Ideale der eigenen Partei verraten hatten. In Großbritannien führte das dazu, dass der Linksaußenpolitiker Jeremy Corbyn 2015 zeitweilig die Labour Party übernahm, der heute seine alte Partei von außen zu zerstören versucht, während in Deutschland der SPD in Gestalt der Linkspartei eine gefährliche Konkurrenz im eigenen Lager erwuchs.

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Diese Problematik deutete sich namentlich in Deutschland schon vor 20 Jahren an, heute hat sie sich aber deutlich zugespitzt. Zum einen ist die Kernwählerschaft der alten sozialdemokratischen Parteien, die gewerkschaftlich organisierte Industriearbeiterschaft, deutlich geschrumpft, zum anderen befinden sich viele europäische Länder entweder auf dem Weg in einen dauerhaften wirtschaftlichen Niedergang oder verharren zumindest im Zustand der ökonomischen Stagnation.

Die Wirtschaftsleistung reicht daher nicht mehr, um einen durch die Überalterung der Gesellschaft immer stärker beanspruchten Sozialstaat auf Dauer zu finanzieren. Infolgedessen nehmen die Verteilungskonflikte massiv zu. Wie sollen sich sozialdemokratische Parteien in dieser Lage positionieren?

Rückkehr in sozialistische Träume der Vergangenheit

Für die radikale Linke ist das alles ganz einfach: Man kehrt zurück zu den sozialistischen Träumen der Vergangenheit. Man schafft den Kapitalismus respektive die Marktwirtschaft ab, führt eine Art Planwirtschaft ein, die sich heute auch viele grüne oder grün-denkende Umweltpolitiker bis hin zu zukünftigen Verfassungsrichterinnen wünschen, und verteilt das Vermögen nicht nur der „Reichen“, sondern auch der oberen Mittelschicht unter den Bedürftigen jeder Art. Solche Rezepte finden mittlerweile selbst in den USA, die nie eine starke sozialistische Tradition hatten, allerdings wirklich unter massiver und wachsender sozialer Ungleichheit leiden, ihre Anhänger.

Mit solchen Ideen Regierungspolitik zu betreiben, wird vermutlich in den Abgrund führen. Aber was ist die Alternative, wenn man weiter Wähler für die eigene Partei gewinnen will? Soll man ihnen einfach nur ehrlich erzählen, dass harte Einsparungen im sozialen Bereich oder im Gesundheitswesen alternativlos sind und dass es mit ihrem Wohlstand die nächsten 20 Jahre kontinuierlich weiter bergab gehen wird?

Damit kann man so leicht niemanden mobilisieren, zumal viele der traditionellen Mitte-rechts-Wähler aus der Facharbeiterschaft ohnehin schon ins bürgerliche Lager oder nach rechts außen abgedriftet sind, also in Deutschland zur CDU oder zur AfD. Diese Wähler kann man nicht leicht zurückgewinnen, auch wenn man noch so pragmatisch agiert.

Schlechte Wahlergebnisse

Entsprechend schlecht ist der Zustand vieler sozialdemokratischer Parteien in Europa. Die französischen Sozialisten sind in den vergangenen Jahren zu einem Anhängsel der linksradikalen Bewegung von Jean-Luc Mélenchons „La France insoumise" geworden, auch wenn es ihnen bei der nächsten Wahl vielleicht noch einmal gelingen wird, sich aus dieser Umklammerung zu befreien.

Labour in Großbritannien hat zwar vor kurzem noch einmal einen großen Wahlsieg – gerechnet in Unterhaussitzen – errungen, konnte aber faktisch nur 34 Prozent der Wähler für sich gewinnen. Ein schlechtes Resultat angesichts eines Wahlrechts, das es kleineren Parteien erschwert, überhaupt mit Aussicht auf Erfolg anzutreten.

Im Vergleich zur deutschen SPD ist Labour mit diesen 34 Prozent ein Gigant, denn die SPD sank bei den letzten Bundestagswahlen auf gut 16 Prozent und dümpelt heute in den Umfragen zwischen 13 und 15 Prozent vor sich hin. Sehr viel besser sieht es auch in Österreich oder den Niederlanden eigentlich nicht aus, auch wenn die SPÖ in unserem Nachbarland zuletzt immerhin noch auf 21 Prozent kam.

