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Identitätskrise des Westens

Europa mit der Seele suchen

Die Bilder von Lampedusa, die symbolhaft stehen für das, was sich auch an den deutschen Grenzen zu Polen und zu Tschechien jeden Tag ereignet, erinnern an die Dystopie des Schriftstellers Jean Raspail, die der Franzose vor nunmehr fünf Dezennien im liberalen Jahr 1973 im Pariser Verlag Robert Laffont unter dem Titel „Le camp des saints“ („Das Heerlager der Heiligen“) veröffentlichte:

„Langsam senkte sich die Nacht über das Schauspiel. Ein letztes Mal huschte ein roter Schein über die gestrandete Flotte. Mehr als hundert verrostete Schiffe bezeugten das Wunder, das sie vom anderen Ende der Welt hierhergeführt und beschützt hatte, mit Ausnahme eines einzigen Schiffs, das auf der Höhe von Ceylon durch einen Schiffbruch verlorengegangen war. Nahezu artig aneinandergereiht waren sie hier auf Felsen oder Sand aufgelaufen. Ihr wie mit einem letzten Schwung hochgerissener Bug war dem Ufer zugekehrt. Hunderte Schiffe ... An diesem Karsamstagabend belagerten 800.000 Lebende und Tote friedlich die Grenzen des Abendlandes. Am nächsten Morgen würde alles vorbei sein.“

Während Jean Raspails Dystopie über die Masseneinwanderung aus dem sogenannten „globalen Süden“ und das Ende der europäischen Kultur 2007 noch von Lorenz Jäger hymnisch in der FAZ besprochen wurde, druckte der Tagesspiegel 2015 zur Heiligsprechung der Masseneinwanderung eine „Lesewarnung“, die nicht ein einziges ästhetisches Kriterium zur Begründung anführte.

Masseneinwanderung zerstört die kulturellen Grundlagen Europas

Ebenfalls ohne ästhetische oder literaturwissenschaftliche Begründung musste die Behauptung im Tagesspiegel auskommen, die in Zensoren-Duktus Raspails literarisches Werk ein „xenophobes und rassistisches Szenario“ nannte. Nur seltsam, dieses „xenophobe und rassistische Szenario“ fand seinen Weg aus der Literatur in die Realität.

Boote mit vorwiegend jungen Männern halten auf Europa zu, über die Insel Lampedusa, die sie geradezu in einer Art Landnahme stürmen, wollen sie vor allem nach Deutschland, das seine Sozialsysteme für alle öffnet, wenn sie irgendwie aus dem sogenannten „globalen Süden“ kommen und das Zauberwort „Asyl“ den Deutschen vor die Füße werfen. Allein der Begriff „globaler Süden“, der immer als armes Opfer des bösen „globalen Norden“ dargestellt wird, verrät das manichäische Weltbild, die durch Herkunft, Hautfarbe und Geburt vorgenommene Einteilung zwischen Gut und Böse.

Doch inzwischen zerstört die Masseneinwanderung die kulturellen Grundlagen und zivilisatorischen Regeln der europäischen Gesellschaft. Es lässt sich kaum mehr beschönigen, aber gesellschaftlich, politisch, wirtschaftlich und kulturell driftet Europa in eine immer tiefere Krise. Das wäre nicht die erste Krise für den Kontinent.

Das alte Europa des Stefan Zweig

Vor fast zweihundert Jahren, 1826, erschien die bereits 1799 verfasste Rede des Dichters Novalis „Die Christenheit oder Europa“. In dieser sprachlich so elegant fabulierten Geschichtsphilosophie erträumte sich der Dichter in den Wirren des Kontinents eine Heimat. Nicht nur er hatte sich auf die Suche begeben. Denn Europa ist vor allem ein Synonym für verlorene, aber auch für wiedergefundene Heimat.

Die jungen Intellektuellen am Ausgang des 18. Jahrhunderts begehrten nichts sehnlicher als Orientierung, denn die Französische Revolution hatte innerhalb Frankreichs und in den karibischen Kolonien die politischen Formen gesprengt und in ganz Europa zumindest in Frage gestellt. Napoleons revolutionäre Restauration im modern aufgehübschten Kaisermantel vertiefte die Krise nur.

