Der nächste Pontifex: Kontinuität, Kompromiss oder Kontrast?

Wie früh darf man nach dem Tod eines Papstes auf seinen Nachfolger spekulieren? Sehr früh, geht es nach den Italienern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. In den Stadtstaaten der Halbinsel war es Brauch, auf den Nachfolger zu wetten, und zwar in einer Frühform der Lotterie. Nicht nur in Rom, sondern auch in Venedig und Genua entstand daraus ein solches Geschäft, dass sich Papst Gregor XIV. gezwungen sah, das Lotteriespiel um das anstehende Konklave mit Androhung der Exkommunikation zu verbieten.
Spekulationen darüber, welcher Kardinal auf den verstorbenen Pontifex folgt, sind daher nichts Neues unter der Sonne – vor 500 Jahren gehörten sie sogar zum guten Ton. Freilich standen die Wettchancen dazumal deutlich höher. Bei den Konklaven um 1500 nahmen rund 40 Kardinäle teil, und die Italiener kannten ihre Favoriten sowie die von Frankreich, Spanien oder Österreich protegierten Teilnehmer. Monarchen machten überdies deutlich, welchen Kardinal sie als Papst am wenigsten auf dem Thron sehen wollten.
In Ermangelung der Vorteile der italienischen Renaissance lautet die Frage daher weniger, wer der nächste Papst wird, als vielmehr, aus welchen Reihen er kommt, welche Qualitäten und welche Verbindungen er hat, um in den engeren Kreis jener papabili zu gelangen, aus denen die Kardinäle zuletzt das Oberhaupt der katholischen Kirche wählen. Bei 135 Kardinälen und viel geringeren Kenntnissen über Rivalitäten, Animositäten und Cliquen fällt das deutlich schwerer als bei den überschaubareren Fronten zu Machiavellis Zeiten.
Franziskus ernannte 108 der 135 wahlberechtigten Kardinäle
Dazu kommen einige Unwägbarkeiten, wie sie die jüngere Geschichte kaum kennt. Ein Papst nutzt die Kardinalsernennung üblicherweise, um Einfluss auf seinen Nachfolger zu nehmen. Von den 135 Kardinälen, die zur Wahl berechtigt sind (das heißt, Kardinäle, die das 80. Lebensjahr noch nicht vollendet haben), hat Franziskus 108 ernannt; Benedikt XVI. 22; Johannes Paul II. 5. Dazu sei gesagt, dass der von Johannes Paul II. ernannte Vinko Puljić aus Gesundheitsgründen wohl nicht am Konklave teilnehmen wird.
Damit machen die bergoglianischen Kardinäle zwar die weit überwiegende Mehrheit im Konklave aus; und in der Tat hätte dies in der Vergangenheit bedeutet, dass der Nachfolger als „Franziskus II.“ das Erbe seines Vorgängers fortgesetzt hätte. Neben der Unbeliebtheit des Pontifikats in den letzten Jahren spricht aber noch ein Punkt dagegen: Eine große Zahl der Kardinäle kennt sich so gut wie gar nicht. Auch ihre theologischen wie politischen Ansichten sind unbekannt.
› Lesen Sie auch: Nachruf auf Papst Franziskus: Der gescheiterte Papst
Die Prälaten Asiens und Afrikas, von denen Franziskus zahlreiche aus Proporz- und Prestigegründen ernannt hat, gelten eher als konservativ. Erzbischöfe, insbesondere in Europa, die traditionell einen Kardinalshut erhalten haben, gingen leer aus – was das „liberale“ Lager eher geschwächt als gestärkt hat.
Ein Hirte muss sich den Wölfen stellen
Kommen wir zu einem Punkt, der seit dem Ableben des Heiligen Vaters kaum im Zentrum stand: nämlich die positiven Aspekte, die Franziskus zur Führung des Papstamtes befähigten. Franziskus hatte eine autoritäre, patriarchalische Ader, die durchaus auch toxische Schlagseite haben konnte. Aber ein Papst braucht als Oberhaupt von fast 1,5 Milliarden Katholiken Durchschlagskraft.
Der Wunsch nach einem „heiligen“ Papst ist verständlich, übersieht allerdings, dass die katholische Kirche in Italien kaum überlebt hätte ohne Persönlichkeiten wie Innozenz III., Alexander VI. und Pius IX., deren Unnachgiebigkeit in politischen Fragen den Bestand des Papsttums als solches sicherte. Bei allen Verdiensten Benedikts XVI. hat dessen Rücktritt der Kirche keinen Dienst erwiesen; dagegen ist der robuste Argentinier gleich zweimal von einer lebensgefährlichen Operation aus dem Krankenhaus zurückgekehrt und hat in päpstlicher Tradition noch den Ostersegen gespendet, bevor er am nächsten Morgen starb. Ein Hirte muss sich den Wölfen stellen (können).
> Abonnieren Sie den Corrigenda-Newsletter und erhalten Sie einmal wöchentlich die relevantesten Recherchen und Meinungsbeiträge
Das ist der Grund, warum die Kardinäle nur im Fall größter Uneinigkeit einen älteren „Übergangspapst“ wählen dürften. Die Situation der Kirche lässt die Wahl eines Geronten im Grunde nicht zu. Der neue Pontifex sollte physisch rüstig genug sein, um die Herausforderungen zu stemmen, die vor ihm liegen. Bergoglio war bei seiner Wahl 76 Jahre alt. Tendenziell sollte der nächste Pontifex jünger sein. Bereits die letzten fünf Jahre seiner Amtszeit waren vom Alter gezeichnet.
Wer als Papst ins Konklave geht, geht als Kardinal hinaus
Die nächste Qualifikation steht im Kontrast zum Stil Franziskus’. Auch wenn der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki im deutschen Fernsehen von einem „Franziskus II.“ schwärmt, so dürfte das Pontifikat aufgrund der Verwerfungen in der Kurie nur von einigen Radikalen unter anderem Namen fortgesetzt werden wollen. Vielmehr wird eine ausgleichende, diplomatische Persönlichkeit Vorrang haben, wobei die ideologische Verortung nachrangig sein dürfte.
Auch das ist der Grund, warum Kandidaten im Franziskus-Orbit – namentlich Pietro Parolin, Luis Antonio Tagle und Matteo Maria Zuppi – sowie progressive Persönlichkeiten vom Schlage Jean-Claude Hollerichs weitaus weniger wahrscheinlich sind, als die Medien behaupten. Ein „liberaler“ Kandidat dürfte in Wirklichkeit bis zum Auftritt an der Loggia des Petersdoms kaum bekannt sein.
Die zehn unten vorgestellten Kardinäle sind daher auch weniger als echte „Top-Kandidaten“ zu sehen, denn vielmehr als stellvertretender Querschnitt der Konklavekandidaten als solche. Es gilt nicht nur die Weisheit, dass derjenige als Kardinal aus dem Konklave herausgeht, der als Papst hineinging; es gehört auch zur Wahrheit, dass die Medien 2005 Jorge Mario Bergoglio als möglichen neuen Papst nannten, nicht aber 2013.
Zehn Typen, zehn Kandidaten

