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Kolumne „Der Philosoph“

Philosophieren heißt heilig werden

Als ich einmal als Doktorand in einem Oberseminar die These äußerte, Philosophie sei nicht nur Wissenschaft, sondern vor allem eine Lebensform, erntete ich dafür den Spott des Professors. Was ich da geäußert hatte, war freilich reichlich anachronistisch. Denn die Philosophie ist heute bloß eine universitäre Disziplin unter vielen. In dem Maße, in dem die Philosophie im Laufe der Neuzeit eine Wissenschaft werden wollte, ist sie schließlich wie jede andere zu einem Beruf geworden.

Der moderne Philosoph geht zur Arbeit ins Büro, tratscht mit den Kollegen in der Kaffeepause, macht Feierabend und gelegentlich Überstunden. Von seinem Beruf auf eine besondere Lebensführung zu schließen, ist gänzlich unangebracht: Ein Experte in ästhetischer Theorie verfügt ebenso wenig automatisch über einen treffsicheren Geschmack wie ein Moralphilosoph sich durch einen besonders lauteren Lebenswandel auszeichnet. Nicht selten beweist die Erfahrung sogar das glatte Gegenteil.

Für Sokrates bildeten Denken, Lehren und Leben eine Einheit

Dem war aber nicht immer so. Für Sokrates, den Vater der abendländischen Philosophie, bildeten Denken, Lehren und Leben noch eine unverbrüchliche Einheit. Dass das Philosophieren kein austauschbarer Broterwerb, sondern aufs Engste mit der eigenen Existenz verbunden war, zeigt sich exemplarisch am berühmten Ausspruch des Sokrates: „Philosophieren heißt sterben lernen.“

Das ist kein Bonmot, das sich Sokrates im Elfenbeinturm ausgedacht hätte. Er spricht diesen Satz vielmehr als ein zum Tode Verurteilter, dem nur noch wenige Stunden auf Erden bleiben. Aber während seine Freunde voller Sorge sind, bleibt er ruhig und gefasst. Denn als Philosoph weiß er um die Unsterblichkeit der Seele.

Diese Anekdote ist uns zwar nur in literarischer Gestalt überliefert, nämlich durch Platons Dialog „Phaidon“. Es gibt aber keinen Grund daran zu zweifeln, dass die darin zum Ausdruck kommende Auffassung von der existenziellen Bedeutung der Philosophie authentisch ist.

Thomas’ Ziel ist es, in der Wahrheit zu sein, in Christus zu leben

Dass Philosophie in Wahrheit eine Lebensform ist, oder anders: dass sie eine Lebensform sein sollte, ist mir viele Jahre nach meiner Doktorandenzeit noch einmal deutlich geworden. Ich wurde Christ und begann mich verstärkt mit christlicher Philosophie und Theologie zu beschäftigen, was mich unweigerlich zu Thomas von Aquino (1225–1274) führte.

Für den wahren Philosophen vom Schlage eines Thomas besteht die Wahrheit nicht aus Sätzen, die man aussprechen und danach wieder vergessen könnte. Vielmehr ist die Wahrheit das Element, in das der Philosoph mit seiner ganzen Existenz einzutauchen versucht. Sein Ziel ist, in der Wahrheit zu sein, in ihr zu leben. Die lebensspendende Wahrheit, die Thomas zu ergründen suchte, war freilich niemand anderes als Christus selbst. Ein Umstand, dem die meisten akademischen Philosophen unserer Tage wohl nur feindselig oder aber peinlich berührt begegnen dürften.

Als Philosoph ein Heiliger und als Heiliger ein Philosoph

Auch die Tatsache, dass Thomas am 18. Juli 1323, also rund fünfzig Jahre nach seinem Tod und vor exakt siebenhundert Jahren von Papst Johannes XXII. in Avignon heiliggesprochen wurde, wird heute den durchschnittlichen Universitätsphilosophen als eine Äußerlichkeit erscheinen, die das Denken des Thomas im Kern nichts angeht.

Die Kirche dagegen erkannte den intimen Zusammenhang zwischen Thomas’ Liebe zur Weisheit und seiner Heiligkeit. So wählte Johannes XXII. für die Messe zu Ehren des heiligen Thomas nicht von ungefähr eine Passage aus dem Buch der Weisheit (7, 7–14), in der es unter anderem heißt:

„So betete ich: Da wurde mir Einsicht zuteil. Ich flehte: Da zog in mich ein der Geist der Weisheit. Ich schätzte sie höher als Zepter und Thron und erachtete im Vergleich mit ihr den Reichtum für nichts. […] Sie zu besitzen, zog ich dem Licht vor; denn nie erlöscht der Glanz, den sie ausstrahlt.“

Die Weisheit wird schließlich als „Schöpferin“ aller anderen Güter bezeichnet und dadurch mit Gott selbst identifiziert. Der Papst hatte also zweifellos begriffen, dass Thomas’ rückhaltlose Liebe zur Weisheit mit der Liebe zu Gott identisch war. Thomas war so gesehen nicht nur ein großer Philosoph und zudem auch noch ein Heiliger, sondern als Philosoph ein Heiliger und als Heiliger ein Philosoph. Bei Thomas zeigt sich, dass philosophieren nicht nur heißt, sterben zu lernen, sondern auch heißen kann: heilig zu werden.

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