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Kolumne „Mild bis rauchig“

Passion schmerzfrei

Um es gleich vorwegzusagen: der Titel dieser Kolumne ist nicht der Anhub einer Vernichtungskritik. Im Gegenteil. Die antithetische Auswahl der Begriffe dieser Überschrift will lediglich den Blick für ein Phänomen wecken, das mir unversehens am Mittwoch der zurückliegenden Karwoche vor die Augen kam. Unversehens, obwohl ich schon die Ankündigung mehrfach gelesen hatte und wusste, dass die groß beworbene Fernsehshow „Die Passion“ passend zur Jahreszeit über den Bildschirme gehen würde. 

Nun bin ich kein Fan von Fernsehshows und schon einmal gar nicht von RTL, dem Sender, der sich in diesem Jahr schon zum zweiten Mal der Leidensgeschichte Christi in einer massenmedial kompatiblen Form annahm. Von daher geriet ich in die Show erst hinein, nachdem „Aktenzeichen XY ungelöst“ im ZDF seine Fangemeinde, zu der auch ich gehöre, mit einer Reihe von rätselhaften Morden und Überfällen in die Nacht geschickt hatte. 

Die Neugierde ließ mich umschalten, denn ich wollte nun doch sehen, was hinter dem Versuch eines Privatsenders stecken würde, die Passion Jesu – dazu noch zu einem durch die Osterfeiern der Christen weltweit mit Aufmerksamkeit ausgestatteten Zeitpunkt – in die Gegenwart zu transportieren. Denn so lautete die erklärte Absicht. Schon vor zwei Jahren hatte man das niederländische Format nach Deutschland getragen und in Essen unter freiem Himmel inszeniert. Damals mit Thomas Gottschalk als Erzählerzugpferd.

Unerwartet bibelnah und inhaltlich unübersehbar christozentrisch

Nun sollte Jesus Christus in Kassel leiden. Die Auswahl mag eine unbewusste gewesen sein. Denn Kassel gilt als gesichtslos und praktisch, ein Wesenszug, der der abendlichen Inszenierung eines Großevents entgegenkommt. Man sieht die Kulisse ohnehin nicht – ähnlich einem Großraumstudio –, vom Marsch durch die Fußgängerzone einmal abgesehen, in der das Tragen eines großen von innen neonbeleuchteten Kreuzes als Nebenstrang der Handlung stattfand. Gecastete Passanten trugen es auf ihren Schultern zum Kasseler Friedrichsplatz.

Der Sender hatte die Passion als „die größte Geschichte der Menschheit“ mit der folgenden Absicht angekündigt: „RTL präsentiert Die Passion in Kassel, wo die letzten Tage von Jesus Christus auf einer spektakulären Bühne mit Popsongs in die heutige Zeit transportiert werden.“ Ich gestehe, dass in mir die Klischeeinstinkte einwandfrei ansprangen und ich von daher wenig bis nichts von der Pop-Passion erwartet hatte. Ausgehend von der Präsentation von unaufgeklärten Kriminalfällen aus der letzten wirklichen Volkssendung des ZDF wechselte ich nach Kassel, mitten hinein in die RTL-Passion. 

Jedoch, es dauert nicht lange, bis sich meine Instinkte als fehlalarmiert bekennen mussten. Denn was sich mir dort bot, war eine unerwartet bibelnahe und inhaltlich unübersehbar christozentrische Auslegung der vorösterlichen Ereignisse im Leben Jesu. Ich begann zuzusehen. Unabgelenkt.

Jesus hat keine Haare, trägt dafür aber im Augenblick seiner Verurteilung einen orangefarbenen Overall, wie ihn die Opfer der Dschihadisten tragen müssen, wenn sie geköpft, erschossen, verbrannt oder ertränkt werden. Er erinnert an die Häftlingskleidung im US-Gefangenenlager Guantánamo Bay auf Kuba und ist mittlerweile ein Symbol für entmenschlichte Gewalt, mit der Menschen Menschen töten, wenn sie sicher sind, dass dieses Töten gerechtfertigt ist und die Welt weiterbringt.

Die Anpassungsfähigkeit der Mächtigen

Pontius Pilatus, der als korpulenter und schmieriger Statthalter des Kaisers über den Tod des vor ihm knienden Jesus zu entscheiden hat, verkörpert in seiner untersetzten Diesseitigkeit die Anpassungsfähigkeit der Mächtigen an die Erfordernisse, die ihrem Vorteil dienen. Der Unternehmeranzug des wenig smarten, dafür aber mit den Spuren eines wohligen und machtlüsternen Lebens gezeichneten Angehörigen des bestimmenden Establishments verkündet dem machtlosen Jesus seine Bestimmung am Kreuz.

