Direkt zum Inhalt
Ein Jahr nach dem russischen Einfall in die Ukraine

„Unsere Gastfamilie war für uns wie ein Schutzengel!“

„Ich bin gleich am 24. Februar mit meinen Kindern aus Kiew weg. Auf dem Dorf bei Fastiw haben wir eine Datsche. Da haben wir im Keller Schutz gesucht.“ Wir sitzen in einem Berliner Café. Bei starkem Schwarztee berichtet Yuliia K. von dem zurückliegenden Jahr, das ihr Leben und das ihrer Landsleute vollkommen durcheinandergebracht hat. Yuliia ist groß gewachsen, trägt einen cremefarbenen Wollpullover und dunkle Jeans, die braunen Haare mittellang.

Die 42 Jahre alte Mutter zweier kleiner Kinder im Alter von acht und sechs Jahren hat zunächst Glück: Das 46.000-Einwohner-Städtchen Fastiw liegt im selben Verwaltungsbezirk wie Kiew, aber 75 Kilometer südwestlich der ukrainischen Hauptstadt. So weit südlich stoßen die russischen Eindringlinge nicht vor. Die Truppen, die aus Belarus in die Ukraine einfallen, eine Spur der Verwüstung hinterlassen und in den nordwestlichen Vororten Kiews wie Borodjanka, Irpin und Butscha Massaker unter der Zivilbevölkerung anrichten, werden von ukrainischer Armee nördlich der E40, der Überlandstraße zwischen Kiew und Zhytomyr, aufgehalten und zerschlagen.

Für zehn Tage zieht die gelernte Finanzkauffrau mit den Kindern in den Keller. Es gibt zwar Wasser, aber weder Brot noch Salz, geschweige denn Hygieneartikel. Sie ernähren sich von eingewecktem Gemüse und Obst. Draußen grollt der Kriegslärm. Die russischen Raketen fliegen auch bis nach Fastiw. Als dann ganz in der Nähe – „wir haben es gesehen!“ – eine Rakete einschlägt, wird die Sorge um die Kinder, die Angst, verletzt oder getötet zu werden, zu groß. Sie packen eine Reisetasche und fliehen.

Zu sechst im kleinen Auto nach Westen

In der Nachbarschaft der Datschensiedlung lebte eine Frau, Lena, deren Tochter nach Deutschland geheiratet hatte. So gab es einen Kontakt nach Berlin. Gemeinsam mit dem 85 Jahre alten Vater der Nachbarin, ihren zwei kleinen Kindern und einem Freiwilligen, der sich als Chauffeur anbietet, quetschen sie sich zu sechst in ein kleines Auto, die Kinder auf dem Schoß. Es sind die Tage Anfang März, die Ausfallstraßen Kiews sind mit allem, was fahren kann, verstopft. Nach Westen, nur nach Westen.

Vorschau Von russischen Raketen zerstörter Wohnungsblock in dem Kiewer Vorort Borodjanka
Von russischen Raketen zerstörter Wohnblock im Kiewer Vorort Borodjanka

So brauchen sie, erzählt Yuliia rückblickend, von ihrem Wochenendhäuschen bis zur ukrainisch-polnischen Grenze drei Tage – eine Strecke von 575 Kilometern. Die Straßen sind überfüllt, außerdem herrscht abends Sperrstunde, nachts fahren ist also strengstens verboten, niemand Ziviles darf mehr draußen sein. An ständigen Straßensperren kontrolliert das Militär. Unterwegs, erinnert sich Yuliia, schlafen sie einmal in einer Turnhalle, vor allem des Fahrers wegen, der ruhen muss. „Wir konnten uns ausstrecken, das war schön.“

Am 8. März treffen die Flüchtlinge in Berlin ein. Die Tochter der Nachbarin erwartet sie schon mit ihrem Mann. Sie sind in Sicherheit. Eine deutsche Gastfamilie aus dem Stadtteil Pankow nimmt die Gestrandeten auf, Yuliia darf mit ihren Kindern ein Zimmer für sich beziehen. Ihre Augen leuchten noch heute auf, wenn sie von der Gastfamilie spricht: „Sie haben sich so um uns gekümmert, wie Schutzengel! Sie waren so freundschaftlich, so warmherzig, sie haben uns mit der ganzen Familie bekanntgemacht, haben uns einbezogen, uns alles erklärt – es war ja alles fremd am Anfang.“

Vier Monate bleiben sie bei den lieben Leuten. Die Gastfamilie sucht und hört sich um, und es gelingt, der Mutter mit ihren Kindern eine kleine Mietwohnung im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick zu finden. „Aber die Kinder wollten gar nicht mehr weg, so vertraut war es in Pankow geworden.“ Die Dielen in der nun eigenen Wohnung hat sie allein abgeschliffen: „Habe ich selber gemacht.“ Der Stolz darüber ist ihr anzumerken.

