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Kolumne „Der Philosoph“

Ein stummer Comedian, Neuralink und die Gefahr der schiefen Ebene

Neulich stieß ich bei YouTube auf einen einzigartigen Stand-up-Komiker. Der junge Kanadier Ahren Belisle, der inzwischen auch schon einen fulminanten Auftritt bei der Talentshow „America’s Got Talent“ hinter sich hat, ist in Folge einer Zerebralparese nicht nur motorisch schwerbehindert, sondern auch stumm. Dass er sein Publikum dennoch zum Lachen bringen kann, verdankt er – natürlich neben seinem Sprachwitz und der Gabe zur humoristischen Selbstreflexion – auch moderner Technologie: Belisle tippt seine Gags ins Smartphone, das diese via Sprachausgabe für das Publikum hörbar macht.

„Ist die digitale Technisierung unserer Lebenswelt manchmal also doch ein Segen“, dachte ich bei mir und wies meinen inneren Technikskeptiker in seine Schranken – zumindest kurzfristig. Denn dann erinnerte ich mich des neuerlichen Tweets von Elon Musk, in dem er bekanntgab, dass der erste Mensch ein Neuralink-Implantat erhalten habe. Neuralink ist eine von Musk gegründete Firma, die es sich zum Ziel gesetzt hat, eine Schnittstelle zwischen Gehirn und Computer zu entwickeln. Ein kleiner Bluetooth-fähiger Chip im Hirn soll dafür sorgen, mit bloßer Gedankenkraft elektronische Geräte wie Handy, Tablet oder Laptop zu bedienen.

Außerdem sollen, so die Vision der Firma, mit der neuen Technologie auch neurologische Störungen überwunden werden können. Für jemanden wie Ahren Belisle dürfte eine Technologie à la Neuralink ein Traum sein. Sie würde es ermöglichen, entweder selbst wieder sprechen oder zumindest eine Maschine ohne lästiges Tippen als direktes Sprachrohr der eigenen Gedanken verwenden zu können.

Wir würden beliebig manipulier- und steuerbar

Ich dagegen reagierte damals instinktiv mit Ablehnung auf die Nachricht von Neuralinks erstem Probanden. Es fühlte sich einfach irgendwie dystopisch an. Auch wenn das Bauchgefühl durchaus ein ernstzunehmender Indikator sein kann, sollte man sich – zumal, wenn man eine Kolumne unter dem Titel „Der Philosoph“ schreiben darf – nicht darauf verlassen. Unsere Intuitionen sind einfach zu fehleranfällig. Beim Nachdenken über die Sache stellte sich allerdings heraus, dass es durchaus gute, und zwar ethische Gründe gibt, ein Projekt wie Neuralink äußerst kritisch zu sehen.

Denn Neuralink wäre ein weiterer Schritt hin zur Verwirklichung der transhumanistischen Phantasie von einem Wesen, das seine alte menschliche Natur hinter sich gelassen und sich stattdessen ganz in die Welt der Maschinen eingefügt hat. Man stelle sich nur den nächsten Schritt vor: Mittels eines Chips im Hirn ließen sich nicht nur unsere motorischen und kognitiven Fähigkeiten, sondern auch unsere emotionalen Zustände nahezu beliebig manipulieren.

Wer zu dieser Technologie griffe, hätte einen entscheidenden Vorteil gegenüber seinen Mitmenschen, die dies nicht täten. Wer im Rahmen eines solchen Szenariums in der Schule, im Beruf oder bei der Partnerwahl nicht abgehängt werden wollte, der müsste nachziehen. Alle wären gezwungen, sich am Wettlauf zur technologischen Verformung der eigenen, gottgegebenen Natur zu beteiligen.

Nicht alles, was der Mensch kann, soll er auch tun

Bei all dem würde der Mensch keinesfalls zum selbstbestimmten Herrscher über sein Schicksal. Der einzelne wäre im Gegenteil nur noch unerbittlicher den Fliehkräften kapitalistischer Selbstoptimierung oder der Kontrolle einer „Elite“ ausgesetzt, als es jetzt bereits der Fall ist. Wohin die Reise bei der Neuausrichtung der menschlichen Natur ginge – welche Fähigkeiten und Gefühle gefördert und welche unterdrückt würden –, das würde nämlich nicht der aufgeklärte und sittlich geerdete Einzelne, sondern wahlweise die „Logik“ des Marktes, einige Großkonzerne, der Staat oder transnationale Organisationen bestimmen.

Eine einfache Wahrheit lautet: Nicht alles, was der Mensch kann, soll er auch tun. Das gilt auch dort, wo eine Praxis zunächst als ein geeignetes Mittel zur Erlangung eines hehren Ziels erscheint. Die Verlockung, Kranke durch technologische Innovationen, wie Neuralink sie verspricht, zu heilen, ist riesig. Nicht zu vergessen ist dabei aber die schiefe Ebene, die die Gesellschaft möglicherweise mit einem solchen ersten, wohlgemeinten Schritt betritt – und die dann ins Verderben führen kann.

 

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Benjamin Meyer
Vor 2 Monate

Inwiefern betrachten Sie Transgenderismus als die Vorstufe zum Transhumanismus? Der Gedanke hierbei ist, dass die Akzeptanz und individuelle Bestimmung des eigenen Geschlechts als Vorreiter für die gesellschaftliche Akzeptanz von Transhumanismus fungieren könnte. Wie sehen Sie die Verbindung zwischen der Anerkennung unterschiedlicher Geschlechtsidentitäten und der potenziellen Offenheit gegenüber einer Verschmelzung von Mensch und Maschine?

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Benjamin Meyer
Vor 2 Monate

Inwiefern betrachten Sie Transgenderismus als die Vorstufe zum Transhumanismus? Der Gedanke hierbei ist, dass die Akzeptanz und individuelle Bestimmung des eigenen Geschlechts als Vorreiter für die gesellschaftliche Akzeptanz von Transhumanismus fungieren könnte. Wie sehen Sie die Verbindung zwischen der Anerkennung unterschiedlicher Geschlechtsidentitäten und der potenziellen Offenheit gegenüber einer Verschmelzung von Mensch und Maschine?