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Kolumne „Mild bis rauchig“

Himmelsfriedhof

Letztes Jahr kurz vor Allerheiligen. Ich bin mit einer Gruppe Kindergartenkinder auf einem unserer Friedhöfe. Die Kinder sollen behutsam im Rahmen der verbliebenen Restbestände kirchlicher Einflussnahme auf die Erziehung mit dem Thema „Tod aus christlicher Sicht“ vertraut gemacht werden. Mit dabei eine junge, siebzehnjährige Muslima. Sie ist ihrem Glauben gemäß verschleiert und trägt einen Al-Amira, ein bis zur Hüfte herunterfallendes Kopftuch, was durch seine Länge gleichzeitig den Grad ihrer Glaubensüberzeugung anzeigt. Sie ist Praktikantin in einem unserer drei Pfarrkindergärten und nimmt von daher pflichtgemäß an der Freiluftkatechese teil.

Die fünfjährigen Vorschulkinder, von denen die meisten noch nie auf einem Friedhof waren und denen Gräber, rote Grablichter und Gedenktafeln ein gänzlich neues Lernziel sind, zeigen sich fasziniert von der Stimmung um sie herum und von dem, was ich erzähle: dass es einen Gott gibt, der uns Menschen gemacht hat, weil er uns liebt und der uns deswegen nicht fallenlässt, wenn wir sterben. Dass es ein Leben gibt, das der Tod nicht zerstören kann und dass in dieser Vorstellung nicht nur ein amorpher Geist, sondern auch der menschliche Körper eine Rolle spielt, wie immer man sich das vorstellen mag.

Dass es einen Himmel gibt, wo es ein Leben in Glück und ohne Angst gibt, und wo man Gott so sieht, wie er ist. Und dass es deswegen Friedhöfe gibt, wo wir die Toten hinlegen und wo wir für sie beten, damit sie so bald wie möglich in den Himmel kommen. Denn der Himmel ist kein Automatismus. Er muss erworben werden durch ein gutes irdisches Leben. Aber weil das nicht immer so funktioniert, wie es wünschenswert ist, gibt es noch eine Art Wartezimmer (Fegefeuer), wo man noch einen Zustand der Läuterung erlebt, sofern man zu viele Fehler und Sünden im Gepäck hatte, als man über die Schwelle des Todes gegangen war.

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Und jetzt keine Sorge, lieber Leser: Ich erkläre das alles natürlich den kleinen getauften Heidenkindern in altersgemäßer Sprache. Nicht nur, damit sie es im Ansatz verstehen, sondern damit sie anschließend keine Schlafstörungen haben.

Bei der Katechese hört die muslimische Praktikantin gut zu …

Aber nicht nur die Kinder, auch die junge muslimische Praktikantin zeigt erhöhtes Interesse an dem, was ich zu sagen habe. Während wir beisammenstehen, kommen immer wieder vereinzelt Menschen vorbei, die mit Blumen, Pflanzen, Harken und Gießkannen zu den Gräbern eilen, um dort alles schönzumachen. Denn: Es ist ja in ein paar Tagen Allerheiligen.

Am Ende der Kinderkatechese gehen wir noch zu einigen Gräbern mit schönen Grabsteinen und zünden kleine Kerzchen an, bevor mit einem Gebet und einem Lied das Ganze endet. Beim Zurückgehen zum Friedhofsausgang entspinnt sich in der kleinen Gruppe der begleitenden Erzieherinnen ein Gespräch über den Friedhof und die Formen der Bestattungskultur. Die Muslima ist – obwohl oder vielleicht gerade weil sie eine erkennbar überzeugte Anhängerin des Islam ist – sehr interessiert, was die Art und Weise betrifft, in der die Christen mit dem Tod ihrer Angehörigen und mit deren Beerdigung umgehen.

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Ich habe daraufhin die Gelegenheit, einiges zu sagen zu dem, was Christen im Hinblick auf den Tod und die Auferstehung glauben, diesmal ohne kindliche Sprachversion: dass der Mensch von Gott geschaffen ist, dass seine Seele nicht sterben kann, während sein Körper einem zeitlichen Verfallsprozess ausgeliefert ist, und dass nach dem Tod die Seele eine wie auch immer geartete Körperlichkeit zurückerhalten wird, so dass wir Christen hoffen, am Ende mit Leib und Seele bei Gott sein zu dürfen.

… und runzelt die Stirn beim Vorschlag der Baumbestattung

Die Muslima möchte wissen, was mit den anonymen Gräbern ist und wie man dort bestattet wird, ob die Sozialbeerdigungen durch das Ordnungsamt mit oder ohne Sarg stattfinden und wie es sich mit der Feuerbestattung verhält, die der Islam nicht kennt. Fragen einer religiösen jungen Frau an eine andere, ihr fremde Religion. Normal!

