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Ausflug an die lettische EU-Außengrenze

Mehr Störche als Menschen

Weites Land, endlose Straßen, verstreut liegende verlassene Gehöfte, mehr Störche als Menschen. Bis zur Grenze, bis zum Zaun. Da ist Schluss, Ende im Gelände. Den Himmel wenigstens können sie nicht zerteilen, sagt Manfred zu Rita im DEFA-Film „Der geteilte Himmel“. Doch, entgegnet Rita. Der Himmel teilt sich zuallererst.

Am Ostrand des lettgallischen Dorfes Goliševa, entlang des Flusses Ludza, verläuft die Grenze zu Russland. Es ist gleichzeitig die EU-Außengrenze und die Grenze des NATO-Gebietes. Der Grenzübergang Aizgārša/Ljamony wurde schon vor zwanzig Jahren von russischer Seite aus geschlossen. Jetzt ist alles verrammelt, die lettischen Grenzabfertigungsgebäude liegen hinter einem massiven Tor. Ein hoher Mobilfunkturm steht ganz in der Nähe. Die darauf angebrachte Technik zeigt auch Richtung Russland. Schilder am Tor weisen auf Fotografier- und Drohnenverbot sowie Videoüberwachung hin.

Der geschlossene lettische Grenzübergang Aizgārša (r.) in Goliševa, Bezirk Ludza

Im Garten eines Holzhauses unmittelbar davor stolziert ein Storch, unbeeindruckt von uns Besuchern. Wir sehen keinen Menschen. Die letzte Bushaltestelle vor der Grenze liegt einen Kilometer weit weg vor der Ortseinfahrt Goliševa. Man passiert das Rathaus, vor dem auf dem Rasen die Umrisse Lettlands in den Landesfarben mit rot-weißem Kies eingelassen sind. Dann noch einige der von vier Seiten verschlossenen Gehöfte und eine verloren dastehende gelb-blaue orthodoxe Holzkirche mit Kirchhof, gewidmet der Lebensspendenden Dreifaltigkeit. Dann ist politisch die Welt zu Ende.

Orthodoxe Holzkirche von Goliševa im Sicherheitsstreifen: Die letzte Bushaltestelle vor der Grenze liegt einen Kilometer weit vor der Ortseinfahrt

„Als wir zu Ostern hier bei der Kirche waren, gab es den Zaun noch nicht“, sagt Raivis. Der Metallzaun ist übermannshoch, er schmiegt sich exakt an den linkerhand mäandernden Verlauf der Staatsgrenze. Raivis parkt den Dacia Duster auf dem zerschlissenen Asphalt des Weges. Wir steigen aus, schlendern den Weg an einem halb zerfallen wirkenden Gehöft aus Holzhäusern entlang, an bestellten Beeten und bleiben schließlich stehen. In zwanzig Metern Entfernung liegt der Grenzzaun, den Lettland hier gebaut hat. Dahinter dichter Laubwald.

Wir schauen Richtung Russland, obwohl es nichts zu sehen gibt, die Bäume sind hüben wie drüben die gleichen. Oder? Wirkt der Wald hinter dem Zaun nicht irgendwie undurchdringlicher, finsterer? Dröhnt hier ein Tritt? Schleicht dort ein Schritt? – Uns täuscht das Ohr. Der Wald steht schwarz und schweiget. Nach den schlimmen Erfahrungen mit hybrider Kriegsführung durch Moskau und Minsk hat Lettland entlang seiner EU-Außengrenze neue Infrastruktur mit Sensoren, Kamerasystemen und Grenzzäunen aufgebaut. Die einzigen Afrika-Migranten, die hier durchkommen, sind die Störche.

Der Zaun hat in dem Abschnitt eine kleine Lücke von einigen Metern. Wir sprechen darüber, „eine Öffnung, warum, wozu dient das?“, zeigen in die Richtung. Ein Wagen fährt hinter unserem Rücken an uns vorbei, weiter in ein abgelegenes Nest. Goliševa endet hier, der zweisprachig auf dem Ortsausgangsschild angegebene Name ist gestrichen. Gološova steht darunter, das ist Lettgallisch, die Urform des Lettischen, die vom lettischen Sprachgesetz geschützt wird. In den katholischen Kirchen Lettgallens wie im nahen Kārsava/Kuorsova ist sie sogar Liturgiesprache.

Wir schlendern zurück, betreten durch die steinerne Umfriedung den Kirchhof. Eine wenige orthodoxe Gräber, zwei sind sogar neueren Datums und gepflegt. Meine Freunde Raivis und Ineta sind schon vorausgegangen. Als ich als letzter das Friedhofstor wieder hinter mir schließe, sehe ich, dass es jetzt aufregend wird: Unser Aufenthalt hier in der Einöde ist nicht unbemerkt geblieben.

