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Kolumne „Der Philosoph“

Der Sport und das Absolute

Die gleichermaßen skandalträchtige wie geschmacklose Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris böte genug Stoff für eine kultur- oder geschichtsphilosophische Kolumne über das zivilisatorische Endstadium einer Kultur. Aber wenn man zu sehr den Gedanken des Niedergangs nachhängt, schlägt das selbst den nüchternsten Philosophen aufs Gemüt. Ich will mich daher sowohl um meiner als auch des Lesers Stimmung willen lieber einem anderen Thema zuwenden – und trotzdem bei Olympia bleiben.

Denn gerade als rein sportliches Großereignis ist Olympia eine philosophisch faszinierende Sache. Anhand der Olympischen Spiele lässt sich nämlich die grundsätzliche Frage nach dem Sinn von Sport und Wettkampf stellen. Sicher, da ist das allzu offensichtliche kapitalistische Interesse der Vermarkter, Werbepartner und Lizenzgeber. Aber das ist eine Äußerlichkeit, die mit der Sache an sich, dem sportlichen Wettbewerb, nichts zu tun hat.

Der Wettkampf hat selbst eine kulturstiftende Funktion

Der sportliche Wettkampf ist so alt wie die menschliche Kultur selbst. Ja, das agonale Prinzip des Sports hat, wie etwa der niederländische Kulturtheoretiker Johan Huizinga (gest. 1945) herausgearbeitet hat, selbst eine kulturstiftende Funktion. Sich freiwillig und ohne unmittelbaren Nutzen daraus ziehen zu können den Regeln eines Spiels zu unterwerfen und dabei nach Höchstleistungen zu streben, bringt die Freiheit und schöpferische Kraft des Menschen zum Ausdruck: Nicht um eines Zieles willen, das außerhalb der Welt des Sports steht, tritt der Wettkämpfer gegen seine Kontrahenten an. Es ist ihm vielmehr an diesem sportlichen Messen selbst gelegen und daran, auszuloten, wozu er fähig ist, wenn es darauf ankommt.

Der sportliche Wettkampf ist damit mehr als nur rein körperliche Aktivität, sondern vielmehr Leibesübung, mithilfe derer die Möglichkeiten und Grenzen des Menschseins ausgemessen werden. Das Wort „Leib“ hat in diesem Zusammenhang, anders als „Körper“, auch eine geistig-seelische Komponente: Der menschliche Leib ist der beseelte Körper eines geistigen Individuums.

Kunst, Religion und Philosophie als höchste Formen menschlichen Tuns

Das freie Spiel lässt sich im Ansatz auch schon in der Tierwelt beobachten, etwa wenn zwei Hunde sich spielerisch balgen, wobei sie sich mit Blick auf die unterwürfige und die dominante Rolle sogar abwechseln können. Aber ein Kräftemessen im Rahmen selbstgesetzter Regeln, denen sich die Teilnehmer freiwillig und unter der Leitidee eines fairen Wettkampfes unterwerfen – dazu ist nur der Mensch in der Lage.

Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel sah Kunst, Religion und Philosophie als die höchsten Formen des menschlichen Tuns an. Indem er Kunst, Religion und Philosophie betreibe, setze sich der Mensch in ein Verhältnis zum Absoluten – zu dem, was ihn als endliches und vergängliches Individuum übersteigt – und erfahre gerade dadurch, was er in Wahrheit ist: ein geistiges Wesen, das zwar endlich, aber zugleich der Begegnung mit dem Absoluten fähig ist.

Der Mensch, so zeigt der Sport, drängt immer über sich hinaus

Der Sport findet bei Hegel keine Erwähnung, ließe sich aber durchaus als weitere Gestalt des „absoluten Geistes“ ergänzen. Denn auch im sportlichen Wettkampf übersteigt und überbietet sich die Menschheit stets aufs Neue – und kommt doch nur bei einem neuen endlichen Ergebnis an. 1912 lief der US-Amerikaner Donald Lippincott damals atemberaubende 10,6 Sekunden auf hundert Meter. Knapp hundert Jahre später liegt der Weltrekord von Usain Bolt aus Jamaika bei schier unglaublichen 9,58 Sekunden. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch diese Bestmarke gerissen ist.

Egal, wie weit er es schon gebracht hat, im Menschen schlummert stets noch unverwirklichtes Potenzial. Der Mensch, so zeigt der Sport, drängt immer über sich hinaus. Er will zeigen, dass er mehr sein kann als das, was er bereits ist. An diesem zutiefst bewegenden Schauspiel kann man sich als Zuschauer selbst dann erfreuen, wenn einem die ideologische Rahmung wie in Paris höchst zuwider ist.

 

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Kommentare

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Andreas Graf
Vor 4 Monate 1 Woche

Olympia 2024 in Paris ist ein transhumaner Frevel. Es ist die Olympiade des menschenhassenden, weil sein heiliges Antlitz hässlich verzerrenden Transhumanismus. Die italienische Boxerin Angela Carini wurde gezwungen, gegen einen Mann, den Algerier Imane Khelif, anzutreten und verlor prompt nach wenigen Sekunden. Über eine solche "ideologische Rahmung" mag ich mich nicht erfreuen. Über ein solches "unverwirklichtes Potential" verzichte ich gerne.

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Andreas Graf
Vor 4 Monate 1 Woche

Olympia 2024 in Paris ist ein transhumaner Frevel. Es ist die Olympiade des menschenhassenden, weil sein heiliges Antlitz hässlich verzerrenden Transhumanismus. Die italienische Boxerin Angela Carini wurde gezwungen, gegen einen Mann, den Algerier Imane Khelif, anzutreten und verlor prompt nach wenigen Sekunden. Über eine solche "ideologische Rahmung" mag ich mich nicht erfreuen. Über ein solches "unverwirklichtes Potential" verzichte ich gerne.