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Kolumne „Berliner Luft“

Ich liebe Berlin, und ja, das geht

Wir schreiben das Jahr 2014. Ich komme am S-Bahnhof Beusselstraße an. Zwei Koffer, ein Arbeitsvertrag und eine Wohngemeinschaft. Natürlich Altbau. Alles andere wäre nicht Berlin. Mein Zimmer ist zufällig ein sogenanntes Berliner Zimmer. Dieses durchgeschleifte Eckzimmer einer Wohnung, das in den Innenhof blickt oder besser gesagt – gegen die Hofmauer.

Schon dieses Zimmer erzählt viel über Berlin. Es stört. Es passt nicht. Es ist unpraktisch. Aber es liegt im Zentrum einer Altbauwohnung. Im Sommer ist das wenige Tageslicht der beste Freund. Im Winter vereist es. „Aufzeichnungen aus einem Kellerloch“ – so könnte ich meine Zeit im Berliner Zimmer betiteln. Aber ganz so düster wie bei Dostojewski war es nicht. Stuck, wunderschöner Dielenboden, 35 Quadratmeter Fläche: Das kompensiert selbst längere Aufenthalte im Halbdunkel.

Mein Berliner Zimmer kurz nach dem Einzug: Es ist unpraktisch. Aber es liegt im Zentrum einer Altbauwohnung. Im Sommer ist das wenige Tageslicht der beste Freund. Im Winter vereist es

Im Halbdunkel flimmerte damals auch das letzte Blaulicht im Beusselkiez. Es war Teil der Kulisse, die langsam abgebaut wurde. Während am Straßenrand die letzten Prostituierten verschwanden und hin und wieder der Anstandslose an der Straßenecke zum letzten Mal onanierte, wurde ein Jahr vor meinem Umzug, 2013, die Emdener Straße zu der schönsten Deutschlands gekürt.

Auch das Aussichtslose hat seinen Charme, und ein schlechtes Image schützt

Damit bin ich beim ersten Grund, warum ich Berlin sehr mag: die Dynamik. Nichts stagniert in der Stadt. Alles ist in Bewegung. Immer wieder. Nur ich nicht. Ich bin Moabit bis heute treu. Der Grund ist banal: Ich habe schlicht und ergreifend nie woanders eine Wohnung gefunden. Aber auch das Aussichtlose hat seinen Charme. Nach so langer Zeit darf ich mich wohl offiziell Moabiterin nennen. Ein Gefühl der Zugehörigkeit in einer Großstadt ist vergleichbar mit einem Lottogewinn.

Moabit ist ein Exot unter den Berliner Kiezen. Es ist eine echte Insel, umgeben von Wasser: Spree, Kanäle, Westhafenbecken. Im Süden führen Brücken zum gepflegten und sehr schönen Tiergarten. Im Norden befinden sich die rauchenden Industrieanlagen des Westhafens und führen zum heruntergekommenen Bezirk Wedding. In Moabit ist man fußläufig am Brandenburger Tor. Wer hier lebt, lebt im Herzen der Hauptstadt.

Trotzdem schafft es der Kiez, ein Vorort-Flair beizubehalten: Die Anzahl der Cafés und Restaurants ist auch heute noch überschaubar. Genauso wie die Fluktuation der Kiez-Bewohner. Moabit haftet noch immer das Blaulicht-Image von früher an – als sei der Bezirk ein gefährliches Pflaster. Das ist er schon lange nicht mehr. Doch genau dieses alte Image schützt ihn bis heute vor der Gentrifizierung, wie sie etwa der schwabendominierte Prenzlauer Berg durchlaufen hat.

Im Spreebogen spazieren: Zu Fuß zum Brandenburger Tor

Ein Bär, der sich nicht einsperren lässt

Moabit liegt mitten in der Stadt, aber kaum ein Berliner nimmt den Kiez wirklich wahr. Ich genieße das. Wer will schon im ständigen Trubel wohnen? Vielleicht nur jene, die einmal im Jahr den CSD besuchen. Und damit bin ich bei meiner zweiten Liebeserklärung an Berlin: der Freiheit.

Nein, ich bin keine Freundin des CSD. Es gibt für mich keinen Anlass im Jahr, an dem Menschen nackt über die Straße laufen müssen. Der CSD ist die überdrehte Version des Freiheitlichen – so frei, dass es schon wieder einengt. Und trotzdem mag ich vieles, was das freiheitliche Berlin ausmacht: kreative Outfits, schräge Bars, vegane Küche, ulkige Fusion-Experimente. Selbst Karls Erdbeerhof, das Disneyland des Berliner Umlands, darf gern existieren.

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Auch wenn ich manches davon meide oder belächle – es steht für etwas, das in Deutschland immer mehr verschwindet: die Freiheit, kreativ zu denken. Und die Toleranz, die es dazu braucht. Kein Ort im Land bringt dafür so viel mit wie Berlin. Vielleicht liegt’s am Boden selbst – als wäre diese Stadt auf energetischem Nährboden für Schabernack, Widerspruch und Widerstand gebaut. Nicht einmal der schlimmste Diktator konnte sie je zähmen. Ein Bär, der sich nicht einsperren lässt. Berlin macht, was es will. Und genau deshalb fühle ich mich hier wohl – egal, wie schlimm es manchmal ist.

Wer Sicherheit und Ordnung sucht, wird hier nicht glücklich

Damit die dritte und vorerst letzte Huldigung: die Kontraste der Stadt.

Berlin lebt von Gegensätzen. Wer Sicherheit und Ordnung sucht, wird hier nicht glücklich. Es gibt zwar für alle etwas, aber nicht alles passt zu jedem. Wer sein Auto nachts offenlassen will, zieht in den Bezirk Schmargendorf im sicheren Westen der Stadt. Wer den Nervenkitzel braucht, bewohnt das Erdgeschoss in Kreuzberg – wenn er dort noch eine Wohnung findet. Heute ist das so, morgen kann’s schon anders sein. Regierungen wechseln, Mieten steigen und sinken, Kieze kippen oder „sie sind im Kommen“ – so heißt es, wenn ein Bezirk sich ins Positive verändert.

Härter als jedes Schweigekloster: Wohnblock an der Beusselstraße, Berlin-Moabit
Alt-Moabit. Ob ein Kiez im Kommen ist – alles eine Frage der Perspektive

Positiv ist, wie alles in dieser Stadt, eine Frage der Perspektive. Was heute alternativ ist, wird morgen bürgerlich und umgekehrt. Der Beusselkiez war auch mal härter, wie zu Anfang beschrieben. Jetzt ist er gesitteter. Es kommen Menschen aus dem In- und Ausland. Aber viele davon verzweifeln irgendwann und reisen schließlich ab.

Wer Klarheit will, hofft, dass sein Kiez so bleibt wie zu Beginn. Doch gerade eine Großstadt verändert sich immer. Wer damit nicht klarkommt, sollte lieber gehen, statt sich zu beschweren. Wobei in Berlin die Kultur der Empörung auch ihre ganz eigene Geschichte hat. Als Wahlberliner muss man offen sein für Wandel, ohne sich selbst zu verlieren. Man kann auch sagen: Berlin ist ein Bootcamp für Körper, Geist und Seele. Härter als jedes Schweigekloster. Denn am Ende besteht nicht, wer die Stadt ermüdend, schön oder hässlich findet – sondern wer Berlin für sich nutzt.

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