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Kolumne „Ein bisschen besser“

Ticktack

Wir leben manchmal an einem Ort, der von Anmut nicht zu überbieten ist: Berge schwingen sanft nach Süden aus, während sie im Norden gewaltig aufragen. Dazwischen erstreckt sich der See bis zum Horizont mit blau-schwarzem Wasser, rausgeputzte Dörfer liegen am Ufer. Die Sonne wärmt noch immer bis in den Abend und die dicken Mauern des alten Hauses in meinem Rücken werden den Sommer noch für eine Gangreserve länger in sich bewahren. Meine Frau Judith und ich haben diesen Ort gewählt, um die Heiterkeit unserer Herzen zu schützen, oder ihnen welche einzuflößen, wenn sie aus dem Takt geraten.

Es gibt zwei Wege, um sie aus ihrem Takt zu bringen: Der eine ist der, den die Welt für uns bereithält, die nämlich selten sanft nach Süden ausschwingt, sondern sich ausgerechnet heute solche Ungeheuerlichkeiten leistet, wie einen nächsten Krieg, diesmal in Israel, das uns viel näher steht als die Ukraine, und wo es nicht reichen wird, dass Aufrechtmeinende das Brandenburger Tor jetzt illuminieren von den blau-gelben ukrainischen zu den blau-weißen israelischen Nationalfarben.

Der Weg, den alles Menschliche geht

Es wird mehr nötig sein, als eine WhatsApp-Gruppe namens „Israel Under Attack“ zu gründen, auf der sich in Windeseile Wohlgesonnene treffen und uns einladen, schauerliche Nachrichten aus dem Land unter Feuer auszutauschen, stets verbunden mit der Versicherung, wie sehr sie das Geschehen doch verabscheuten. „Was hast du gemacht, um Israel zu helfen?“ – „Ich haben eine WhatsApp-Gruppe geründet“, lautet die Antwort an diesem Wochenende im 21 Jahrhundert.

Der andere Weg, den Takt der Herzen zu verwirbeln ist der, den alles Menschliche geht, das niemals gleichmäßig schlägt wie eine Uhr, sondern fliegt und schleudert und bremst und stockt und rast und rutscht.

Wir finden keine Antworten, weil wir die Fragen nicht benennen

Wenn die eigene Perspektive solcherart Fahrt aufnimmt, dann ist die Heiterkeit wie weggeblasen, der See ist tief, die Berge sind rau, die Nebel versperren nicht nur die Sicht, sondern ziehen durchs Hirn. Das Töchterchen stürzt sich das Kinn blutig. Wir schweigen das Leben an, und es schweigt zurück. Wir finden keine Antworten, weil wir die Fragen nicht benennen.

Ein bisschen besser ist es dann, den Rucksack zu packen, das Sackmesser zu verstauen, die Kleinste auf die Schultern zu hieven, auf Pilze zu hoffen, sich über Täler hinaufzustemmen, Eidechsen zu fangen, auf Quellen zu stoßen, eiskaltes Wasser zu schlürfen und zu spüren, wie all das Wunderbare den Takt der Herzen kalibriert. „Tick“, sage ich. „Tack“, sagt Judith.

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