Jean-Marc Aveline (66): Erzbischof von Marseille seit 2019; bekannt für interreligiösen Dialog.
Avelines Name fällt in letzter Zeit häufiger. Er hat in der Vergangenheit Vermittlungsgeschick gezeigt und kennt als Franzose die Herausforderung einer kleineren Kirche mit einer stärkeren Fokussierung auf Glauben und Tradition. Er gilt als tolerant gegenüber der Zelebration der „Alten Messe“ und ist zugleich für den Kontakt und Austausch der Religionen.
Péter Erdő (72): Erzbischof von Esztergom-Budapest; ehemaliger Präsident des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen.
Anders als die EU schätzt der Vatikan Ungarns diplomatische Schaukelpolitik. Kardinal Erdő könnte auch das Schifflein Petri nach den unruhigen Franziskus-Jahren womöglich wieder in ruhiges Fahrwasser bringen. Er gilt als moderater Kandidat mit Kurienerfahrung und als theologisch versiert. Ein Kompromisskandidat, der in der aktuellen Situation seine Chancen hat.

Jean-Claude Hollerich (66): Erzbischof von Luxemburg; Generalrelator der Weltsynode zur Synodalität.
Ein Wunschkandidat der „Reformer“. Mit seinen Ansichten dürfte sich Hollerich jedoch eher am Rande dessen bewegen, was als „papabile“ in der Kurie gilt. Er ist daher eher als Fantasie progressiv-katholischer Journalisten zu bewerten denn als ernsthafte Wahl. Dasselbe ließe sich über die Kardinäle Marx, Roche und Cupich sagen.


Giorgio Marengo (50): Apostolischer Präfekt von Ulaanbaatar, Mongolei; jüngster Kardinal der Kirche.
Marengo dürfte aufgrund seines jungen Alters bei diesem Konklave noch keine Rolle spielen. Ähnlich wie Pizzaballa hat er als Italiener in der Peripherie eine Doppelrolle. Er kennt die Situation der Minderheitenkirche, kann aber ebenso mit dem römischen Klerus kommunizieren. Eher ein Pius-XIII.-Szenario.
Gerhard Ludwig Müller (77): Ehemaliger Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre (2012-2017).
In der Corona-Krise hat Müller insbesondere in den Kirchen Amerikas, Asiens und Afrikas an Ansehen gewonnen, als er sich gegen die Restriktionen aussprach. Der einstige Bischof von Regensburg wurde von Gloria von Thurn und Taxis als „Donald Trump“ des Vatikans bezeichnet. Möglicherweise dürfte aber auch Müller als Kandidat bereits zu alt sein. Er könnte jedoch Einfluss auf die Wahl des nächsten Papstes ausüben.

