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Kolumne „Der Philosoph“

Was ist das Böse?

Die Nachrichten künden wieder einmal von bestialischen Gewalttaten – im Nahen Osten, aber auch vor unserer eigenen Haustür. Besonders grauenhaft ist es, wenn Kinder die Opfer sind oder wenn sie selbst zu Tätern werden. Erst vor ein paar Tagen sollen drei Jugendliche im Alter von 14 und 15 Jahren einen Obdachlosen abgestochen haben. Und das ist nicht der einzige Fall aus der letzten Zeit: Im März ermordeten bei Siegen zwei Mädchen, sie waren gerade einmal 12 und 13 Jahre alt, eine Mitschülerin; im April tötete ein 11-Jähriger eine 10-Jährige in Bayern. Die Feststellung, dass es sich bei diesen Taten um schwere Verbrechen handelt, ist zwar korrekt, sagt aber noch viel zu wenig: Müssen wir hier nicht vielmehr ins metaphysische Register wechseln und vom Bösen sprechen?

Die Konfrontation mit dem Bösen erweckt in uns nicht selten den Vernichtungswillen im Namen des Guten: Dem Bösen dürfe nicht mit Verständnis, sondern nur mit Härte begegnet werden. Bei bestimmten Taten gebe es einfach nichts zu bedenken oder zu besprechen. Vielmehr gelte es, das Böse an der Wurzel zu packen und herauszureißen. Angesichts des Bösen habe das psychologische und soziologische Palaver, das jeden Täter durch schier endlose Ursachenforschung selbst zum Opfer erklären und damit jede Untat moralisch neutralisieren möchte, zu verstummen. In diesem Sinne sprach etwa jüngst der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mit Blick auf das Treiben der Hamas von einem Bösen, das es auszurotten gelte.

Vor den zwei Extremen gilt es zu warnen

Für eine Entschuldigungssoziologie, die die Übeltäter zu exkulpieren und die Existenz des Bösen gänzlich zu leugnen versucht, möchte ich keine Lanze brechen. Allerdings gibt es auch die Gefahr des entgegengesetzten Extrems. Dieses besteht darin, das Böse für eine eigenständige Größe und Macht und damit einen prinzipiell ebenbürtigen Gegenspieler des Guten zu halten. Im Gegensatz dazu hat die abendländische Philosophie das Böse über Jahrhunderte hinweg als etwas in sich Unwirkliches und Negatives, als einen bloßen Mangel an Gutem begriffen.

Es ist verlockend, aber letztlich lächerlich, diese Sichtweise als vormoderne Naivität gegenüber dem Bösen abzutun. Als ob die Menschen der Antike und des christlichen Jahrtausends, das man „Mittelalter“ nennt, keine Erfahrungen mit dem Bösen gehabt hätten! Nein, die Gründe für die These, dass das Böse nur ein Mangel, eine Privation ist, liegen tiefer und sind theologischer sowie philosophischer Natur.

Zum einen steht die Annahme, dem Bösen komme ein eigenständiges Sein zu, im Widerspruch zur Existenz eines vollkommenen und daher auch vollkommen guten Schöpfergottes. Umso schlimmer für die Gläubigen, könnte man vielleicht meinen. Aber so einfach sind die Dinge nicht, gerade auch für einen Atheisten. Denn wenn man dem Guten das Böse als ein selbständiges Prinzip gegenüberstellt, verliert das Gute seine Leitfunktion für unser Leben und Handeln. Existierte das Böse ebenso aus sich selbst heraus wie das Gute, könnten wir das Böse nämlich nicht mehr am Guten, sondern nur noch an sich selbst messen und beurteilen. Es mangelte an einem übergeordneten Standard, dem zufolge das Gute besser wäre als das Böse. Es gäbe, anders formuliert, keine objektiven Gründe dafür, das Gute dem Bösen vorzuziehen.