Die stürmische Entwicklung der Natur- und Geisteswissenschaften sprengte die festgefügten Weltanschauungen. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung löste die Gewissheiten auf. Gerade Novalis, aber auch Achim von Arnim in seinem großen Roman-Projekt „Die Kronenwächter“, das wie eine erzählerische Antithese auf die Europarede von Novalis wirkt, suchten nach Orientierung in der orientierungslos gewordenen Zeit.

Stefan Zweig erinnerte sich im brasilianischen Exil 1942 kurz vor seinem Suizid an das Europa vor den beiden Weltkriegen. Dieses letzte große Werk des österreichischen Schriftstellers überschreitet durch seine Intensität die Grenzen der Erinnerung und wird besser mit einer Paraphrase eines Goethe-Wortes aus der „Iphigenie“ beschrieben: Zweig erinnert nicht mehr, sondern er will das Land der Jugend mit „der Seele suchen“.

Kommunistische Tristesse

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Europa geteilt und durch den Eisernen Vorhang getrennt. Was Europa noch verband, war nur die Vergangenheit, die Kultur, die Erinnerung. Ein Teil des alten Europas wurde zur sowjetischen Kolonie, in der weder Freiheit noch Demokratie existierten. Vier Jahrzehnte lang nicht.

Wenn man als Jugendlicher hinter dem Eisernen Vorhang von Tag zu Tag stärker empfand, wie selbst das Wort Bewegungsfreiheit zum Euphemismus tendierte, wie die Freizügigkeit nicht über den Eisernen Vorhang, den die deutschen Kommunisten Antifaschistischen Schutzwall nannten, hinausreichte, und wenn man in dieser Zeit in Stefan Zweigs Buch „Die Welt von gestern“ las, dass der Schriftsteller vor dem Ersten Weltkrieg durch Europa reiste, ohne jemals einen Pass zu benötigen, dann spürte man die ganze Trostlosigkeit des gespaltenen Kontinents und der eigenen Existenz.

Durch die Mauer führten nur die Kunst, die Bücher und die Filme. Nur im Geiste, in der Imagination gelang es, die Mauern, die Europa teilte, zu überwinden. Die Besinnung auf eine gemeinsame Kultur, die von Athen, Jerusalem und Rom geprägt war und sich in der Aufklärung adelte – und daher ihre zwar lokal verortete, dennoch aber universale Grundlage bezog, leistete der kommunistischen Dystopie den tiefsten und nachhaltigsten Widerstand. Man kann es auch den Geist der Freiheit nennen, die europäischste aller europäischen Ideen.

Picknick der Freiheit

In Sopron, einer hübschen westungarischen Stadt an der Grenze zu Österreich, brach der erste Stein aus der Mauer. Im August 1989 organisierten junge Demokraten unmittelbar vor der Grenze ein „Paneuropäisches Picknick“. Auf ungarischer Seite sollten Ungarn, Österreicher und alle, die kommen wollten, gemeinsam Speck braten, essen und trinken, Europa als Ganzes, als Kontinent, als Kultur und sich als Europäer feiern, um den Eisernen Vorhang zu überwinden. Doch es kamen auch circa 700 Ostdeutsche, von dem festen Willen beseelt, über Österreich in die Bundesrepublik zu fliehen.

Das Denkmal „Der Durchbruch“ erinnert an das Paneuropäische Picknick am 19. August 1989 an der Grenze zwischen Ungarn und Österreich

Steht man auf der Straße, auf der sich die Grenzübergangsstelle befindet, und blickt man ins ungarische Land, dann sieht man, dass die Straße nach wenigen hundert Metern abrupt abfällt, so dass man keine Sicht auf ihren weiteren Verlauf besitzt. Das Picknick begann, die Wiese füllte sich mit Ungarn und Österreichern und Menschen anderer Nationen, ein ungarischer Offizier und ein paar Soldaten bewachten die Grenzübergangsstelle.

