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Natur, Verstand, Freiheit

Freiheit, schöner Götterfunken

Die „Systemfrage“ war nach dem Zweiten Weltkrieg ein zentrales Thema im Westen. In der Bundesrepublik Deutschland mündete sie auch in Wahlkampfparolen. Für die Bundestagswahl 1976 prägte die CSU den Slogan „Freiheit oder Sozialismus“, die Schwesterpartei CDU warb mit der Parole „Freiheit statt Sozialismus“. 

John F. Kennedy hatte zuvor der Freiheit in seiner Berliner Rede 1963 ein besonderes Pathos verliehen: „Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger dieser Stadt West-Berlin, und deshalb bin ich als freier Mann stolz darauf, sagen zu können: Ich bin ein Berliner!“

Die ideologischen Gegensätze der Systeme manifestierten sich vor allem darin, dass in der kapitalistisch geprägten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der USA und Westeuropas alle frei entscheiden konnten, wie sie ihr Leben leben und ihren Lebensunterhalt verdienen wollten. Im Gegensatz dazu instrumentalisierte der Staat in der DDR und im sowjetisch beherrschten Raum jeden Einzelnen für das falsche, vermeintlich „höhere Ziel“ einer herrschaftsfreien und klassenlosen Gesellschaft.

Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer am 9. November 1989 sowie der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 schien klar: Die Ära der Totalitarismen war beendet, das 20. Jahrhundert hatte mit dem Triumph des Liberalismus über alle Utopien und Grausamkeiten geendet. In dieser Euphorie änderte der Dirigent und Komponist Leonard Bernstein den Text des vierten Satzes von Beethovens 9. Symphonie, Schillers „Ode an die Freude“, von „Freude, schöner Götterfunken“ zu „Freiheit, schöner Götterfunken“ für seine Aufführung in Ost-Berlin am 25. Dezember 1989.

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Freiheit gilt heute als der höchste Wert

Freiheit gilt als der höchste Wert unserer Zeit, sie steht ganz oben in der Wertehierarchie, wie die Reden der einflussreichsten Männer unserer Ära belegen. Ein Beispiel hierfür, dass Kennedys Pathos keine Ausnahme darstellte, ist die Rede von US-Präsident Lyndon B. Johnson aus dem Jahr 1968, in der er erläuterte, warum er keine zweite Amtszeit anstrebte. Sie offenbart ein tief verwurzeltes Glaubensbekenntnis: „Während meiner gesamten öffentlichen Laufbahn habe ich die persönliche Philosophie verfolgt, dass ich ein freier Mann, ein Amerikaner, ein Staatsdiener und ein Mitglied meiner Partei bin, immer und ausschließlich in dieser Reihenfolge.“

Über die Bedeutung der amerikanischen Freiheit sprach Jahrzehnte später ein anderer Präsident, Joe Biden, im Jahr 2022: „Ich habe immer gesagt, dass Amerika durch ein einziges Wort definiert wird. Ich habe mehr Zeit mit Xi Jinping verbracht als mit jedem anderen Staatsoberhaupt der Welt. Und wir waren auf der tibetischen Hochebene, er und ich, und er drehte sich zu mir um – ich hatte einen Dolmetscher und er hatte auch einen Simultandolmetscher –, und er sah mich an und sagte: ‘Können Sie Amerika für mich definieren?’ Ich sagte: ‘Das kann ich, mit einem Wort: Möglichkeiten.’ Hier ist alles möglich“ – Anything is possible here.

Auch auf der republikanischen Seite des politischen Spektrums ist „Freiheit“ allgegenwärtig. Donald Trump spricht von den „glorreichen Freiheiten“, die US-Amerikaner genössen. Sein Unterstützer Elon Musk, der sich selbst als „Absolutist der freien Meinungsäußerung“ bezeichnet, ruft zur Verteidigung der Freiheit auf, auch jene zum Trollen im Internet.

Freiheit, was ist das überhaupt?

Interessanterweise wird heute überall der Wert der Freiheit betont, ohne zu sagen, was Freiheit eigentlich ist. In der Frühen Neuzeit, zur Mitte des 16. Jahrhunderts, gab es Märtyrer für die Grenzen der Freiheit im Namen der Wahrheit. Hollywood hat diese Geschichte mit dem oscarprämierten Film „Ein Mann zu jeder Jahreszeit“ verarbeitet, in dem Thomas More seine berühmten Worte ausspricht: „I die his Majesty’s good servant, but God’s first.“ (Ich sterbe als treuer Diener meines Königs, aber vor allem Gottes.)

In dem Prozess gegen Thomas More ging es darum, ob König Heinrich VIII. als Souverän in religiösen und kirchlichen Fragen die Freiheit habe, alles zu ändern, was und wie er es wolle. Ist man dann ein freier Mensch, wenn man tun kann, was man will? Besteht eine freie Gesellschaft darin, jedem zu ermöglichen, alle seine Wünsche auszuleben?