Der biblische Samson-Plan

Dennoch bietet sich für sozialdemokratische Parteien, wenn schon kein Ausweg, so doch zumindest die Chance auf einen ehrenvollen letzten Kampf und einen glorreichen Untergang, wenn sie dem Konzept folgen, das sich führende Mitte-links-Politiker offenbar zunehmend zu eigen machen: dem geheimen Samson-Plan.

Und Samson sprach: So sterbe ich mit den Philistern. Er drückte mit all seiner Kraft, da stürzte das Haus zusammen über den Fürsten und über dem ganzen Volk, das darin war.

(Buch Richter 16, 30)

At once both to destroy and be destroy’d;
The Edifice where all were met to see him
Upon thir heads and on his own he pull’d.

(John Milton, Samson Agonistes)

So wie der jüdische Held seiner Haare und seiner Kraft beraubt und überdies geblendet mit einer letzten Anstrengung seine Feinde, die Philister, mit sich in den Tod riss, so denken sich viele Sozialdemokraten in Deutschland wohl auch das ruhmreiche Ende ihrer Partei. Anders kann man ihr Verhalten kaum noch deuten.

Kein effizienter Sozialstaat: Rundumversorgung für alle

Statt den Sozialstaat effizienter zu machen, indem man unberechtigte Ansprüche zurückweist und klare Prioritäten setzt, hält man am Konzept der Rundumversorgung für alle – Bedürftige und weniger Bedürftige – unerbittlich fest. Den Wohnungsmarkt, auf dem das Angebot immer knapper und teurer wird, will man durch noch mehr Vorschriften für Neubauten, Verstaatlichungsdrohungen und eine weitere Einschränkung der Rechte der Vermieter weiter destabilisieren.

In Fragen der Migrationspolitik hält man oft daran fest, dass die Notleidenden aus der ganzen Welt, wenn sie einmal deutschen Boden betreten haben, mindestens ebenso viele Ansprüche auf Sozialleistungen haben wie die Bürger des eigenen Landes. Eine Haltung, der freilich Karlsruhe in seiner unendlichen Weisheit den Weg bereitet hat.

Im Übrigen setzt man ganz auf den Schutz von vermeintlich diskriminierten Minderheiten aller Art, je exotischer, desto besser, verbunden mit einer gängelnden Sprachpolitik und dem Versuch, die Meinungsfreiheit einzuschränken, wenn Kritik an diesen Minderheiten geübt werden könnte. Mit anderen Worten: Man führt einen Kulturkampf, der sich zu erheblichen Teilen gegen die eigene traditionelle Wählerschaft richtet. Wenn man diese Wähler schon nicht zurückgewinnen kann, will man sich an ihnen zumindest rächen.

Koalitionspartner und Verfassungsgericht im Dienst der eigenen Politik

Hier in Deutschland wollen die Sozialdemokraten aber vor allem dafür sorgen, dass der Koalitionspartner keine Punkte machen kann, sondern stattdessen, wo immer es geht, peinliche Zugeständnisse an den kleineren Partner machen muss, möglichst unter Bruch früher gegebener Versprechen wie bei der Stromsteuer oder beim immer weiteren Aufweichen der Schuldenbremse.

Der gegenwärtige Streit um die Wahl neuer Richter für Karlsruhe illustriert das nur allzu gut. Hier geht es nicht nur darum, das Verfassungsgericht in den Dienst der eigenen Politik zu stellen, sondern auch darum, die Kanzlerpartei öffentlich zu demütigen, so dass sie noch mehr Wähler verliert.

Davon wird man zwar nicht selbst profitieren, und weiß das wohl auch, aber immerhin geht man nicht alleine unter, und wenn man schon nicht 3.000 Philister mit in den Tod reißen kann, dann doch immerhin die 208 Abgeordneten der Union. Und an dieser Front sind die Aussichten gar nicht so schlecht, auch dank der Naivität der Bürgerlichen.

