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Kolumne „Mild bis rauchig“

Spiegleins Wahrheit

Hinter den Bergen, bei den sieben Zwergen liegt der Grund für Stiefmutters Schnappatmung. Schneewittchen. Nicht nur, dass sie tausendmal schöner ist – das war ja schon dem Spieglein an der Wand zu entlocken gewesen. Nein, sie lebt noch, obwohl sie doch zwecks Tilgung der Konkurrenz längst von einem gedungenen Jägersmann hätte gemeuchelt werden sollen. Stattdessen war sie hinter den Bergen bei den Zwergen gelandet, wo sie glücklich war und weit weg vom Neid der Stiefmutter, einem unzähmbaren Neid auf die Anmut, die die Natur Schneewittchen geschenkt hatte.

Getrieben von dieser Unzufriedenheit über die schlechten Vergleichswerte scheut sich die böse Stiefmutter nicht, den Gang hinter die Berge zu wagen und dort Mal um Mal zu versuchen, die nicht vorgesehene junge Frau zu töten, damit endlich wieder Ruhe in ihr von hohen Schönheitsstandards besetztes Herz einkehre. Vergeblich! Am Ende hat sie selbst das Nachsehen, weil alle Versuche, das, was ihr nicht passt, einfach zu beseitigen, scheitern.

Das Märchen lässt einen mit der beruhigenden Hoffnung zurück, dass der Aufstand gegen das Schöne und Menschliche nicht zwingend tödlich für die Schneewittchens dieser Welt enden muss, sondern dass es Gerechtigkeit in der Welt gibt – selbst hinter den Bergen bei den sieben Zwergen.

Sieben Zwerge im Biebergrund

Wer hätte nun gedacht, dass dieses Märchen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm in unseren Tagen einen neuen Realitätsbezug bekommen würde. Die ungeahnte Aktualität setzt an, wo man gemeinhin den realen, quasi historischen Hintergrund des Märchens vermutet: im beschaulichen Lohr am Main, das sich selbst aus allerlei Gründen den Titel „Schneewittchenstadt“ zugelegt hat.

Im fränkischen Lohr vermutet man das Schloss der bösen Königin und den Austragungsort ihrer neidvollen Ranküne, den Spessart erblickt man als die bergige Kulisse für den Fluchtweg Schneewittchens und der angrenzende Biebergrund bietet sich als Heimstatt der sieben Zwerge an, weil in den niedrigen Stollen des schon früh dort betriebenen Bergbaus Kinder oder Kleinwüchsige arbeiteten, die, bucklig von der schweren Arbeit, zu den Zwergen des Märchens mutierten.

Sogar das legendäre Spieglein, das mit seiner schmerzfreien Wahrheitsfähigkeit die Stiefmutter in den Wahnsinn treibt, findet sich bis heute im Spessartmuseum des Lohrer Stadtschlosses als „sprechender Spiegel“ ausgestellt. Auch hier spinnen sich Realitätsfäden zu der historisch realen Spiegelmanufaktur des Philipp Christoph von Erthal, der – allerdings mehr märchenhaft als real – als Vater von Schneewittchen gilt.

Gelandet im schlimmsten Abseits

Just in diese fränkische Welt der sieben Zwerge und ihrer schönen Nanny verlor sich kürzlich ein junges Journalistenpaar, das auf einem Motorrad unterwegs nach Berlin war und von Kälte und Nässe zum Übernachten in Lohr gezwungen wurde. Ein ungeplanter Umstand, der neben dem ulkigen Aufeinandertreffen zweier Lebenswelten eine Reihe von bemerkenswerten Botschaften bereithält. Zu finden in der Hauspostille der deutschen arrivierten Linken.

Ruth Fuentes (27) und Aron Boks (25) bestücken dort als Jungjournalisten aus der Schmiede der taz Panter-Stiftung die Futurzwei-Kolumne „Stimme meiner Generation“. In diesem Fall mit einem interessanten Bericht aus der Feder von Ruth Fuentes über die unfreiwillige Strandung, die ihr Mitstreiter und sie als Sozius auf dessen Motorrad in der Schneewittchenwelt von Lohr am Main hinlegten (taz Futurzwei, 13. April 2023).

Unter dem gleichermaßen pikierten wie amüsierten Titel „Entensülze und Verbrenner“ beschreibt sie ihre Landung im schlimmsten Abseits, in das junge Berliner aus dem neopolitischen Lager sich verbannt sehen können. Es ist die fränkische Provinz! Denn dort schlachtet man noch ungebremst und ohne Rücksichten auf die Stigmatisierungen der herrschenden linken Kaste eine um die andere heilige Kuh – vor allem im Bereich der Klimaaskese.

Aufwärmen auf der Eckbank

Durchnässt und fröstelnd kapitulieren die beiden in ihrem Kampf um das Fortkommen Richtung Berlin und flüchten sich vor Kälte und schlechtem Wetter in ein fränkisches Gasthaus, auf dessen Eckbank sie sich wiederfinden. Das Grauen hat einen Namen: „Lohr!“ Auf die Bitte nach etwas Essbarem wird, obwohl die Küche schon geschlossen hat, noch schnell etwas zusammengestellt. Okay, zur Not frisst der Teufel Fliegen. Oder nein, sorry, Wurst und Käse. Und: Sülze! Was ist denn das?