Blick über den orthodoxen Kirchhof in Goliševa nach dem Grenzzaun zu Russland

Während wir einmal die Kirche umrundeten, war von den Abfertigungsgebäuden her ein lettischer Grenzbeamter zu Fuß herangekommen. Der Mann ist hochgewachsen, seine Maschinenpistole baumelt mit dem Lauf nach unten. Raivis holt aus dem Auto bereits seinen Ausweis. Ineta erklärt mir kurz auf Russisch, dass es ein Problem gibt, weil wir ohne Genehmigung in der Grenzzone sind. Wir hätten durch Goliševa nur hindurchfahren dürfen, aber anhalten und aussteigen, dafür hätten wir zuvor eine behördliche Erlaubnis beantragen müssen. Schluck. Noch lange vor der Ortseinfahrt stand ein blaues Schild „Pierobežas josla / Borderland“, aber von den Beschränkungen im Sicherheitsstreifen wussten wir nichts. Und ich war noch direkt bis vors Grenztor gelaufen und hatte mit großen Augen alles beguckt.

Der Grenzschutzbeamte mit den kantigen, unverkennbar lettischen Gesichtszügen lässt sich meinen Pass zeigen, mustert ihn aufmerksam und gleicht durch Blicke mehrmals ab, ob Bild und Person identisch sind. Der Anflug eines angedeuteten Lächelns geht über sein Gesicht. Er spricht mit den Letten, deren Gast ich bin, freundlich, bestimmt, ganz und gar nicht unsympathisch, und Ineta erklärt mir, dass er von einer Geldstrafe absieht, uns aber ermahnt, weil wir das Gesetz verletzt haben. Mit einem kurzen Gruß stapft er zurück in Richtung des geschlossenen Grenzübergangs. Wir steigen in den schwarzen Duster und düsen davon. Es dauert ein Weilchen, bis sich der Puls wieder normalisiert hat.

 

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Sommer in Lettlands äußerstem Osten. Die Lastwagen stehen, soweit das Auge reicht. Die vom litauischen Kaunas kommende Überlandstraße trägt zwischen Daugavpils (Dünaburg) und dem lettisch-russischen Grenzübergang Grebņeva/Ubylinka die Nummer A13. Sie schneidet den Ortsrand von Kārsava, von wo es dann noch 13 Kilometer bis zum Schlagbaum sind. Dahinter ist die nächste Etappe das russische Pskow (Pleskau).

Wir zählen die Entfernung nachher über Google Maps ab: Die Lkws stehen auf der fast schnurgeraden, einspurigen Straße im Zwölf-Kilometer-Stau. Mit den rechten Reifen auf dem unbefestigten Seitenstreifen, um Platz für in Richtung Grenze fahrende Pkw freizulassen. Am linken Fahrbahnrand sind in Abständen von ungefähr fünfzig Metern Dixie-Toiletten aufgestellt, nur heißen sie hier anders.

Lettische Bierbüchsen und anderer Abfall liegen im Gras. Wir sehen lettische und litauische Kennzeichen, immer wieder kasachische, manche usbekische, viele serbische Kennzeichen und Fuhren aus Montenegro. Estnische hingegen nur ganz vereinzelt, aber das läge hier, im lettischen Osten, auch nicht auf deren Weg.

Stau in Richtung Russland auf der Fernverkehrsstraße A13 beim Abzweig Bozova

Wir fahren vor bis zum Grenzübergang, passieren dabei ein Dörfchen ohne Stau. Meine Begleiterin, die an der Straße auf einem Hof lebt, dort Honig gewinnt und Seifen produziert, erklärt, dass die Lkws nur außerorts auf der Landstraße stehen dürfen, aber nicht innerorts. Auf dem Platz vor dem Grenzübergang halten Pkws, Insassen steigen aus und vertreten sich die Beine. Obwohl hier genauso Grenzzone ist, wird niemand nach einem Propusk gefragt. Auf der Rückfahrt bitte ich am Stau anzuhalten.

Ein Fahrer stellt gerade an der Rückseite der Fahrerkabine an einem elektronischen Regler etwas ein. Der Mann Mitte vierzig kommt aus Kasachstan und fährt Fracht von Riga nach Almaty. Schon seit drei Tagen wartet er im Stau auf die Abfertigung, „aber ich werde wohl noch zwei Tage hier stehen“. Was er in seinem Kühllaster transportiert, kann oder darf er nicht sagen.

Er lebe schon lange auf diese Weise, erzählt er knapp. Eine ganze Tour von Anfang bis Ende dauere etwa einen Monat. „An allen Grenzen gibt es Stau“, sagt er. Den Kontakt mit der Familie halte er über Smartphone, nachts schlafe er in der Kabine. Mit der Essensversorgung sei es nicht problematisch: „Einheimische kommen mit dem Auto gefahren und bringen Lebensmittel vorbei, gegen Bezahlung selbstverständlich.“ An der Grenze, mit Papieren und Kontrolle, wie gehe es da so? „Die Letten verhalten sich gut, sie sind höflich, es geht ordentlich zu.“ Dann prüft er weiter etwas an der elektronischen Kühlsteuerung. Es ist regnerisch, ich steige auch wieder ins Auto.