Man kam nicht umhin, darin die durch die Zeiten niemals ausgetilgte Abneigung der eindimensionalen Welt der Egoisten gegenüber der Transzendenz zu erblicken. Die Überleitungen zu den einzelnen Sequenzen der Passion von Hannes Jaenicke sind klar und verständlich. Sie begleiten das Geschehen für eine Zuschauerwelt, von der man nicht ohne weiteres wissen kann, ob sie weiß, worum es bei dem Ganzen überhaupt geht. Oder doch?

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Es kommt die Schalte der RTL-Moderatorin zur Prozession durch die verregnete Kasseler Innenstadt. Die Träger werden interviewt. Ein Reeperbahngastronom, ein Feuerwehrmann, eine unbekannte Frau mittleren Alters sprechen über ihren Glauben an Jesus Christus, über das, was ihnen in Ihm begegnet ist. Es sind Aussagen, die man lange im deutschen Fernsehen nicht mehr gehört hat und die ob ihrer ungeschminkt positiven Bekundung von Glaube und Gottesbeziehung wie eine Demonstration mit verbotenen Parolen wirken.

Denn normalerweise ist man ja das Gegenteil gewöhnt. Religion, Glaube und Menschen, die sich dazu bekennen, werden in der Regel in die Abteilung „aus der Zeit gefallen“ bis gaga oder gar gefährlich verwiesen. Promis oder Zufallsgesprächspartner in der Fußgängerzone bekunden in der Regel immer nur das, was sie als mehrheitsfähig und geprüft erlaubt empfinden. Gott, Glaube oder Gebet gehören nicht dazu.

Jesus kam auch bis Kassel in die Fußgängerzone

Später werden die meisten Rezensenten des Fernsehevents diese Interviews als evangelikale Erweckungserlebnisschilderung beschreiben. Mal süffisant, mal staunend, mal geradezu empört. In jedem Fall merkwürdig berührt ob der ungeschützten Aussagen, die den Trägern des Lichtkreuzes entlockt wurden. „Schmerzfrei“ – war der erste Gedanke, den ich beim Zuschauen hatte. Schmerzfrei wegen der entwaffnenden Präsenz eines Heilsereignisses inmitten des Kasseler Einkaufsviertels und zwischengeschalteter Fernsehwerbung für Zahnreinigung und das TV-Magazin Gala.

Es ist gerade diese Unbedenklichkeit des Beieinander von Kreuzweg und Fußgängerzone, die mich ansprach. Denn auf einmal waren diejenigen, die an Gott glauben, erkennbar. Sie wurden nicht versteckt wie sonst. Man hielt ihnen ein Mikrofon unter die Nase und ließ sie sagen: „Ja, ich glaube an Gott!“, „Ja, Gott spielt eine große Rolle in meinen Leben!“, und sogar der aus der Kirche ausgetretene Jesus-Darsteller gab am Ende im Interview zu, dass er „damit noch nicht fertig“ ist und noch sucht und sich vorstellen kann, wieder zurückzukehren, weil offenbar alles das, was man sonst so gerne als entsorgt empfindet, doch eine unheimliche Unverrückbarkeit zeigt. Und zwar im Kreuz Jesu Christi.

 

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Es folgte die nächste Werbepause. Früher hätte ich gedacht: unmöglich! Heute denke ich: Christus kam nicht nur bis Eboli. Er kam auch bis Kassel in die Fußgängerzone. Dort hat er Jünger in der Dönerbude und draußen im Nieselregen. Dort dekuvriert eine RTL-Moderatorin Passanten als gläubige Menschen und entlockt ihnen Aussagen, die wir von Kirchenvertretern schon lange nicht mehr so gehört haben und die sich in einem Kulminationspunkt treffen: Der Glaube an Jesus Christus ist das, was man zum Überleben braucht. 