Thomas Morus (r., Paul Scofield) und König Heinrich VIII. (Robert Shaw): „Ich sterbe als treuer Diener meines Königs, aber vor allem Gottes“

Das klassisch abendländische Verständnis steht dazu im krassen Gegensatz. Denn es ist kein liberales Verständnis, es ist geprägt von der griechischen Antike und dem Christentum und auf ein letztes Ziel gerichtet. Freiheit wird klassischerweise definiert als eine Fähigkeit des Willens oder als der Wille selbst, insofern er, wenn er handelt, wählen kann. 

Nur der Weise ist frei

Der Wille verlangt nach dem, was er als ein Gut betrachtet. Ob etwas ein Gut ist, darüber urteilt der Verstand. Jedoch ist der menschliche Verstand unvollkommen, sodass falsche Dinge als ein Gut betrachtet werden können. Wenn der Mensch allerdings gegen seine Natur, sein Wesen handelt, wird er unfrei, was der mittelalterliche Philosoph Thomas von Aquin brillant erklärt:

„Jedes ist das, was ihm seiner Natur nach zukommt. Wenn es also von einem anderen, was außer ihm liegt, bewegt wird, handelt es nicht aus sich, sondern infolge der Einwirkung eines anderen; das aber ist knechtisch. Der Mensch ist seiner Natur nach ein vernünftiges Wesen. Wenn er sich also von seiner Vernunft leiten lässt, so wird er aus eigenem Antrieb bewegt und handelt selbstständig; das ist ein Zeichen der Freiheit; wenn er aber sündigt, so handelt er nicht nach seiner Vernunft und wird alsdann gleichsam von einem anderen bewegt und von fremden Schranken beengt: und darum heißt es, wer Sünde tut, ist der Sünde Knecht.“

Nach dieser klassischen Definition von Freiheit, wie sie auch bei den alten Griechen vorherrschte, ist nur der Weise frei, weil er naturgemäß und tugendhaft handelt. Auch der Freiheitsabsolutist Musk, der bei Twitter keine Einschränkungen gelten lassen will, stößt bei Augustinus an seine Grenzen, der seinerzeit fragte: „Was für einen schlimmeren Tod gibt es für die Seele als die Freiheit für den Irrtum?“

Auch der heutige Mensch kann durch schlechte gesellschaftliche Prägung in seinem Urteil fehlgeleitet sein, wodurch er falsche Entscheidungen trifft, die ihn mehr und mehr unfrei machen. Wieder Augustinus: 

„So ist ein guter Mensch, auch wenn er ein Sklave ist, frei; ein böser Mensch hingegen ist, auch wenn er König ist, ein Sklave. Denn er dient nicht einem einzigen Menschen, sondern, was noch schlimmer ist, so vielen Herren, wie er Laster hat.“

In der europäischen Geschichte seit dem frühen Mittelalter ging es daher oft darum, die Rahmenbedingungen zu schaffen, sodass der Mensch naturgemäß handeln kann und die Freiheit nutzt, um sein ewiges Ziel zu erreichen: die ewige Glückseligkeit, die beseligende Gottesschau (visio beatifica) im Himmel.

Der Kampf um den Freiheitsbegriff begann mit der Aufklärung

Mit der Aufklärung – man denke an Voltaires KampfrufÉcrasez l’infâme!“ – und der daraus resultierenden Französischen Revolution 1789 verschwindet diese klare Zielrichtung. Die Erkennbarkeit und Relevanz Gottes rücken in den Hintergrund, während Fortschritt, Wissenschaft, Technik und das Umgestalten der Welt sowie das lustvolle Leben in den Vordergrund treten. Das Freiheitsverständnis ändert sich entsprechend: Künstler und Schriftsteller, insbesondere Schiller und Beethoven, fordern mit der Französischen Revolution eine Freiheit, die alle Ketten und Traditionen sprengt, insbesondere jene der Religion und Konvention. Schiller fordert in „Die Räuber“: „Tod oder Freiheit“ (1781), Beethoven feiert die Freiheit unter anderem durch die Vertonung von Gottlieb Konrad Pfeffels Gedicht „Wer ist ein freier Mann?“ (1791). 

 

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Der moderne Kampf um die Bedeutung des Wortes Freiheit beginnt. Seitdem besteht ein radikaler Konflikt zwischen der europäisch-abendländischen Tradition und der Moderne in Europa. Während die Tradition keine Freiheit darin sieht, vorgegebene Ordnungen abzuschaffen, sieht die Moderne, das Europa im Geist der Revolution, Freiheit als Vermögen, das zu tun, wonach einem beliebt. Das, was sich richtig anfühlt und im Trend der Zeit liegt.

Die Sprengung aller Grenzen und Einschränkungen wird zum höchsten Ziel der Freiheit ausgerufen. Oder anders ausgedrückt: In der Tradition ist Freiheit die Fähigkeit des Willens, das Gute zu wählen, und in der Moderne ist Freiheit die Fähigkeit, irgendetwas zu wählen, in den Worten von Präsident Biden: „Anything is possible.“

„Die Natur des Menschen annehmen und achten“

Man kann die These aufstellen, dass dieser mit der Aufklärung sich vollziehende radikale Traditionsbruch der Hauptgrund für die spätere Terrorherrschaft (1793-1794) der Französischen Revolution war. Insofern war sie noch vor dem Kommunismus die erste moderne Utopie, welche wie alle Utopien nur durch Gewalt eine „bessere Welt“ schaffen können, an deren Ende aber immer eine unvorstellbare Grausamkeit steht.