Für sein Unwissen ist jeder selbst verantwortlich

Zum anderen ist da die schwer zu bestreitende Tatsache, dass jeder Mensch nach dem Guten strebt oder zumindest danach, was er für gut erachtet. „Niemand“, so erklärt schon Sokrates seinen Gesprächspartnern in Platons Dialog „Protagoras“, „geht aus freier Wahl dem ‘Bösen’ nach oder dem, was er für ‘böse’ hält.“ Sobald ich nämlich etwas als schlecht oder böse beurteile, befinde ich damit zugleich, dass es nicht sein soll. Mit anderen Worten: Wer das Böse als Böses anspricht, der hat es damit schon als etwas Nichtiges erkannt. Nur um den Preis eines eklatanten Selbstwiderspruchs könnte man etwas für böse und zugleich für erstrebenswert halten.

Daraus folgt, dass jede böse Tat letztlich auf Unwissen basiert, auf einer Verwechslung oder Verdrehung des Guten. Das Urteil des Sokrates, dass das Böse nur aus Unwissenheit getan werde, findet Widerhall in den Worten Jesu Christi am Kreuz „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,34).

Sofort drängt sich ein Einwand auf: Wenn der Täter gar nicht weiß, dass das, was er tut, böse ist, wie kann man ihm dann überhaupt einen Vorwurf machen oder ihm vergeben? Führt uns dieses Denken nicht auf den Abweg jener pauschalen Entschuldigungstheorie, der wir ausdrücklich nicht das Wort reden wollten? Nein! Denn die auf Sokrates zurückgehende philosophische Tradition leugnet keineswegs die Verantwortung des Täters: Für sein Unwissen ist jeder selbst verantwortlich. Es obliegt dem Einzelnen, sein moralisches Wissen zu kultivieren und in Form von Tugenden einzuüben. Die rechte Erkenntnis des Guten ist, anders ausgedrückt, kein Automatismus, sondern eine Aufgabe, die jedem Vernunftwesen überantwortet ist.

Eine Einsicht mit ganz praktischen Konsequenzen

Thomas von Aquin hat die Dinge noch einmal differenzierter dargelegt. Drei Prinzipien liegen dem menschlichen Handeln zugrunde: der Intellekt, die sinnlichen Begierden und der vernünftige Wille. Dementsprechend kann der Mensch auch auf dreifache Weise dem Bösen verfallen: durch einen Defekt des Verstandes, durch Unordnung oder Maßlosigkeit in den sinnlichen Antrieben oder durch eine Korruption des Willens. Letzteres ist, was wir laut Thomas Bosheit (lateinisch: malitia) im engeren Sinne nennen.

Allerdings ist auch der boshafte Wille keiner, der das Böse als solches begehrte. Vielmehr besteht die Boshaftigkeit darin, ein niederes Gut mehr zu lieben als ein höheres. Wer etwa dem eigenen leiblichen Wohlergehen oder der Befriedigung seines Sexualtriebes – beides ist nicht in sich böse! – höhere Wertschätzung zukommen lässt als dem Gemeinwohl, dem Bund der Ehe oder der körperlichen und seelischen Integrität seines Mitmenschen, offenbart seinen bösen Willen. So gesehen ist es sehr wohl möglich, aus freien Stücken Böses zu tun, auch wenn man dabei letztlich immer nach etwas Gutem, aber eben nach dem falschen Guten, strebt.

Die Einsicht in die metaphysische Nichtigkeit des Bösen hat nun auch ganz praktische Konsequenzen. So erweist sich etwa die gängige Forderung, dass das Böse vernichtet werden müsse, strenggenommen als sinnlos: Das Böse hat keinen eigenen Bestand, ist an sich selbst nichts und kann daher auch nicht in einem direkt Angriff vernichtet werden. Der Kampf gegen das Böse muss vielmehr bedeuten, die Verwirrungen und Verkehrungen, die im Hinblick auf das Gute existieren, zu beseitigen und dadurch die rechte moralische Ordnung im Verstand und im Herzen der Menschen wiederherzustellen. Im Kampf gegen das Böse ist der Blick also stets auf das Gute zu richten. Nur so lässt sich nämlich vermeiden, dass das Böse selbst mit jener Blindheit attackiert wird, aus der das Böse überhaupt erst entsteht.

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