Plötzlich tauchten die circa 700 Ostdeutschen, Männer, Frauen, Kinder wie aus dem Nichts auf der Straße auf, die der Offizier aufgrund der erwähnten geographischen Besonderheit erst spät entdeckte, und hielten auf die Grenze zu. Der besonnene Offizier befahl seinen Leuten, stur sich auf die Kontrolle derjenigen zu konzentrieren, die von Österreich nach Ungarn wollten – und der Straße mit den Ostdeutschen den Rücken zuzukehren, die dann ein altes Holztor aufbrachen und nach Österreich zogen, in die Freiheit.

Gründungsmythos: Friedliche Revolution von 1989

Am neunten November fiel dann die Mauer in Berlin, letztlich als Ergebnis der Demonstrationen in der DDR gegen das Regime. In der Silvesternacht von 1989 auf 1990 vermochte man am Brandenburger Tor Friedrich Schillers „Ode an die Freude“ in ganzer Euphorie zu empfinden. Den Himmel über Berlin illuminierten Feuerwerkskörper, die in Gelb, in Rot, in Blau, in Orange, in einer Vielfalt von Farben und Farbtönen explodierten. Die Augen der Menschen, die sich in dieser Nacht an der Berliner Mauer einfanden, auf das Bollwerk der Teilung kletterten, das nunmehr zum Museumsstück geworden war, von dort aus in den Osten und in den Westen weiterwanderten, je nachdem, woher sie kamen, wohin sie wollten, leuchteten sternenklar und sternenhell.

Das Gefühl des Glücks, dass die Teilung Europas endete, hatte alle Herzen erfüllt. Wohl kaum eine Sprache der Welt, die man an diesem erinnerungswürdigen Jahreswechsel von 1989 auf 1990 am Brandenburger Tor nicht vernahm. Menschen, die einander nicht kannten und sich gleich wieder aus den Augen verlieren würden, stießen miteinander mit Sektflaschen an, die sie bei sich trugen. Man wandelte auf einem dicken Teppich, gewoben aus Flaschen und Glasbruch wie über äolische Wiesen. Alles schien damals möglich, der Enthusiasmus breitete seine Schwingen aus und hatte noch nicht mit der Schwerkraft der Wirklichkeit zu kämpfen.

Am 9. November 1989 fiel der Eiserne Vorhang in Berlin. Fremde Menschen halfen sich gegenseitig auf die ehemals trennende Mauer und wogen sich in einem Gefühl des Glücks

Dieses erhabene Gefühl, das aus der Tiefe kam, legte sich wie ein Firnis auf Deutschland, wirkte aber nicht in die Tiefe zurück, weil es das nicht konnte. Es versiegelte die Erfahrung nur. Die ostdeutsche Erfahrung der Diktatur auf der einen Seite und das ostdeutsche Selbstbewusstsein, das aus der Tatsache resultiert, dass man die Freiheit und die Demokratie erkämpft und eine Diktatur in einer Revolution gestürzt hat, ging in die Identität des wiedervereinigten Deutschlands nicht ein.

Unabdingbar wäre es jedoch gewesen, darüber eine große Debatte zu führen, wie sich die wiedervereinigte Nation selbst sieht, in welchen Traditionen sie steht, statt das leblose Konstrukt des Verfassungspatriotismus dagegenzuhalten. Was aber wäre ein besserer, ein tauglicherer, ein haltbarerer und ein konsistenterer Gründungsmythos für das neue Deutschland gewesen als die Friedliche Revolution als Vollendung der demokratischen Revolution von 1848/49?

Sterile Macht- und Wirtschaftserweiterung ohne Inhalt

Und in Europa? Hat nicht auch die Europäische Union darauf verzichtet, sich neu zu begründen, anstatt ebenfalls ein paar Waggons mehr an den Zug zu koppeln? Stecken wir nicht in einer Krise der EU, weil in Brüssel, in Paris und Berlin der gleiche grundlegende Fehler gemacht worden war wie zuvor in Deutschland? In dem Wort „Osterweiterung“ steckt das ganze Problem. Es ging dem Westen um eine Erweiterung des eigenen Macht- und Wirtschaftsbereiches, anscheinend nicht um mehr.