In dem Augenblick schaltet sich eine der katholischen Gesprächspartnerinnen in das Gespräch ein, die bis dahin ganz offensichtlich ebenfalls vieles Neue erfahren hatte bei dem, was ich zu christlichen Glaubensüberzeugungen zu sagen hatte, und bekundet – ganz beflissen und sicher auch gut fortgebildet: „Ja, heute gibt es ja auch andere Formen. Man kann zum Beispiel Asche auch an einen Baum schütten. Dann geht sie in die Erde über und wird ein Teil des Baumes. Auch ein schöner Gedanke. Dann lebt der Mensch in der Natur weiter!“

Die Muslima zeigt sich erstaunt und runzelt die Stirn, und ich sehe mich gezwungen, deutlich zu machen, dass unsere Zukunft nach der Offenbarung Jesu Christi nicht der Teil eines Baumes oder eines Knollenblätterpilzes ist, sondern eine tatsächliche Auferstehung und dass die Natur, die zwar gut ist und von Gott geschaffen, nicht unsere Zukunft ist, denn der Mensch ist als Gottes Ebenbild geschaffen, weshalb er ihn auch in der Vollendung des Himmels als sein Gegenüber haben möchte und nicht als Begonie, Kastanienbaum oder als formlosen Humus.

Der Mensch ist das einzige Wesen, das Gott erkennen kann

Der Mensch ist das einzige Wesen, das Gott erkennen kann und das mit ihm sprechen kann, weswegen seine Zukunft nach dem Tod – so hat es Jesus Christus geoffenbart – die Anschauung Gottes und die ewige Versenkung in seine Gegenwart und Liebe sein soll. Eben das, was Jesus in der Bergpredigt als „selig“ bezeichnet.

Die Muslima ist nun zufrieden, dass sich für sie die Verunsicherung gelöst hat, die durch den Einwurf der katholischen Kollegin entstanden war und sie nun sicher sein darf, dass auch die Christen an einen realen Himmel glauben und nicht an die Zukunft der Menschheit in ihrer Kompostierung. Verwundert blieb die junge Frau indes darüber, dass ihr anlässlich des Gespräches mit Christen auf einem christlichen Friedhof eine ganz offensichtliche Ahnungslosigkeit begegnete, was deren Glauben an das Weiterleben nach dem Tod betrifft.

Katholische Himmelszuversicht: Allerheiligen auf dem Powązki-Friedhof in Warschau

Diese Bestandsaufnahme ist in der Tat heute an der Tagesordnung. Mir begegnet bei Trauerbesuchen in der Regel das ganze Bündel von Glauben, Zweifel und allen möglichen merkwürdigen nichtchristlichen Vorstellungen. Etwa von „Der Opa hat den Garten geliebt und ist jetzt auf immer in der Erde zu Hause“ über „Die Oma ist jetzt ein Sternchen“ bis zu der allgemein beliebten Vorstellung: „Man lebt in den Erinnerungen weiter“ – was ja schließlich auch weit hinter dem zurückbleibt, was der christliche Glaube aussagt. Denn der verheißt ein reales Leben, das ewig glücklich macht, auch wenn sich niemand mehr im Diesseits an einen erinnert.

Jesus verheißt nicht kollektive Gedächtnisse, sondern ewiges Leben!

Friedhofsbesuche sind – wie man an dieser kleinen Begebenheit sehen kann – im nachchristlichen Zeitalter etwas sehr Herausforderndes. Sie bringen Fragen an die Oberfläche, die sonst gerne verdrängt werden. Sie machen zuweilen auch sprachlos. Sie lassen ganze Bilderserien im Kopf entstehen, setzen Erinnerungen frei, lassen Tränen fließen und locken die geheimsten Ängste aus den hintersten Winkeln der Menschen, die allesamt nicht frei von der Frage sind, wann sie selbst wohl einmal dort liegen werden.

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Grabmal auf einem Friedhof: „Preis dir, du Sieger auf Golgatha, / Sieger wie keiner! Halleluja!“

Das katholische Allerheiligenfest und auch der nachfolgende Allerseelentag sind deswegen Jahr für Jahr Anlass, nochmals das in den Blick zu nehmen, was die christliche Offenbarung sagt und als Perspektive eröffnet. Allerheiligen möchte einen Blick in die Zukunft gönnen, genauer: in die Zukunft nach der Zukunft, dahin, wo es für den Menschen eine Heimat geben soll, ein Stätte der Ruhe und des Glücks, einen Ort der Befriedung aller quälenden Fragen.

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Das Fest, das nach den Heiligen benannt ist, von denen man sicher sein kann, dass sie bereits in der Ewigen Heimat leben, will einem versichern, dass man nicht vom Gedenken anderer abhängig ist, um eine Zukunft zu haben, wenn man gestorben ist, sondern eine reale, lebendige, persönliche und freudvolle Zukunft im Reich Gottes erwarten darf.

