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Kolumne „Küchenlatein“

Chłodnik litewski

Dem Leser wird nicht entgangen sein, dass meine Kochkolumne bislang meine gegenwärtige Wahlheimat übergangen hat – Polen. Das hat verschiedene Gründe: Zum einen ist das Nächste das, was am einfachsten übersehen wird; zum anderen gestehe ich frei und ohne Scham, dass meine Selbst-Polonisierung als im Herzen eigentlich romanischer Mensch nach sechs Jahren gewisse natürliche Grenzen erreicht hat, was die Küche betrifft – doch dazu gleich mehr. 

Eine in jedem Sinne rühmliche Ausnahme ist jedenfalls der „Chłodnik litewski“, eine wohl aus dem Baltikum stammende, kalt servierte Suppe („chłodny“ bedeutet „kühl“) auf Basis von Roter Bete und Sauerrahm, die eine wunderbare Alternative zum wohl im Westen erheblich bekannteren Gazpacho darstellt.

Die Zubereitung ist simpel. Wie so oft zerhacken wir die Zwiebel und eine Hälfte des Knoblauchs und braten sie leicht in einem Kessel an; dann kümmern wir uns um die Hauptzutat: Rote Bete. Wer von rohen Roten Beten ausgeht, sollte diese natürlich zunächst entsprechend schälen und würfeln; mit bereits gesäuberten und Vorgekochten zu starten, bietet da gewisse Vorteile, die nicht nur zeitlicher Art sind, sondern auch, was rotgefärbte Hände oder unansehnliche Flecken auf der Kleidung betrifft …

Zutaten für den „Chłodnik litewski“, den kalten Borschtsch

Jedenfalls fügen wir die gewürfelten Roten Beten zu den bereits angebratenen Zwiebeln und dem Knoblauch in den Kessel, füllen mit Wasser auf, in das wir je nach Geschmack einen Würfel Rinder- oder Gemüsebrühe fügen, und kochen, bis die Roten Beten weich genug sind. Währenddessen geben wir uns an die Arbeit, die Gurken, Radieschen, Bärlauchblätter, Frühlingszwiebeln und restlichen Knoblauchzehen mittelfein zu zerhacken (eine Hälfte dient später als Garnitur) und die Eier hartzukochen.

Der polnischen Küche fehlt die Sublimierung der Volksküche

Ich deutete es eben an und kann es nun nicht weiter verheimlichen: Die polnische Küche ist mir zwar überaus sympathisch, ein täglicher Konsum ist mir allerdings nicht möglich. Das liegt einerseits daran, dass mir der hohe Anteil an Schweinefleisch, Mehlprodukten, Kohl und Bier langfristig gesundheitlich nicht unbedingt zuträglich scheint und selbst der Reiz schier unendlicher Wurstwaren und Pierogi-Sorten sich früher oder später erschöpft; zum anderen fehlt es der polnischen Küche (leider und noch) an jener Sublimierung der Volksküche, wie wir sie etwa in der romanischen Welt so ausgeprägt noch in der kleinsten Gaststätte finden. 

Nun ist die Erklärung hierfür natürlich einfach: Nach den Gräueln der mehrfachen polnischen Teilungen, der deutsch-russischen Genozide, der vielfältigen Deportationen und schließlich der bleiernen Jahre des Kommunismus mit ihrer proletarischen Massenküche sind nicht nur regionale Besonderheiten der polnischen Kulinarik ausgestorben, sondern wurde auch ein großer Teil der Liebe ebenso zum lokalen wie zum raffinierten Essen im Keim zertreten. 

Und die Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sahen wie in vielen anderen Ländern des europäischen Ostens eher eine enthusiastische Faszination für exotische Kochtraditionen oder amerikanisches Fast-Food als ein ernsthaftes, erneuertes Interesse am wiedergefundenen Eigenen. Dazu kommt noch, dass Polen trotz mittlerweile über 500 Kilometern Meereszugang mental die Nachbarschaft zur Ostsee noch nicht ganz verarbeitet hat: Wenn Fisch in Polen überhaupt auf den Tisch kommt, dann entweder in Essig ertränkt oder in Backteig frittiert.