Hätte man nicht auch hier eine große Debatte über den Gründungsmythos des neuen Europas, das nicht mehr durch eine Mauer geteilt wurde, eröffnen müssen? Gib es denn eine erhabenere Erzählung als die von der Selbstbefreiung der Völker Mittel- und Osteuropas? Ihre Rückkehr nach Europa, in die Freiheit?

Man gewinnt den Eindruck, dass ein junges und ein altes Europa existieren. Jung scheint Europa im Süden und im Osten zu sein, alt dagegen im Westen. Inzwischen wurden Polen, Ungarn, Tschechien auch wirtschaftlich erfolgreiche Staaten, die stolz auf das Erreichte und Geleistete sein können und demzufolge in Europa selbstbewusst auftreten, mit dem Bewusstsein eines Selbst, das sie sich in den letzten drei Jahrzehnten hart erarbeitet haben. Es wäre an der Zeit, will man die Entfremdung überwinden, über die wirkliche Gestalt Europas und Deutschlands nachzudenken.

Europa am Rande eines Paradigmenwechsels

Kosmopolitismus muss durch Geographie geläutert werden. Europa kann nur von seinen Regionen und von seinen Nationen her, wie das Charles de Gaulle einmal als Europa der Vaterländer skizziert hat, entstehen. Es benötigt einen Gründungsmythos, der in der Freiheit besteht, in der Erinnerung an die Friedliche Revolution von 1989. In dieser Revolution wurde die Freiheit des Einzelnen wie auch das Recht der Völker auf nationale Selbstbestimmung erkämpft. Die verdrängten Debatten von 1989/90 kehren mit großer Energie zurück, weil Europa in eine Krise taumelt, die vor allem eine Identitätskrise, dann jedoch eine Wirtschafts-, Zuwanderungs-, Kultur- und Gesellschaftskrise ist.

Es ist doch unübersehbar, dass Europa wieder einmal in eine Epoche der Wirren traumtanzt, die einhergeht mit dem grundsätzlichen Verlust aller Gewissheiten. Erinnerungen werden wach an frühere Zeitenbrüche, in denen eine abgehobene Elite die Gesellschaft auflöste und den Staat in den Untergang trieb, Erinnerungen an die großen Paradigmenwechsel am Übergang von der Spätantike zum Mittelalter, vom Spätmittelalter zur Neuzeit und von der Neuzeit ins Industriezeitalter.

Der Übergang vom Spätmittelalter zur Neuzeit jedoch unterscheidet sich vom Paradigmenwechsel, in dem Europa heute deliriert, darin, dass er Europas führende Stellung in der Welt schuf und eben nicht Europas Macht in Frage stellte. Könnte uns das nicht erneut gelingen? Die großen Veränderungen, die durch die Neuzeit in Gang kamen in Wissenschaft und Technik, in der Entdeckung, in der Erforschung und auch in der Eroberung der Welt, die durch die Industrialisierung noch einmal sich revolutionierten, erhöhten Europas Stellung in der Welt sogar, weil diesen Veränderungen vor allem eines gelang: die Produktivkräfte zu entfesseln. Dadurch wurde Europa auch zum Treiber der Entwicklung in der Welt.

Europäische Kultur als Treiber des weltweiten Fortschritts

Niemand würde heute im Sand Arabiens nach Öl bohren, wenn nicht 1876 der deutsche Ingenieur Nikolaus Otto den ersten Verbrennungsmotor erfunden und bald darauf Karl Benz in Mannheim das erste Auto hergestellt hätte. Wenn nicht 1862 Alexander Parkes einen Kunststoff aus Zellulose, die sogenannte Parkesine, und John Wesley Hyatt Zelluloid erfand. Damit war die Ära der industriellen Kunststoffe eröffnet, die sich dann fortsetzte und schließlich, als 1912 Fritz Klatte den Kunststoff Polyvinylchlorid, also PVC oder Vinyl, patentieren ließ, zum Aufstieg des Werkstoffes Plastik führte.