Die Heiligen, die, nicht nur am 1. November, verehrt werden, sind Boten dieser Wahrheit. Jesus Christus verheißt nicht kollektive Gedächtnisse, sondern ein Leben als Lohn für dieses Leben. Dieser Gedanke verbindet das Fest Allerheiligen und den Gedenktag Allerseelen zutiefst. Denn so wie die Heiligen bereits im Licht sind, so dürfen die Verstorbenen am Ort der Läuterung dieses Licht erwarten – sagt der katholische Glaube.

Wir können ihnen helfen, vom Dunkel ins Licht zu gehen

Und weil die Verstorbenen aus dieser Sicht zwar für unsere Augen verschwunden sind, aber nicht in ihrer seelischen Existenz, kann man für sie eine Hilfe sein, so wie man es auch in ihrem irdischen Leben konnte. Man kann ihnen helfen, vom Dunkel in das Licht zu gehen, wenn man für sie betet, die hl. Messe feiert und – Achtung Reizwort – den Ablass gewinnt. Das ist die Möglichkeit, durch das Gebet der Hinterbliebenen den Zustand der Läuterung der Verstorbenen nach einem nicht so perfekt gelebten Leben zu beenden und ihnen genauso konkret in die Vollendung zu helfen, wie man hier auf der Erde für sie hat sorgen können.

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Für einen Christen, der gottgemäß gelebt hat, gibt es die Hoffnung, sich einer neuen Heimat bei Gott zu erfreuen, wenn er dieses Leben beendet hat. Er muss sich nicht begnügen, bloß in den Köpfen derer, die er zurückgelassen hat, „weiterzuleben“, geschweige denn als Teil des Waldbodens.

Allerheiligen stärkt die Hoffnung, dass Gott an die Menschen denkt, und das heißt, dass er ihr Leben sein will – hier und nach dem Tod. Das ist unser Glück. Allerseelen schenkt die Chance, den Verstorbenen auf dem Weg in die ewige Heimat zu helfen.

... ein Wort an die protestantischen Geschwister im Glauben

Daher, liebe Leser, die Sie bis hierhin durchgehalten haben – und besonders Sie, liebe protestantische Glaubensgeschwister –, wenn Sie heute oder in den nächsten Novembertagen auf die Friedhöfe gehen: denken Sie nicht nur an Ihre Verstorbenen, beten Sie für sie! Kümmern Sie sich nicht nur gedanklich um den Trost für jene, die die Toten zurückgelassen haben, sondern auch um den Trost für jene, die verstorben sind. Denn der Tod ist nach christlichem Glauben keine Kapitulation des Lebens. Er ist eine Geburt zu einem neuen Leben – einem neuen realen Leben. Eine Geburt nicht ohne Schmerzen und Ängste – wie jede Geburt. Aber am Ende mit der Freude über das, was errungen ist.

In dieser Perspektive sind auch unsere Friedhöfe Stätten der Hoffnung und der Zuversicht, mehr noch als Stätten der Trauer oder der bloßen Erinnerung. Denn sie bergen Menschen, die von Gott gewollt waren und denen er ins Angesicht schauen möchte für immer. Schon deswegen würde er sie nie als einen Teil der Natur zurücklassen, die keine Seele hat. Und er würde sie auch nicht entsorgt wissen wollen, hat er ihnen doch einen Leib nicht nur als Trägersubstanz für ihren Geist gegeben, sondern ihnen die Körperlichkeit als einen wesentlichen Teil ihrer Existenz geschenkt. Die man folglich – diesseits und jenseits des Sterbens – ehren und bergen sollte, sofern man noch einen Funken Hoffnung auf einen Himmel hat, in dem der Mensch in verklärter Schönheit auch seinen Leib erlöst weiß, der ihn auf Erden zu einem Individuum hat werden lassen.

Wenn der Himmel für die meisten keine Perspektive mehr ist

Aber der Himmel – davon künden die neuen Bestattungsformen, die bald sicher von Rheinland-Pfalz aus die ganze Republik infizieren werden – ist ja ganz offensichtlich nicht mehr wirklich die Perspektive der meisten Menschen. Sie erwarten mehrheitlich das Nichts als einen Zustand ewiger komatöser Empfindungslosigkeit, weswegen auch die Endlagerung dessen, was an ihnen irdisch war, einer beliebigen Weiterverwertung als Kompost oder Dekoration anheimgestellt wird.

Denn nachdem man erst den Himmel hat sterben sehen und ihn auf den Friedhof verblichener Religionen gebracht hat, ist es auch der tote Körper nicht weiter wert, beachtet zu werden.

Allerdings – und das lehrt der im Erfahrungsschatz der Menschheitsgeschichte vorhandene Umkehrschluss: Dort, wo man den toten Menschen verwertet, wird man es auf Dauer auch mit dem lebenden machen. Denn immer, wenn man einen Gott tötet, stirbt am Ende auch der Mensch.

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