Christliches Fasten schafft Kultur
Die Fastenzeit hat begonnen. Mich erstaunt, wie viele Menschen in meinem Umfeld, die keine praktizierenden Christen oder vielleicht sogar gänzlich areligiös sind, sich während dieser Zeit auf irgendeine Weise in Verzicht üben. Die einen essen keine Süßigkeiten, die anderen trinken keinen Alkohol, wieder andere schränken ihren Medienkonsum ein.
Freilich ist Fasten nicht gleich Fasten. Das säkulare Fasten hat heutzutage typischerweise zum Ziel, fitter oder gesünder zu werden, sich einfach besser zu fühlen. Das christliche Fasten dagegen ist eine bewusste Entsagung aus Liebe zu Christus, durch die wir Gott näher kommen wollen.
Jedem Fasten, ob es nun säkular oder religiös motiviert ist, liegt jedoch die Fähigkeit zugrunde, freiwillig auf etwas zu verzichten. Diese Fähigkeit erfüllt eine äußerst wichtige anthropologische Funktion. Denn nur ein Wesen, das in der Lage und bereit ist, die unmittelbare Befriedigung seiner Bedürfnisse aufzuschieben, kann überhaupt so etwas wie eine Kultur errichten.
Hegels berühmte Passage über Herr und Knecht
Beim Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel gibt es eine berühmte Passage über das allegorische Verhältnis von Herr und Knecht, die man auch mit Blick auf den Zusammenhang von Verzicht und Kultur deuten kann: Der Herr lässt den Knecht für sich arbeiten und genießt dann die Früchte der fremden Arbeit. Dagegen muss der Knecht sich den Genuss versagen; er ist gezwungen, seine Begierde zu hemmen.
Genau durch diesen Verzicht durchläuft der Knecht aber einen asketischen Bildungsprozess. Während man am Anfang vielleicht den Herrn für frei und den Knecht für unfrei halten könnte, erweist sich bei näherer Betrachtung das Gegenteil als wahr: Der Knecht allein ist nämlich in der Lage, seine Leidenschaften zu kontrollieren, sich freiwillig Vorgaben und Normen zu unterwerfen und dadurch unabhängig und selbstbestimmt zu handeln.
Der zur Passivität verdammte Herr dagegen ist sowohl von seinen Gelüsten als auch der Arbeit eines anderen abhängig. Eine Pointe, die sich aus Hegels „Herr und Knecht“ ziehen lässt, lautet also: Nur Wesen, die Verzicht gelernt haben, können Herrschaft über sich selbst erlangen und dem menschlichen Zusammenleben eine selbstgewählte Form von Bestand geben, das heißt: eine Kultur errichten.
Die Vermehrung der Bedürfnisse kennt keine Grenzen
Eine Hochkultur wiederum entsteht nur, wenn der Mensch die Ressourcen und Kräfte, die durch die Bereitschaft zum Verzicht frei werden, in Dinge investiert, die nicht nur von materiellem Nutzen, sondern von geistigem Wert sind. Die Kathedralen des Mittelalters konnten nur errichtet werden, weil Menschen für Höheres als ihr irdisches Wohl zu verzichten bereit waren. Ohne die Spendenbereitschaft des Klerus und des Volkes etwa wäre der Kirchenbau nicht möglich gewesen. Zugleich aber gehört es zum Entwicklungsgang aller Hochkulturen, dass es zu einer Vervielfältigung der Bedürfnisse und der Mittel zu ihrer Befriedigung kommt.
Wie ebenfalls Hegel bemerkte, ist der Zahl der möglichen Bedürfnisse im Falle des Kulturwesens Mensch keine feste Grenze gesetzt: Alles kann noch praktischer oder bequemer sein, und immer können neue Dinge erfunden werden, von denen man bis dahin gar nicht wusste, dass man sie braucht, ohne die man aber nach ihrer Erfindung nur schwer leben kann.
Aus dem Phänomen der unendlichen Bedürfnisvermehrung jedoch speisen sich Hedonismus und Dekadenz – und diese haben bisher noch jede Hochkultur zu Fall gebracht. „Vomunt ut edant, edunt ut vomant“ – „sie speien, um zu essen, und sie essen, um zu speien“, schrieb schon der römische Philosoph Seneca über seine dekadenten Zeitgenossen und brachte damit die in der Geschichte immer wiederkehrende Tendenz zur Maßlosigkeit auf den Punkt.
Leibfeindliche Askese hier, dekadente Genusssucht dort
Für eine Gesellschaft ist es geradezu eine Frage des Überlebens, dass ihre Mitglieder immer wieder ihr asketisches Potential aktivieren. Dabei ist entscheidend, dass der temporäre Verzicht nicht nur dazu dient, sich im Anschluss umso hemmungsloseren Ausschweifungen hingeben zu können.
Allerdings gibt es auch eine falsche, weil leib- und lebensfeindliche Askese, die ebenso widernatürlich – das heißt, der eigentlichen Bestimmung des Menschen entgegen – ist wie die dekadente Genusssucht. Der Mensch ist zwar ein geistiges Wesen, aber eben eines aus Fleisch und Blut; Leib und Seele bilden bei ihm eine wesensmäßige Einheit. Wenn wir also freiwillig auf die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse verzichten, dann sollte dies nicht aus Verachtung für unsere körperliche Existenz geschehen, sondern mit dem Ziel, uns mit Leib und Seele auf etwas Höheres und Bleibendes auszurichten.