Diese wichtige Episode steht beispielhaft für fast alle wichtigen Entdeckungen und Erfindungen der Zeit vom 16. bis ins 20. Jahrhundert hinein, als die europäische Kultur in der Neuzeit zum Treiber des Fortschritts wurde. In Europa entstanden auch die wesentlichen philosophischen Ideen und die Standards von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten – und der größte Zivilisationstreiber der Menschheitsgeschichte, der Kapitalismus, der die Produktivkräfte von hemmenden Banden befreite.

Deutsche Laster statt deutsche Tugenden

Doch was geschieht heute in Europa? Das Gipfeltreffen der G20, das vom neunten bis zum zehnten September 2023 in Neu-Delhi stattfand, zeigte deutlich, dass eine neue Weltordnung entsteht, in der Europa immer öfter der Platz am Katzentisch zugewiesen wird. Europa muss sich jedoch erheben und um seinen Platz in dieser neuen Weltordnung kämpfen. Im Ukraine-Krieg zahlt die EU der Ukraine ungeheure Summen, hat aber außenpolitisch zur Lösung des Konflikts keine Stimme, keinerlei Gewicht.

Die Organisation der BRICS-Staaten hat sich vergrößert. Zu Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika kamen vor kurzem Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, der Iran, Ägypten, Äthiopien und Argentinien hinzu.

Überall in der Welt Aufbruch, Wachstum, Dynamik – in Europa wegen Deutschland, das der britische Economist den „kranken Mann Europas“ nennt, nur Rezession, Schrumpfen, Degrowth, Klimaneutralität als Wirtschaftsneutralität. Europa befindet sich in der Krise und verzweifelt an sich, wirkt schwach und abgelebt. Vor allem heißt aber die Krise Europas Deutschland. Die deutschen Tugenden wurden entsorgt, und die deutschen Laster blühen auf.

Doch man darf die Existenz von Krisen nicht synonym setzen mit dem Untergang. Dass Europa in tiefe multiple Krisen stürzt, impliziert nicht den übrigens oft missverstandenen Untergang des Abendlandes, sondern weist eher auf eine Zwischenzeit, einen Übergang, ein Interregnum, wie es der marxistische Theoretiker Antonio Gramsci nannte, hin:

„Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, daher nicht mehr ‘führend’, sondern einzig ‘herrschend’ ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, dass die großen Massen sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen“.

Übergang oder Untergang?

Übergang also, nicht Untergang, wenn Europa will. Will Europa bleiben, wie es ist, will es sich treu bleiben, muss es sich ändern, muss es seine gefesselten Produktivkräfte entfesseln. Es muss die reaktionäre Ideologie des Wokismus, es muss Derrida, Foucault, Butler, Althusser, Fanon, die parasitäre Strömung des Juste-milieu-Marxismus, den Selbsthass, die Klimaapokalyptik, die Herrschaft der Bionade-Bourgeoisie überwinden.

Cancel-Culture ist nur ein vergleichsweise netter Begriff der Autoimmunerkrankung des europäischen Geistes. Hoffnung besteht: Heilen kann er sich aus sich selbst heraus, denn er verfügt über vitale Selbstheilungskräfte, die zu aktivieren und zu stimulieren sind.

Joseph Schumpeter hat das Wesen der Krise im Kapitalismus erfasst, wenn er im Zusammenhang mit den Krisen des Kapitalismus vom Prinzip der kreativen Zerstörung spricht. Krisen sind im Kapitalismus Entwicklungstreiber. Krisen zerstören Hemmendes, Unproduktives und ebnen so dem Neuen, dem Produktiven den Weg. Was unter Krise verstanden und missverstanden wird, ist eigentlich das Lebenselement des Kapitalismus, die Selbstoptimierung. Andere Gesellschaftsordnungen gehen an ihren Krisen zugrunde, der Kapitalismus erneuert sich in ihnen.

