Gänsehaut

Die Wände sind gut und gern ihre sieben Meter hoch. Ölbilder zeigen Familienangehörige mit strengem Blick, die alle irgendwie Alfred oder Berta oder Gustav heißen. Es riecht nach dem Staub der Jahrhunderte, obwohl alles blitzblank geputzt ist.
Ich muss unweigerlich mit den Fingern über den holzglatten Arbeitstisch streichen, auf dessen Fläche diese neuzeitlichen Großstadthotels ein gesamtes Badezimmer unterbringen würden. Darauf ein von Familien- und Firmengeschichte überschweres Buch im dunklen Ledereinband. Ich blättere darin, Judith schießt das Foto. Was darauf nicht zu sehen ist: meine Gänsehaut. „Goose bumps“, wie die Amerikaner sagen, die hier im Jahr 1945 Alfred Krupp verhaftet haben.
Keine E-Pioniere, sondern Stahlbarone
Wir streifen durch die Villa Hügel, den Prachtbau der wahrscheinlich einst mächtigsten Familie der Welt in Essen. Vor hundert Jahren hießen die Elon Musks ihrer Zeit Alfred Krupp oder Friedrich von Bohlen und Halbach. Sie waren keine E-Pioniere, sondern Stahlbarone.
Einer ihrer Neffen führt uns heute durch die Gemächer: Kinderzimmer, Bäder, Orgelempore, Chinasalon, Swimmingpool, Küchentrakt, Zofenzimmer. Der Onkel hatte Sprechzeiten für seine Kinder eingerichtet, erinnert er sich.
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Wir klettern durch die Herzkammer der deutschen Wirtschaft, die auch die Waffenschmiede eines verbrecherischen Reiches war. Jetzt ist sie eingelegt wie ein Organ in Formaldehyd. Als es schlug, bewegte es einen Riesenkreislauf des Lebens und des Todes, jetzt dient es noch zu Studienzwecken. Goose bumps.
Später, als Judith und ich wieder zu Hause sind, kommt uns hier alles klein vor. Meine Fantasie kreist ums Zofenzimmer, was ich natürlich nicht zugebe. Judith überlegt, ob es vielleicht ein bisschen besser wäre, wenn auch wir uns in Öl malen lassen, um streng von der Wand zu blicken. Gemeinsam stellen wir uns die Küche unter Volldampf vor.
„Sprechzeiten für die Kinder“, denke ich sehnsüchtig
„Wer arbeitet, macht Fehler. Wer viel arbeitet, macht mehr Fehler. Nur wer die Hände in den Schoß legt, macht gar keine Fehler“, hat Alfred Krupp aufgeschrieben und sich damit selbst eine Absolution erteilt. Er wurde 1951 begnadigt, kehrte zurück, baute sich ein neues Haus gegenüber, betrat die alte Villa nur noch selten und schuf noch einmal Ende der fünfziger Jahre aus den Trümmern den größten Konzern Deutschlands. Ein Wiederaufsteh-Mensch. Goose bumps.
Als Judith und ich das Licht an diesem Abend ausmachen und uns der Nacht hingeben, schreit das Töchterchen oben. „Sprechzeiten für die Kinder“, denke ich sehnsüchtig. Ein Traum von Cognac im Chinasalon schleicht sich in den Kopf.
Meine Frau streicht mir mit den Fingern über den Rücken, und mein letzter Gedanke für heute ist, dass es Goose bumps auch in der Drei-Zimmer-Wohnung gibt.
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