Mehr Ideologie wagen

Wenn man von Ideologie spricht, bekommen viele Konservative regelrecht Schnappatmung. Sie denken sofort an verblendete linke Aktivisten, die den gesunden Menschenverstand aufgegeben haben und stattdessen weltfremde Überzeugungen verbissen durchsetzen wollen. Dabei war die anfängliche Bedeutung des Wortes eher neutral bis positiv.
Geprägt wurde der Begriff in den 1790er Jahren vom französischen Philosophen Destutt de Tracy. Er verstand darunter eine Wissenschaft der Ideen – also eine systematische Erforschung der Herkunft, Struktur und Wirkung menschlicher Gedanken. Negativ aufgeladen wurde die Bedeutung zuerst von Napoleon, der ihn als weltfremd verstand und später durch Karl Marx und seiner herrschaftskritischen Umdeutung. Marx legte nicht nur die Grundlagen des Kommunismus, sondern war auch ein großer Polemiker. Er schmähte Tracy als „fischblütigen Bourgeoisdoktrinär“ und gab dem Begriff seine bis heute prägende kritische Wendung. Für ihn waren Ideologien illusionäre Weltanschauungen, die die realen (materiellen) Verhältnisse verschleiern und bestehende Machtverhältnisse rechtfertigen.
Wenn man dem Wort aber auf den Grund geht, bedeutet es letztlich nichts anderes als eine Zusammenfassung von Ideen, Werten, Prägungen und Überzeugungen, die eine Person oder Gruppe leiten. In diesem Sinne hat jeder Mensch eine Ideologie – ob bewusst oder unbewusst. Gerade weil sich viele Konservative nicht mehr offen zu ihrer eigenen Ideologie bekennen, wirken sie oft inhaltlich blass – und verlieren den kulturellen und politischen Deutungswettbewerb.
Konservative reagieren, sie korrigieren nicht
Während linke und grüne Gesellschaftskonzepte immer mehr Einfluss gewinnen, reagieren Konservative meist nur noch defensiv. Warum ist das so? Der englische Schriftsteller G. K. Chesterton brachte das Dilemma bereits vor rund hundert Jahren auf den Punkt: „Die gesamte moderne Welt hat sich in Konservative und Progressive gespalten. Die Aufgabe der Progressiven besteht darin, weiterhin Fehler zu machen. Die Aufgabe der Konservativen besteht darin zu verhindern, dass Fehler korrigiert werden.“
Chesterton berührt hier einen zentralen Schwachpunkt des konservativen Lagers: Konservative reagieren, sie korrigieren nicht. Sie halten auf, verzögern, mahnen zur Vorsicht – aber sie bieten kaum positive Alternativen an. Stattdessen haben sie sich zunehmend auf juristische und wirtschaftliche Felder zurückgezogen, pochen auf Meinungsfreiheit, Grundrechte und Marktprinzipien – und überlassen der Linken das Terrain der Ideen, der Kultur und der gesellschaftlichen Prägung.
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An die Stelle von Inhalten treten bei Konservativen vermeintlich neutrale Begriffe wie „Freiheit“ oder „Fakten“. Doch Freiheit ohne inhaltliche Füllung bleibt leer. Sie ist wie der Resonanzraum, den es unbedingt braucht, doch erst die Instrumente machen die Musik. Fakten erhalten erst durch eine Einordnung in die eigenen Überzeugungen ihre Relevanz. Um eine Gesellschaft zu prägen, zu gestalten und ihr Zukunft zu geben, braucht es genau das: Überzeugungen, Prinzipien, Ideen, das, was im Begriff der Ideologie zusammengefasst wird.
Ideologien stiften Orientierung und Sinn
Ideologien beschreiben nicht, was ist, sondern wofür das Herz schlägt, wofür man lebt – und, wenn nötig, stirbt. Sie geben Orientierung, Motivation und Ziele vor. Linke und grüne Bewegungen nennen klare ideologische Grundlagen und erreichen genau deshalb junge Menschen, weil sie dadurch Begeisterung wecken und Sinn stiften: Es ist der Traum von einer besseren Welt – ein sozialistisch-ökologisches Heilsversprechen, ein säkularer Religionsersatz, für den sie bereit sind zu kämpfen, zu verzichten, Institutionen zu durchdringen, Gesellschaft neu zu formen. Der linke „lange Marsch durch die Institutionen“ war kein Zufall, sondern Ausdruck ideologischer Entschlossenheit.