Und wer an einem der beschaulichen polnischen Küstenorte ein paar Tage Urlaub macht, wird unschwer bemerken, dass selbst die „Sicht auf See“ den meisten Polen keinen Appetit auf frischen Fisch, sondern eher auf Schnitzel oder Würstchen mit Fritten zu bereiten scheint. Kurzum: Schlechte Karten für einen belgischen Freund von Fisch, Austern und anderen Meeresfrüchten.

Wie Polen und Litauen miteinander verbunden sind

Doch weiter in unserem Rezept. Sobald die Roten Beten im Kessel weich geworden sind, gilt es, eine Hälfte der Mischung aus Radieschen, Knoblauch, Bärlauch, Frühlingszwiebeln und Gurken hinzuzufügen, dazu Sauerrahm und Crème, und das Ganze so gründlich wie möglich zu mixen, bis eine knallrosa Flüssigkeit entsteht. Auch sollte man hier den Geschmack gut prüfen und nach Bedarf gut nachsalzen und pfeffern.

Geschnippelte Zutaten für den „Chłodnik litewski“: Eine sinnliche Ausnahme

Das Resultat dann ein paar Stunden draußen und schließlich im Kühlschrank abkühlen lassen. Das könnte dann auch Gelegenheit sein, nach (größtenteils) getaner Arbeit ein Gläschen Wódka zu genießen, sich auf das Essen zu freuen und den Tisch zu bereiten – am besten im Freien und an einem schönen Sommerabend.

Wieso trägt der „Chłodnik litewski“, eigentlich ein typisch polnisches Rezept, den Beinamen „Litauisch“? Dazu gilt es, ein wenig tiefer in die Geschichte einzugehen. Nicht nur waren Polen und Litauen über Jahrhunderte hinweg in einem einzigen Staat untrennbar miteinander verbunden und bis heute kulturell aufs engste verknüpft; auch finden sich in Litauen bis heute nennenswerte polnische Minderheiten. 

So erklärt sich auch, wieso das 1834 von Adam Mickiewicz im Pariser Exil publizierte polnische Nationalepos „Pan Tadeusz“ mit den Worten beginnt: „Litwo! Ojczyzno moja! ty jesteś jak zdrowie. / Ile cię trzeba cenić, ten tylko się dowie, / Kto cię stracił.“, also: 

„Litauen! Wie die Gesundheit bist du, mein Vaterland;
Wer dich noch nie verloren, 
der hat dich nicht erkannt.“

Dabei ist eben nicht das „ethnische“ Litauen gemeint, sondern jene letzte Spätblüte des weithin friedlichen Zusammenlebens verschiedenster Kulturgemeinschaften im heute ostpolnisch-baltisch-weißrussisch-westukrainischen Raum, das zuerst durch die Teilungen, dann die gewaltsamen ethnisch-kulturellen Assimilationsversuche durch die Großmächte und schließlich durch die bekannten Deportationen und Genozide dauerhaft zerstört werden sollte.

Eine ganz besondere Art beschaulicher Ruhe

Im „Pan Tadeusz“ hat sich ein letzter Widerhall jener spät-, ja, nachsommerlichen Stimmung erhalten, die auch heute immer noch manche polnischen Abende prägt; eine ganz besondere Art beschaulicher und idyllischer Ruhe, die im Westen tatsächlich keine kulturelle Entsprechung findet, und die durch einen gelungenen „Chłodnik litewski“ am besten begleitet wird.

Sobald unsere Suppe auf Kühlschranktemperatur abgekühlt ist, kann mit dem Servieren begonnen werden: Zur Dekoration die restliche Garnitur einlegen, jeweils ein halbes Ei hinzufügen, ohne dass es in der rosa Masse untergeht, und zum Schluss natürlich die kulinarische Allzweckwaffe der slawischen Völker drüberstreuen: Dill. 

Und wem der „Chłodnik“ nicht magenfüllend genug ist, dem seien einige Pierogi gegönnt (gut in der Pfanne mit Butter und Zwiebeln anbraten und mit Sauerrahm servieren – und Dill). Smacznego!

 

Zutaten (für 8 Personen):

  • Ein Dutzend Rote Beete
  • 1 Zwiebel
  • 1 Knoblauchknolle
  • 1 Gurke
  • 1 Bund Radieschen
  • 4 Eier
  • Ein paar Frühlingszwiebeln
  • Ein paar Blätter Bärlauch
  • Dill
  • Sauerrahm (oder Kefir)
  • Crème
  • Rinder- oder Gemüsebrühe

 

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