Wenn Yuliia über die Deutschen spricht, klingt das so, als rede sie über ein anderes Volk. „Die Deutschen sind patriotisch, sie sind stolz auf ihr Land und zufrieden mit ihrer Regierung.“ Die Ukrainer seien den Deutschen dankbar für das, was sie im Zusammenhang mit dem Krieg täten.

Rund 1,1 Millionen Ukrainer flohen nach Deutschland

Im Gegensatz zu den meisten anderen Flüchtlingen, die erst seit kurzem in Deutschland leben, erhielten jene aus der Ukraine seit dem 1. Juni 2022 Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II), also Hartz IV. Eigentlich erhalten Flüchtlinge Mittel nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und müssen erst das Asylverfahren abwarten, ehe sie den höheren Hartz-IV-Satz beziehen. Seit dem ersten Januar 2023 erhalten sie dementsprechend auch das Bürgergeld, mit dem die Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP Hartz IV ersetzt haben.

Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) setze Deutschland mit dieser Regelung die EU-Massenzustrom-Richtlinie um, womit Ukraine-Flüchtlinge sofort einen Aufenthaltstitel erhalten. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern fallen die Leistungen in Deutschland deshalb so hoch aus, weil die Sozialleistungen allgemein sehr hoch sind.

Dies dürfte auch ein Mitgrund dafür sein, warum Deutschland deutlich mehr Ukraine-Flüchtlinge registriert hat als andere Länder. Im vergangenen Jahr waren rund 1,1 Millionen Ukrainer nach Deutschland geflohen, wie das Statistische Bundesamt vergangene Woche mitteilte. Zwei Drittel von ihnen reisten in den ersten drei Monaten nach dem Angriff Russlands am 24. Februar 2022 ein. In Frankreich dagegen ersuchten nur knapp 135.000 ukrainische Flüchtlinge um Schutz. Zum Vergleich: Ganz Baden-Württemberg hat etwa 150.000 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen.

Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks haben bis 21. Februar 2023 in Folge des Krieges mehr als 18,8 Millionen Ukrainer ihr Land verlassen. Die Gesamtzahl der in der EU registrierten Ukraine-Flüchtlinge beträgt ein Jahr nach dem russischen Angriff im Großmaßstab etwas über acht Millionen.

Vorschau Demonstration in Grevesmühlen gegen eine Massenunterkunft für Asylbewerber im kleinen Örtchen Upahl
Demonstration in Grevesmühlen gegen eine Massenunterkunft für Asylbewerber im kleinen Örtchen Upahl

Ukrainer bilden mit einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von 1,2 Prozent derzeit die zweitgrößte Ausländergruppe in Deutschland. Zieht man die Fortzüge ab, ergibt sich eine Nettozuwanderung von 962.000 Ukrainern. Damit war die Nettozuwanderung aus dem kriegsgebeutelten Land im vergangenen Jahr größer als die aus Syrien, Afghanistan und dem Irak in den Jahren 2014 bis 2016 zusammen.

Die enorme Zuwanderung nicht nur von Ukrainern führt naturgemäß zu Konflikten und Engpässen bei der Unterbringung. Landräte warnen seit Wochen davor, dass die Grenzen des Machbaren schon lange erreicht seien. Ein Flüchtlingsgipfel des Bundes vergangene Woche ist aus Sicht der betroffenen Landräte und Bürgermeister gescheitert.

Die Probleme kulminierten im mecklenburgischen Upahl. In dem 500-Seelen-Ort soll ein Containerdorf für 400 Flüchtlinge und Migranten entstehen. Seit Wochen gibt es Proteste in der zuständigen Kreisstadt Grevesmühlen und nun auch in der Landeshauptstadt Schwerin. Für Unmut bei Anwohnern und Opposition sorgt nicht nur das Zahlenverhältnis von Einheimischen und Zuwanderern, sondern auch die Ankündigung, wonach in der Massenunterkunft vor allem junge Männer aus Afghanistan und Syrien untergebracht werden sollen.

Dass die Zahl der Asylbewerber aus dem Nahen Osten und der Levante weiter anhält, zeigt ein Blick in die Asylgeschäftsstatistik des BAMF. Im Januar dieses Jahres registrierte die Behörde mehr als 9.000 Erstanträge von Syrern, über 6.000 von Afghanen, fast 3.800 von Türken und rund 1.300 von Iranern. Insgesamt summierte sich die Zahl der Erstantragssteller auf fast 30.000.