Konservative hingegen haben sich aus dem ideologischen Kampf um die Gesellschaft zurückgezogen. Während Linke die Geisteswissenschaften, den Journalismus, die Pädagogik und die Kirche geprägt haben, widmeten sich Konservative verstärkt der Betriebswirtschaft, dem Recht und der Verwaltung. Das Ergebnis: Die Deutungshoheit liegt heute fast ausschließlich bei der politischen Linken.
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Der Kulturkampf ist Realität – ob wir ihn wollen oder nicht. Und er lässt sich nicht dadurch gewinnen, dass man bloß die extremsten Auswüchse linksgrüner Politik verlangsamt oder rechtlich einschränkt. Wer bestehen will, muss gestalten. Wer überzeugen will, braucht eigene Ideen. Es genügt nicht, gegen etwas zu sein – man muss für etwas stehen.
Konservativ sein heißt erkennen, dass man empfangen hat, um weiterzugeben
Wie kann sie aussehen, eine konservative Ideologie? Sie ist keine utopische Vision einer fernen, perfekten Welt. Sie gründet auf dem gesunden Menschenverstand, auf der menschlichen Natur. Es ist die Überzeugung, dass es etwas gibt, das größer ist als der Einzelne – etwas, das es zu bewahren und aufzubauen gilt. Es ist die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau, es ist die Familie, das Christentum, die abendländische Kultur. Es ist Rom, München, Köln und Paris. Es sind die französischen Kathedralen, die Vatikanischen Museen, die Werke deutscher Komponisten. Es ist die Geschichte Europas – nicht als Last, sondern als Schatz. Konservativ sein heißt: erkennen, dass man etwas empfangen hat, das man weitergeben muss.
Denn eines darf nicht übersehen werden: Eine gesunde Kultur bringt stabile Familien hervor. Dort, wo Menschen etwas Höheres erkennen – ein Erbe, einen Sinn –, dort entsteht der Wunsch, dieses weiterzugeben. Wenn die Kultur zerbricht, zerbrechen auch die Familien, werden Ehen erst gar nicht geschlossen, verlieren sich die Individuen in Vereinzelung. Wenn es nichts mehr gibt, wofür es sich zu leben lohnt, hört auch das Weiterleben auf.
Konservative haben alles, was es braucht, um dem linken Kulturkampf etwas entgegenzusetzen: Geschichte, Substanz, Schönheit, Wahrheit. Deshalb sollten sie sich nicht länger in die Privatwirtschaft zurückziehen, sondern den Kulturkampf annehmen, politische und soziale Gegenentwürfe zum linken Gesellschaftsumbau liefern. Wenn Konservative ihre Hausaufgaben machen, gibt es keinen Grund, warum sie nicht gewinnen können.
Kommentare
Volle Zustimmung!
Gegen den gepanzerten Konservatismus
Josef Jung hat recht: Der Kulturkampf ist real. Die Institutionen sind ideologisch besetzt – Familie, Glaube, Geschlecht, Nation werden dekonstruiert. Doch seine Antwort greift zu kurz: Der Ruf nach mehr konservativer Ideologie endet bei ihm in der alten Versuchung, Ordnung durch Staat zu sichern. Genau das ist der Fehler.
Konservative verlieren nicht, weil sie keine Werte haben, sondern weil sie meinen, diese ließen sich zentral durchsetzen. Doch Kultur kann man nicht verordnen. Sie muss gelebt, geglaubt, weitergegeben werden – frei, nicht staatlich reguliert.
Jung will gestalten – doch in konservativen Kontexten bedeutet das oft: normieren, regulieren, absichern. Wer so argumentiert, unterscheidet sich kaum vom linken Gegner, nur im Vorzeichen. Hayek warnte zu Recht:
Ein freiheitsliebender Konservatismus darf nicht mit den Mitteln des Gegners antworten. Keine Rechristianisierung per Gesetz, keine Familie aus der Parteizentrale. Wer das Gute durch Staatsmacht erzwingen will, verliert dessen geistige Substanz.
Ehe, Glaube, Kultur – all das kann nur freiwillig tragen. Was nicht aus Überzeugung geschieht, wird zur toten Form. Nicht der Staat, sondern Familien, Gemeinden, Unternehmer, Lehrer, Künstler tragen Kultur – oder niemand.
Jung hat recht: Wer nur bremst, verliert. Doch wer mit dem Staat in der Hand zurückschlägt, verliert die Freiheit. Der Kulturkampf wird nicht im Bundestag entschieden, sondern in Haus, Kirche und Nachbarschaft.
Konservativ – ja. Aber bitte frei.