Im Vergleich dazu nahm die Amerikanische Revolution keinen totalitären Verlauf. Was maßgeblich an ihrem christlichen Fundament liegt. Denn seit ihrer Gründung gab es in den USA nicht nur Freiheitsbefürworter mit deistischen Überzeugungen, die dem Christentum eher distanziert gegenüberstanden, wie George Washington, Thomas Jefferson, Benjamin Franklin und James Monroe. Sondern auch eine mindestens ebenso einflussreiche christliche Strömung, repräsentiert durch Gründerväter wie Samuel Adams, Charles Carroll und John Hancock.

Damit die Freiheit gelingt, braucht sie eine Ordnung, wie Benedikt XVI. in seiner Rede im Bundestag 2011 deutlich machte:

„Es gibt auch eine Ökologie des Menschen. Auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muss und die er nicht beliebig manipulieren kann. Der Mensch ist nicht nur sich selbst machende Freiheit. Der Mensch macht sich nicht selbst. Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur, und sein Wille ist dann recht, wenn er auf die Natur hört, sie achtet und sich annimmt als der, der er ist und der sich nicht selbst gemacht hat. Gerade so und nur so vollzieht sich wahre menschliche Freiheit.“ 

Der berechtigte Einwurf des Papstes ist vielen Menschen fremd, die einen rein säkularen Freiheitsbegriff gelernt haben. In Europa herrscht heute eine Mischung aus dem radikalen Traditionsbruch der Französischen Revolution und Bidens „anything is possible“.

Moderne Konzepte ignorieren natürliche Ordnungen und objektive Wahrheiten

Unsere gegenwärtige gesellschaftliche Lage neigt weniger zu einer dystopischen Vision wie jene in George Orwells „1984“, die durch staatliche Überwachung und Kontrolle gekennzeichnet ist. Stattdessen bewegen wir uns auf eine Realität zu, die Aldous Huxleys „Schöne Neue Welt“ ähnelt, in der ein missverstandenes Freiheitskonzept Konsum, Drogengebrauch und sexuelle Freizügigkeit als Freiheitsausdrücke ansieht. Dies verdeutlicht, wie eng Freiheit und Moral miteinander verbunden sind.

Moderne und liberale Ideologien orientieren sich oft an den diskursethischen Konzepten, die Jürgen Habermas in den 1970er Jahren vorangetrieben hat. Diese Konzepte können durchaus traditionelle und religiöse Elemente enthalten, aber im Zentrum aller moralischen Erwägungen steht das, was zwischen zustimmenden Erwachsenen konsensfähig ist. 

Die Brüche in der Geistes- und Mentalitätsgeschichte haben ihren Hauptgrund in der Verachtung der eigenen europäischen Tradition. Das gilt insbesondere für die Zeit vom Frühmittelalter bis zur Französischen Revolution. Heute geht es um den freien Menschen im Sinne der Revolution, der letztlich an kein höheres Gesetz, keine Religion und keinen Gott gebunden ist. 

Im Kontrast dazu stehen klassische abendländische Denkweisen, die von ewigen Wahrheiten ausgehen, über die man nicht verhandeln oder abstimmen kann und bei denen es auch nicht auf einen diskursethischen Konsens ankommt. Die Diskussion um Freiheit ist letztlich nicht von der Frage nach Gut und Böse, nach Gott zu trennen. Sie ist mit der Suche nach der Wahrheit verbunden.

Heute herrscht die Willkür, nicht die Freiheit

Eine willkürlich verstandene Freiheit schlägt heute in viele Richtungen aus: als Freiheit zur Abtreibung, zur Geschlechtsumwandlung, zur Befreiung von Gott, Staat und Patriarchat. Freiheit wird zum Mittel der Selbsterlösung. Während sich die einen „in Freiheit“ umoperieren lassen, sehen die anderen in Geld und Gütern ihre Freiheit verwirklicht. Alle Zügel, die eine Richtung vorgeben, sind zerrissen.

Freiheit ist somit zu einem anderen Wort für unbestimmten Egoismus geworden, ja mehr noch, zu einem Instrument der Selbstbefriedigung und Entfremdung, die auch vor Selbstverstümmelung und Zerstörung keinen Halt macht und damit genau das vernichtet, was sie eigentlich erreichen will: ein gutes Leben.

Heute stehen wir in einem Wettstreit um den Sinn und die Bedeutung der Freiheit. Ist Freiheit einfach die Fähigkeit zu tun, was man möchte, die Abwesenheit von äußeren Zwängen und Bindungen? Liegt darin die Erlösung des Menschen? Oder ist Freiheit die Fähigkeit, das Gute zu wählen und zu tun, und ist deshalb, wie schon die alten Griechen sagten, am Ende nur der Weise wirklich frei? Von der Beantwortung dieser Frage hängt sehr viel ab, nicht nur für uns persönlich, sondern auch für die Zukunft von Europa und der gesamten westlichen Welt.

 

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