Pietro Parolin (70): Kardinalstaatssekretär des Vatikans seit 2013; führender vatikanischer Diplomat.
Parolin galt als rechte Hand von Papst Franziskus. Seine Wahl wäre ein „Ratzinger-Moment“ wie nach dem Tod von Johannes Paul II. Ihm wird diplomatisches Geschick nachgesagt, obwohl sein „China-Deal“ von Regimegegnern wie Kardinal Zen stark kritisiert wird. Früher galt er als Favorit. Sein Bezug zum letzten Pontifikat könnte nun zum Ballast werden und ihn gerade deshalb verhindern. Dennoch dürfte der Vizentiner die stärkste Karte im Blatt der „Franziskaner“ sein.


Pierbattista Pizzaballa (60): Lateinischer Patriarch von Jerusalem seit 2020; zuvor Custos des Heiligen Landes.
Als Italiener in der Kurie vermittelbar, ohne in der Kurie zu sein. Er bringt Erfahrungen in der Administration eines „schwierigen“ Bistums mit sich. Ein Kandidat des Ausgleichs und ein Mann, der die Position von verfolgten Christen und Christen als Minderheit kennt. Womöglich der Pontifex, den die römische Kirche braucht; aber ist er auch der Pontifex, den die Una Sancta verdient?

Robert Sarah (79): Ehemaliger Präfekt der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung (2014-2021).
Sarah ist der Liebling vieler Konservativer. Seine Popularität darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Afrikaner schlicht zu alt sein dürfte, um die nötige Durchsetzungskraft im Petrusamt zu entfalten.
Luis Antonio Kardinal Tagle (67): Pro-Präfekt des Dikasteriums für Evangelisierung seit 2022; ehemaliger Erzbischof von Manila.
Tagle galt vor einigen Jahren wie Parolin als einer der Favoriten im Lager derjenigen, die die Linie von Franziskus fortführen könnten. In den vergangenen Jahren hat er diesen Nimbus verloren, auch wegen der nachlassenden Popularität des Pontifikats. Tagle mischte sich im Heimatland Manila politisch ein, kritisierte Homophobie und eiferte im Stil Franziskus nach. Das sind allerdings Auszeichnungen, die beim nächsten Konklave keinen Wert mehr haben könnten.


Matteo Zuppi (69): Erzbischof von Bologna seit 2015; Präsident der Italienischen Bischofskonferenz seit 2022.
Zuppi ist als italienisches Äquivalent von Georg Bätzing bestens vernetzt. Das ist ein Vorteil, lässt ihn aber auch als katholischen „Apparatschik“ erscheinen, wie er derzeit weniger in Mode ist. Zuppi gilt eher als progressiv und hat sich in der Vergangenheit in die italienische Migrationspolitik eingemischt. Ob solche Kontroversen in der Zukunft gewünscht sind, ist fraglich.
> Kennen Sie schon unseren Corrigenda-Telegram- und WhatsApp-Kanal?
Kommentare
Wenn Papst-Spekulationen zum „guten Ton“ gehören, wie der Autor glaubwürdig versichert, kann ich es mir auch nicht verkneifen:
Ist doch klar: Pierbattista Pizzaballa! Moderat konservativ, aber im persönlichen Umgang und Lebensstil - im doppelten Sinne - „franziskanisch“. Er ist Italiener, aber auch irgendwie aus dem „globalen Süden“, mit Erfahrung im interreligiösen Dialog. Und ganz wichtig in Zeiten schlimmer Militärkonflikte: Er ist DIPLOMATISCH!
Natürlich lasse ich mich gerne durch den HEILIGE GEIST „überstimmen“, dessen gute Gaben ich in dieser österlichen Zeit flehentlich erbitte - für unsere Kirche wie für mich persönlich.
@Dr. Gerald Seidel Pierbattista Pizzaballa (60): Jung genug, konservativ genug, aber ohne ein zu großer Affront gegenüber den Progressiven zu sein.
Wenn Menschen einen anderen Menschen ihren 'heiligen Vater' nennen, wird mir ganz komisch und mulmig zumute!
Denn Gott stellt fest, nur ihm allein steht diese Bezeichnung zu!
"... und ihr sollt niemand euren Vater nennen auf Erden; denn einer ist euer Vater: der im Himmel."
(Bibel, Matthäus 23, Vers 9)
Jeder wahlberechtigte Kardinal wird sprechen: „Ich rufe Christus, der mein Richter sein wird, zum Zeugen an, dass ich den gewählt habe, von dem ich glaube, dass er nach Gottes Willen gewählt werden sollte.“
Katholiken in aller Welt vertrauen auf das Gebet und auf den Heiligen Geist. - Was in den Medien als Kirchenpolitik auftritt, atmet den Geist der Weltlichkeit. Die Spekulationen über den Nachfolger von Papst Franziskus gehören dazu.
@Thorsten Paprotny Sind Sie sicher, dass die Wahl eines Papstes im Einklang mit Gottes Willen steht?
Falls ja, warum?
Ein jüngerer Papst wäre schön um auch der Jugend in der Kirche wieder Hoffnung zu geben. Es wäre gut die Ökomene voran zubringen.
Er sollte Frieden bringen was viel Diplomatie erfordert. Das wichtigste damit auch Frauen mehr Stimmen in der Kirche haben.
Doch der Heilige Geist wird sie führen. Amen