Von Reibereien zwischen Einheimischen und Flüchtlingen hat Yuliia lediglich gehört. Inzwischen ist der Sommer gekommen. Sie hat sich gut eingelebt. Außer von Schwierigkeiten auf den Ämtern berichtet sie nur Gutes von Berlin. Die Stadt gefällt ihr: „Weil die Stadt so verschiedenartig ist. Jeder Stadtteil ist anders und hat seinen ganz eigenen Charakter.“

„In Mathematik ist mein Sohn viel weiter als seine deutschen Mitschüler“

Yuliias Sohn geht zur Schule. Er versteht schon viel auf Deutsch, spricht aber wenig. Er hat doppelt Hausaufgaben auf: die aus der Berliner Schule und die, die er von seiner Schule aus Kiew online bekommt. Denn die Schule hält ihre nun verstreuten Schüler zusammen, die Klasse steht untereinander in ständigem Kontakt, die Lehrer achten darauf, dass das Pensum durchgenommen wird. „Er hat von dort mehr Aufgaben als aus seiner Berliner Schule“, sagt seine Mutter. „In Mathematik ist er viel weiter als seine deutschen Mitschüler.“

Ihr Töchterchen wuselt herum, mal tanzt sie, mal malt sie, singt ein ukrainisches Lied vor sich hin. Ihre Kindergartengruppe geht oft in den Wald, hat die Natur um sich herum, macht Lagerfeuer. Das kenne sie so aus Kiew nicht: „In der Ukraine fängt mit vier Jahren im Kindergarten der Unterricht an – Lesen, Schreiben, Rechnen lernen. Dass die Kinder hier meistens spielen, das war für meine Tochter gewöhnungsbedürftig, das kannte sie so gar nicht.“

Yuliia erzählt bereitwillig, und dann geschieht es doch, dass sie zwischendurch stockt und ihr die Tränen kommen. Den Kindern gehe es in Berlin den Umständen entsprechend zwar gut. „Aber sie sehnen sich nach ihrem Zimmer und nach ihren Spielsachen.“ Ist die Wohnung in Kiew unversehrt? „Ja, gute Nachbarn geben auf alles Acht. Aber die Sorge um die Wohnung, das ist jetzt wirklich das geringste! Das Wertvollste habe ich bei mir: meine Kinder!“

Als neulich einmal eine Freundin aus Kiew zu Besuch kam, war das schön und schwierig zugleich. Sie hatten sich sehr viel zu erzählen, und es flossen viele Tränen. Auch jetzt. Etwas sehr Bedrückendes kommt hoch. Yuliia schaut weg und schweigt minutenlang.

Rekrutierungen von der Straße weg, Selbstmorde an der Front

Entgegen dem öffentlichen Heldenkult gebe es an der Front viele Selbstmorde. Die ukrainische Armee gewinne neue Soldaten mittlerweile mit rabiaten Methoden: Rekrutierungstrupps drücken jungen Männern auf der Straße den Einberufungsbefehl in die Hand und heißen sie mitkommen. Die Gefallenen müssen ersetzt und die, die schon lange im Krieg sind, ausgetauscht werden. Die von der Armee gestellte Ausrüstung sei nicht optimal und von minderer Güte, die meisten Soldaten suchten sich daher ihre Ausrüstung selbst zusammen, Schutzwesten, Stiefel, wärmende Sohlen und Jacken, Erste-Hilfe-Sets.

Das Sammeln ukrainischer Emigranten, die in Deutschland in Hunderten Freiwilligenstunden Ausrüstung für ihre Armee packen und in die Heimat transportieren, zeugt davon, dass der Mangel weitverbreitet ist. Den Ukrainern fehlen nicht nur Panzer und Munition, sondern auch so einfache Dinge wie Verbandsmaterial und Schmerztabletten.