Ruth denkt nicht weiter nach – auch nicht an ihre vegetarischen und veganen Freunde aus Berlin, sondern greift zu und isst. Ja, sie isst Entensülze! „Es schmeckt überraschend … gut“ schreibt sie und schildert dann den weiteren Verlauf des Abends hinter den sieben Bergen. Alles ist da, die ganze Palette provinzieller Vorurteile, alles das, was man in Berlin, also dort, wo man leben muss, von sich geschüttelt hat: Osterdeko, Ostereier, Krokusse, Gespräche über den anstehenden Palmsonntag und den Frühschoppen nach dem Kirchgang mit Keiler Bier.

Ruth ringt mit sich und ihrer Erinnerung an kindliche Zeiten, in denen sie offenbar selbst ein Teil der Provinz gewesen war. Und dass sie hat dem Ganzen entkommen wollen und „mit arrogant-urbaner Haltung“, wie sie schreibt, „dieser Enge und Beständigkeit entfliehen“. Zwecklos. Denn die Orte der Vergangenheit sind alle noch da. „Entensülze, Sonntagsmesse und Verbrenner. Und das mit einer Selbstverständlichkeit, dass ich einfach nur schweigend an meiner Kippe ziehe.“

Es gibt doch noch ein anderes Deutschland

Es ist ein Schweigen, das einen immer dann überfällt, wenn die Wirklichkeit dem Ideal entgegengrinst und es überholt. Ruth wollte doch alles vergessen haben. „Bad Kissingen, Lohr am Main, Coburg, Suhl, Köthen – das ist auch alles Deutschland. Man vergisst den Teer, die Brücken, die Tunnels, die das Land vernetzen. In den Tanken gibt es Bild-Zeitung, Tabak, Benzin, Zucker, Alkohol – alles Ungesunde in einem Raum. Und Wärme.“

Das ist es wohl, was am meisten verunsichert. Dass der Blick in das sprechende Spieglein offenbart, was lange befürchtet wurde: dass es andere Parameter gibt, das Leben zu gestalten, als es der Tunnelblick gesellschaftsinnovativer Ideologien haben will. Und dass es deswegen schwer zu ertragen ist, zu erkennen, dass es hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen eine andere Welt gibt, die die eigene so ungeschminkt abschminkt.

Den beiden Junglinken widerfährt die auf eine ungeplante und wegen ihres Lebens im Kokon futuristischer Masterpläne auch ungeahnte Weise die Erschütterung der eitlen Schwiegermutter, als sie gewahr werden, dass das, was sie entsorgt geglaubt hatten, noch lebt und dass es – wenn vielleicht auch nicht schöner und idealer, als es ihnen ihre eigenen Visionen gebieten – zumindest auch ganz schön sein kann und vor allem: warm.

„Utopische Vorstellung mit dieser Klimawende“

„Ich glaube, das ist wirklich eine utopische Vorstellung mit dieser Klimawende“ entfährt es Ruth nachdenklich. Immerhin zeigt sich an dieser verhaltenen Nachdenklichkeit, dass sie noch nicht die verbitterte Unbeweglichkeit der bösen Stiefmutter erreicht hat. Sondern dass es eine positive Erschütterung gegeben hat, die an den Fundamenten der Provinzialismuskritik gehörig gerüttelt hat. Der Blick in das Spieglein hat die Wahrheit größer gemacht.

Im Gegensatz zur kriminell neidischen Stiefmutter hat sich bei Ruth in der Begegnung mit Lohr am Main keine Aggression gegen die Resistenz der für die Klimamission und die Verkündigung der neuen Ordnung unerreichbaren Provinzler entfesselt. Im Gegenteil. Den beiden wissenden Motorradfahrern wurde die nasse und kalte Nacht im Refugium des warmen fränkischen Gasthofs zu einem Erkenntnisgewinn über die Menschen hinter den Bergen.

„Dörfer und Kleinstädte,“ schreibt Ruth Fuentes, „in denen ich nicht leben möchte, mit unglaublich hilfsbereiten Menschen. Sie sprechen in Dialekten zu mir, die ich zum Teil nur schwer verstehe. Sie leben eben ein Leben zwischen Familie und Arbeit. Und am Palmsonntag gibt es Entensülze im Gasthaus. Radiomusik und Kirche. Eventuell kommt ein völlig durchgefrorenes Paar auf einem Motorrad vorbei und fährt dann weiter nach Berlin. Sie schütteln den Kopf, halten uns wahrscheinlich für verrückt und wünschen uns eine gute Fahrt. Ich will sie nicht vergessen.“

Die Provinz – schön und unsterblich

Als ich das unfreiwillig von Google auf mein Smartphone gespielt bekam – schon wieder ein Artikel aus der taz, die ich freiwillig nicht lese –, hatte ich Spaß an der Lektüre dieser höchst aktuellen Fortsetzung des Grimm’schen Märchens vom resistenten Schneewittchen. Weil sich darin die Provinz hinter den sieben Bergen so schön zeigt – und sie bei allen Versuchen, ihr nach dem Leben zu trachten, unsterblich ist.

Die sieben Zwerge, die in der Provinz leben und arbeiten, haben es nicht nötig, sich in Szene zu setzen. Das Spieglein weiß um sie und ihre hübsche Nanny. Und kündet die Wahrheit manchmal zu einem Zeitpunkt, an dem man es nicht erwartet. Immerhin haben sie es nun auch in die taz geschafft.

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