Warten, warten, ganz die Ruhe bewahren

Tage später komme ich noch mal wieder. Inzwischen brennt die Sonne vom Himmel. Erstaunlich, was unser Zentralgestirn hier oben leistet, schließlich liegt Kārsava genauso hoch im Norden wie etwa das schottische Edinburgh. Diesmal vertreten sich mehr Fahrer draußen die Beine. Ich spreche einen jungen Fahrer an, braungebrannt und schwarzhaarig, der vor seiner Kabine steht und mit dem Vordermann plaudert. Der hintere kommt aus Usbekistan und habe schon halb Europa durchfahren. Mit nackten Füßen steht er auf dem heißen Asphalt und ist die Ruhe selbst. „Mach es auch so! Die Hitze zieht über die Fußsohlen die Krankheiten aus dem Leib! So bin ich immer gesund.“

Er ist frisch rasiert, trägt die Haare adrett. „Ja, da hinten“, und er deutet in Richtung des kilometerweit entfernten Kārsava, „hinterm Kreisel gibt es ein Motel, da kann man sich duschen für drei Euro.“ Lebensmittel kaufe er auch dort im Städtchen ein, „das ist billiger als bei den mobilen Händlern“. Mit seinen Kenntnissen des Hamburger Hafens macht er mich staunen. „Das deutsche Schengen-Visum ist das beste! Damit gibt es keine Probleme.“ Warschau, Düsseldorf, Rotterdam – er scheint dort wie zu Hause zu sein. Seine Familie lebe in Taschkent, mit seiner Frau und den zwei Kindern bleibt er über Smartphone in Verbindung – „mehrmals täglich“.

In der Schlange hier stehe man so etwa eine Woche. Bei der lettischen Grenz- und Zollabfertigung gehe alles mit rechten Dingen zu, freundlich, korrekt. „Aber am Wochenende arbeiten sie langsamer, besonders sonntags tut sich hier nicht viel.“ Und auf der russischen Seite? Es komme darauf an, an wen man gerate. „Kann so sein, kann so sein“, wiegelt er ab. Vor allem aber zöge sich dort die Prozedur unnötig in die Länge. „Nu, wir sind das so gewohnt.“

Der Vordermann ist dreißig, wirkt aber älter, hat deutliche Schlitzaugen und trägt die schwarzen Haare etwas länger. Wie er es bei der Hitze wohl in einem schwarzen T-Shirt aushält? Er wirkt genauso ruhig, aber etwas gemütlicher noch als sein Wartegenosse in der Lkw-Schlange. „Ich habe drei Kinder und mag meine Arbeit, zweifellos.“ Seine Heimat ist Kirgisien, von Hause aus sei er Autoschlosser. „Ja und, wir sind wochenlang von der Familie weg, aber ich verdiene gut.“ Und man habe hier Gesellschaft, immer jemanden zum Reden, „wsjo narmalna“, alles gut also.

Der Usbeke, der sich eben frisch gemacht hat, will jetzt noch etwas von mir wissen. „Darf ich Sie etwas fragen?“ „Ja, natürlich.“ „Aber ich will Sie nicht beleidigen.“ „Machen Sie sich keine Sorgen.“ „Also“, rückt der junge Mann mit der Sprache raus, „was denken die Deutschen heute über Schicklgruber? Ich nenne ihn“, und er bückt sich kurz, sich am Bein zu kratzen, „absichtlich nicht Hitler.“ Ich bin perplex. Die langen Pausen im Stau nutzt der Mann offenbar für Lektüre. Ob er auch weiß, dass der Schicklgruber in Malnava, einen Steinwurf von der Landstraße weg, am 21. Juli 1941 das Hauptquartier der Heeresgruppe Nord für eine Lagebesprechung besuchte? Der „Hitler-Bunker“ im Garten des Herrenhauses Malnow gehört zu den (zweifelhaften) regionalen „Sehenswürdigkeiten“.

„Hitler-Bunker“: Der Weltkriegsbunker im Garten des ehemaligen Herrenhauses in Malnava soll 1941 für das Hauptquartier der Heeresgruppe Nord gebaut worden sein

Ich stelle den beiden weitgereisten Brummifahrern aus verschiedenen Ländern eine weit persönlichere Frage: Glauben sie an Gott? „Nu, da“, geben sie zurück, was etwa mit „ja, schon“ übersetzt werden kann. „Wir sind Moslems.“ Sie sagen das, der mit den volkstümlichen Gesundheitstipps und der Gemütliche mit den drei Kindern, ruhig, freundlich, ohne Eifer. Mit einem herzlichen Händedruck unter Männern verabschiede ich mich. Beim Nachdenken später fällt mir wieder ein, was mich einmal in einem griechischen Restaurant beeindruckte – ein Schild mit Aufschrift auf Griechisch und Deutsch, „Das Leben hat einen Sinn“. 

 

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