Die Mutter vermutet, dass der Krieg noch ein Jahr dauert. „Wir werden alle Zerstörungen wieder aufbauen, schöner als zuvor.“ Es kommt so zuversichtlich herüber, dass man es selbst glauben will. Will sie wieder zurück, wenn Frieden einkehrt? Yuliia schüttelt mit dem Kopf. „Diese Frage kann ich jetzt nicht beantworten. Wir leben von einem Tag auf den anderen.“

Vorschau Yuliia und ihre Kinder leben von einem Tag auf den anderen. In Berlin fühlen sie sich aber wohl
Yuliia und ihre Kinder leben von einem Tag auf den anderen. In Berlin fühlen sie sich aber wohl

„Wir Ukrainer“, sagt Yuliia, „sehen uns jetzt mit anderen Augen. Wir sind eine starke, einige Nation. Wir verteidigen unsere Heimat und unsere Freiheit. Viele sind nun stolz darauf, Ukrainer zu sein.“ Die Erfahrung des aufgezwungenen Krieges habe bewirkt, dass jeder Ukrainer jetzt sein Land mehr liebe als vorher.

Präsident Wolodymyr Selenskyj sei der richtige Mann zur richtigen Zeit: „Er bleibt auf seinem Posten, er macht etwas, knüpft ganz viel Kontakte. Er versteckt sich nicht.“ Bei der Präsidentschaftswahl 2019, die Selenskyj im zweiten Wahlgang mit 73 Prozent der Stimmen gewann, habe sie für ihn gestimmt.

„Wir sind nun ganz verbunden und vereint, wir helfen und unterstützen uns gegenseitig. Und das so von Herzen, aus Liebe.“ Viel Hilfe werde über die sozialen Netzwerke organisiert, und sie nennt ein Beispiel: Jemand habe ganz nötig einen Pkw gebraucht, konnte aber selbst die Mittel dafür nicht aufbringen. Auf dessen öffentliche Bitte hin spendeten seine Landsleute Geld, und innerhalb ganz kurzer Zeit war aus vielen Kleinspenden die Summe für das Auto zusammengekommen.

Das klingt nach enthusiastischer, gelebter Solidarität. Wie auf dem Euromaidan in Kiew, der „Revolution der Würde“ von Herbst bis Frühjahr 2013/14, an der Yuliia selbst teilnahm und wie viele andere als Freiwillige den Demonstranten immer wieder Lebensmittel brachte.

Der Krieg zerreißt die Familien

Einen anderen Aspekt wirft Yuliia beim Blick auf die Auswirkungen der Flüchtlingswelle auf. „Das Familienleben vieler Menschen hat den Prüfungen des Krieges nicht standgehalten. Es gibt sehr, sehr viele Scheidungen.“ Warum? „Da gibt es ein paar Ursachen. Der Stress des Krieges, die völlig neuen Umstände, damit kommen viele Paare nicht zurecht. Zum einen ist da die Situation, dass die Männer an der Front sind, aber die Frauen zu Hause allein. Zum anderen sind viele Frauen ins Ausland geflohen, und die Beziehungen halten der Entfernung nicht stand, der Kontakt beschränkt sich auf das Telefon. Oder Ehemänner, die in der Ukraine bleiben mussten und deren Frauen geflohen sind, fühlen sich einsam und umwerben Mädchen in ihrer Nähe.“

Für einige Paare habe diese schwierige Zeit den Prozess der Scheidung beschleunigt: Wenn manche ohnehin schon überlegten, sich zu trennen, dann hätten die Belastungen der Kriegs- und Trennungssituation jetzt erst recht dazu geführt, miteinander Schluss zu machen. Häufig trennten sich Paare aus der Entfernung heraus, zunächst ohne offiziell die Scheidung einzureichen.

Das wird der Grund dafür sein, dass die offiziellen Statistiken mit dieser Realität nicht übereinstimmen. Denn nach Angaben des ukrainischen Justizministeriums wurden 2022 nur 17.893 Ehepaare geschieden. Was einen starken Rückgang gegenüber dem Vorjahr bedeuten würde: Im Jahr 2021 wurden 29.587 Scheidungen registriert.

Wie auch immer: „Das wird eine riesige Arbeit nach dem Krieg“, resümiert Yuliia. „Psychologen werden rund um die Uhr arbeiten müssen.“

Stunden später, die Sonne ist längst untergegangen. Yuliias Töchterchen summt wieder das Lied vor sich hin. Was ist das, wie heißt es? „Möge es Frühling werden“. Der populäre Sänger und Songwriter Max Barskich schrieb es kurz nach Kriegsausbruch in ukrainischer Sprache. Aus Cherson stammend, sang er zuvor zuallermeist auf Russisch. Nach der russischen Invasion trat Barskich den ukrainischen Streitkräften bei.

„Möge es Frühling werden,
Dort, wo wir bis zum Ende durchhalten,
Und uns wird der Krieg nicht brechen,
Unser Glaube vereint unsere Herzen,
Die Ukraine lebt für immer!
Gemeinsam werden wir alle siegen,
Dies ist unser Heimatland.

0
0