Ideologien abstreifen

Es ist bezeichnend, dass in Deutschland die etablierten Parteien beherrscht von einer neofeudalen Kaste den Kapitalismus abschaffen möchten und damit jeder Erneuerung eine Absage erteilen. Setzen sie sich durch, dann wird das Bild, mit dem Heiner Müllers 1979 verfasstes Stück „Die Hamletmaschine“ beginnt, Realität: „Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa.“

Doch Europa kann neu und alt zugleich sein, es muss nur zuvor den Glauben an sich und den Stolz auf sich wiederentdecken, es muss sich seiner Stärke bewusst werden, seine Unterschiedlichkeit als Bereicherung und als Antrieb in der Konkurrenz zulassen, den Willen entwickeln und freisetzen, in Wissenschaft, Technik und Kultur vorwärtszustürmen, anstatt in absurden Ideologien zu versumpfen. Es muss sich eigentlich nur Goethes erinnern:

„Geh, gehorche meinen Winken,
Nutze deine jungen Tage,
Lerne zeitig klüger sein:
Auf des Glückes großer Waage
Steht die Zunge selten ein;
Du musst steigen oder sinken,
Du musst herrschen und gewinnen,
Oder dienen und verlieren,
Leiden oder triumphieren,
Amboss oder Hammer sein.“

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Veritas
Vor 11 Monate 3 Wochen

Geschätzter Herr Dr. Mai,
ich verneige mich vor diesem grandiosen Stück, das mir Mut gibt, weiterzumachen, weiterzukämpfen, weiterzuleben.
Hochachtungsvoll, Veritas

0
Marienburger
Vor 11 Monate 2 Wochen

Lieber Herr Dr. Mai,
leider ist Ihr Artikel für das Lesen am Bildschirm zu lang. Er fängt mit zu viel Altbekanntem an, weshalb man ermüdet dann, wenn vermutlich das Wichtige/Neue kommt, nicht mehr weiter liest.

Hängengeblieben bin ich bei dem Wort "Kapitalismus". Für mich bedeutet dieser die Zerstörung des Marktes, insbesondere heute, wo Kapital einfach digital erfunden und ausgeschüttet wird, aber nur falls der Empfänger zur "richtigen" Seilschaft gehört. Da Markt etwas Naturhaftes ist, lehne ich als Katholik dessen Zerstörung und damit auch den Kapitalismus als eine Erscheinungsform der Herrschaft des Mammon ab. Ihr Lob dieser Verfallsform kann ich nicht nachvollziehen, denn er zerstört(e) immer auch Erhaltenswertes. Auch in der Kategorie "Gesellschaft" zu denken führt uns nicht in die richtige Richtung, denn auch diese ist im Gegensatz zur Gemeinschaft nicht naturhaft.

Mit besten Grüßen aus der Marienburg

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Marienburger
Vor 11 Monate 2 Wochen

Lieber Herr Dr. Mai,
leider ist Ihr Artikel für das Lesen am Bildschirm zu lang. Er fängt mit zu viel Altbekanntem an, weshalb man ermüdet dann, wenn vermutlich das Wichtige/Neue kommt, nicht mehr weiter liest.

Hängengeblieben bin ich bei dem Wort "Kapitalismus". Für mich bedeutet dieser die Zerstörung des Marktes, insbesondere heute, wo Kapital einfach digital erfunden und ausgeschüttet wird, aber nur falls der Empfänger zur "richtigen" Seilschaft gehört. Da Markt etwas Naturhaftes ist, lehne ich als Katholik dessen Zerstörung und damit auch den Kapitalismus als eine Erscheinungsform der Herrschaft des Mammon ab. Ihr Lob dieser Verfallsform kann ich nicht nachvollziehen, denn er zerstört(e) immer auch Erhaltenswertes. Auch in der Kategorie "Gesellschaft" zu denken führt uns nicht in die richtige Richtung, denn auch diese ist im Gegensatz zur Gemeinschaft nicht naturhaft.

Mit besten Grüßen aus der Marienburg

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Veritas
Vor 11 Monate 3 Wochen

Geschätzter Herr Dr. Mai,
ich verneige mich vor diesem grandiosen Stück, das mir Mut gibt, weiterzumachen, weiterzukämpfen, weiterzuleben.
Hochachtungsvoll, Veritas