Labour in Großbritannien befindet sich in keiner viel besseren Verfassung als die SPD

Aber es ist ja nicht nur die SPD, die derart panisch und zugleich selbstzerstörerisch agiert. In Großbritannien sieht es nicht viel besser aus. Labour laufen die Wähler davon, namentlich weiße Arbeiter und die einheimische untere Mittelschicht. Was ist die Antwort darauf? Man bereitet ein neues Gesetz gegen Islamophobie vor, das es erschweren soll, den Islam oder Muslime generell in irgendeiner Form zu kritisieren.

Noch bevor solche Vorschläge Gesetzeskraft erlangen, arbeitet man zur Bekämpfung vermeintlicher Islamophobie eng mit Stiftungen wie dem British Muslim Trust zusammen, die in der Vergangenheit religiösen Extremismus oft genug verharmlost haben. Muslime stellen in den für Labour besonders wichtigen Großstadtwahlkreisen oft einen großen Teil der Wähler, und man hofft wohl, wenn man diese Wähler durch eine ganz auf sie zugeschnittene Politik dauerhaft an Labour binden kann, die entsprechenden Mandate gegen alle Rivalen verteidigen zu können.

Noch eine Gefahr für Labour: eine neue Partei für Muslime

Da hat man freilich die Rechnung ohne den Ex-Labour-Chef Jeremy Corbyn und dessen Mitstreiterin Zarah Sultana, eine relativ junge Abgeordnete pakistanischer Herkunft, die bis Anfang Juli dieses Jahres der Labour Party angehörte, gemacht. Die beiden wollen eine neue Partei gründen, die sich mit ihrem Programm speziell an Muslime wendet, aber auch linken Fundamentalisten jeder Art jene Wohlfühl-Utopien bietet, nach denen sie sich sehnen.

Dieses Rezept könnte durchaus aufgehen, so wie ja die Linkspartei in Deutschland mit einem solchen Kurs neuerdings recht erfolgreich ist, was sie nicht zuletzt jungen Frauen zu verdanken scheint, denen die hiesigen Grünen bereits zu vernünftig (ja, es ist schwer, das nachzuvollziehen) und zu Mainstream geworden sind.

Gegen diese Art von Konkurrenz von Linksaußen wird auch in Großbritannien Labour nicht ankommen, stößt aber zugleich durch den beinhart repressiven Kurs, den man verfolgt, wenn gegen die ungebremste Masseneinwanderung Widerstand in Form von öffentlichen Protesten aufkommt, die einheimische Bevölkerung vor den Kopf. Diese misstraut der Polizei ohnehin immer mehr, da die Polizisten gegen die Alltagskriminalität wenig unternehmen und stattdessen sogenannte „hate crimes“ und Meinungsdelikte rücksichtslos verfolgen – eine Entwicklung, die sich hier in Deutschland auch andeutet. Das Resultat ist, dass die Gefahr gewaltsamer Ausschreitungen von Seiten der einheimischen Bevölkerung wächst.

Untergang – aber wenigstens wird der politische Gegner mitgerissen

Das politische Klima heizt sich auf, was freilich auch für die Konservativen, die alten Konkurrenten Labours, schlecht ist, weil sie wie die CDU in einem politischen Umfeld, das durch eskalierende ethnische Konflikte geprägt ist, zu soft und unentschlossen wirken.

Von daher hat Labour wie die SPD in Deutschland immerhin die Genugtuung, den bürgerlichen Konkurrenten mit ins Grab zu nehmen, wenn man untergeht. Außerdem hoffen manche in der Partei wohl, durch die kontinuierliche Massenimmigration neue Wählergruppen gewinnen zu können, wenn man die Immigranten rasch einbürgert, was ja mittlerweile auch hier in Deutschland die Norm ist. Dadurch ethnisieren sich politische Konflikte allerdings noch rascher als ohnehin schon. Und ist ein Umfeld, das durch eine solche Ethnisierung des Politischen geprägt ist, wirklich günstig für eine Partei, die einmal an universalistische Fortschrittsideale glaubte? Wohl eher nicht.

Man kann auf diese Weise immerhin dem alten Mitte-rechts-Gegner schaden, das ist es, was zählt, und es ist natürlich allemal besser, kämpfend unterzugehen, auch wenn dabei unter Umständen das gesamte politische System kollabiert, als einfach nur auf der Palliativstation für sterbende Parteien vor sich hin zu dämmern. So sieht man das jedenfalls, wie es scheint, in Westminster ebenso wie in Berlin.

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