Die Show bringt etwas in die Herzen, von dem die Kirchen selten sprechen

Die Show ist eine Show, keine Frage, aber sie bringt etwas in die Herzen, von dem die Kirchen in unserem Land selten sprechen – wenigstens nicht so, dass alle es verstehen. Es ist die geradezu schamlose Bekundung der Realität der Erlösung durch den Sohn Gottes. Ich fühle mich ungeahnt wohl in der Showgemeinde. So wie ich mich seit einiger Zeit auch in den Andenkenläden von Lourdes wohlfühle, die ich früher überheblich belächelt habe. Denn dort wie in Kassel greifen Menschen in die Welt Gottes. Ja, sie wirkt im ersten Augenblick wie Tand. Aber sie ist es nicht, weil sie zweifelsfrei aus dem schnörkellosen Zutrauen der Menschen lebt, die sich trotz der vielen Versuche aller möglicher Besserwisser nicht davon abbringen lassen, an die Liebe Gottes zu glauben, die sie selbst groß und unersetzlich macht. Manchmal ist der Glitzerrosenkranz am Autospiegel eben doch mehr als nur ein Talisman. 

„Wenn Privatfernsehen zum religiösen Bekenntnismedium wird“ entglitt es der Welt in ihrer Reaktion auf „Die Passion“ und gab zu, dass immer schon „Populärkulturelles bei Jesu Leiden und Sterben durchaus Tradition“ hat. Und dass von daher die Inszenierung inklusive der Tränen der zahlreichen Zuschauer in Kassel und in den Wohnzimmern ihre Berechtigung hat, weil eben die Welt der aszetisch-intellektualistischen Hochwertadaptionen der Leidensgeschichte Jesu kein Copyright auf die Machart moderner Passionsaktualisierungen hat. Genauso wenig wie es bisher, so sagt die Welt, einen Hinweis gibt, „dass Gott die Exklusivrechte für Passionsaufführungen dem Verein für besinnlichen Minimalismus übertragen hätte“.

Was Theologen und Kirchenleute lernen können

Vielleicht können die emsigen Verkünder der Paradigmenwechsel in Theologie und Kirche hier einmal lernen, wie es um die Sehnsucht vieler Menschen bestellt ist, wenn es ums Ganze geht, um Lieben und Leiden, Leben und Tod. Eine Sehnsucht, die berechtigt ist und Antworten sucht, die sie nicht in die programmatischen und unpersönlichen Klima-, Planeten- und Genderrettungsboote umsiedeln will. Und die auch nicht von ausgelutschten Abstrakta wie „Wertschätzung“, „Nachhaltigkeit“ oder „Diversität“ bedient werden will, sondern von einem Heiland. Ja, von einem Heiland, der lebt und stirbt für die Seinen. 

Pilatus hilft der Fernsehgemeinde, das zu verstehen, was auf Golgotha geschehen ist. Allein ein monströser Nagel reicht aus, um die Schilderungen einer Kreuzigung aus der akademischen Distanz in die Nähe zu holen. Die im Hintergrund projizierten Bilder des Kruzifixes aus der Kunstgeschichte stellen die Show in einen traditionellen und sakralen Rahmen. Stille. Nach dem letzten Werbeblock für Zeug, das keiner braucht, ersteht Jesus auf. 

Auf dem Dach eines Geschäftshauses, das in die gnädige Dunkelheit der Nacht gehüllt ist. Der Auferstandene ist indes gut ausgeleuchtet und in Weiß gekleidet. Happy End?! Ja, ein gutes Ende in einem neuen Anfang. „Die Passion“ hat es geschafft, dass ein paar Millionen Menschen dem nahekommen konnten.

Mischung aus evangelikalem Zeugnisgeben und traditioneller Botschaft

Die einen durch Erinnerung und eine neue Aufmerksamkeit für das, was man sonst schamvoll für sich behält, andere durch die ungewöhnliche Inszenierung, wieder andere durch den offensiven Umgang der Akteure mit ihrem Glauben und den Zeugnissen, die damit verbunden waren.

Es war über allem jedoch die geradezu rücksichtslose Einbettung der Gegenwart Gottes in die Welt von RTL und seiner Jünger. Dahinein, wo man es nicht vermutet hätte. Man durfte sich zu Christus bekennen. Manchmal unbeholfen und sentimental, aber ehrlich und offen. 

Diese Mischung aus evangelikalem Zeugnisgeben und traditioneller Botschaft war allein durch die sie umgebenden boulevardesken Elemente imprägniert gegen die sonst üblichen Verheutigungsversuche des Evangeliums. Im Gegenteil, sie schützte die Botschaft vor ihrer symbolistischen und oftmals politisierenden Vernichtung. Vielleicht hat sie deswegen so viele Menschen erreicht und berührt. Weil die Via Dolorosa in Kassel so schmerzfrei gottvoll war.

 

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