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Kolumne „Der Schweizer Blick“

Sterben fürs Ersatzteillager

Wer an der Schwelle zum Tod anderen Leben schenken will, verdient – über die grundsätzliche ethische Frage der Organspende hinaus – zunächst persönlich Respekt. Und dass wir in der Schweiz über Organtransplantation reden, ist gut, richtig und wichtig.

Aber was passiert hier gerade hinter den Kulissen? Ein Richtlinienentwurf der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) ändert in ihren Bestimmungen eine einzige Vokabel – und damit vielleicht alles: Statt „irreversibel“ soll es künftig „permanent“ heißen. Klingt wie ein Synonym, ist aber keines. Es geht um die Frage, wie tot man sein muss beziehungsweise: wie schnell man als wirklich tot eingeschätzt wird.

Denn „irreversibel“ bedeutet: Da geht nichts mehr. Ende. Aus. Selbst wenn der beste Notfallarzt der Welt mit dem Defibrillator Tango tanzt – keine Chance. „Permanent“ hingegen heißt nur: Wir lassen es jetzt gut sein. Wir werden nicht versuchen, dich zurückzuholen. Nicht, weil es unmöglich wäre. Sondern weil es nicht vorgesehen ist. Praktisch, oder?

Begriffe verschieben die Ethik

Die Medizin sagt neuerdings also: „Wer theoretisch wiederbelebbar ist, aber nicht wiederbelebt wird, der ist tot genug für unsere Zwecke.“ Und das nur, damit kein Organ unnötig Zeit verliert. Es ist reine Wirtschaftslogik im Operationssaal, es ist die McKinsey- und PwC-Doktrin unterm Skalpell. Nicht der Zustand des Körpers entscheidet über Leben und Tod. Sondern die Entscheidung derjenigen, die danebenstehen.

Wenn Begriffe so verschoben werden, verändert sich auch die Ethik. Und zwar klammheimlich. Das ist keine Wortkosmetik. Das ist Macht über die Grenze zwischen Leben und Tod. Wir erinnern uns: Tod ist ein irreversibler Zustand – das steht sogar in der Botschaft des Bundesrats. Da waren sich bisher alle einig.

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Doch jetzt geht’s plötzlich schneller. Fünf Minuten nach Herzstillstand darf bereits operiert werden. Fünf Minuten. Das ist weniger lang, als die durchschnittlichen Nachrichten im Radio laufen. Und in dieser Zeitspanne wären Herz und Hirn nach aktuellem Stand der Medizin durchaus noch rettbar.

Klar: Die Transplantationsmedizin jubelt. Je frischer das Organ, desto besser die Erfolgsquote. Aber dürfen wir Lebenden zu schnell zu Toten erklären – nur weil wir die Ersatzteillogistik optimieren wollen?

An den Spielregeln geschraubt

Wir reden hier nicht über komplizierte Statistik, sondern über die elementare Frage: Wann hört ein Mensch auf, ein Mensch zu sein? Man muss kein Zyniker sein, um schlaflose Nächte zu kriegen.

Die Schweizer Bevölkerung hat erst vor wenigen Jahren über die Widerspruchslösung abgestimmt – und sie angenommen. Also über die Frage: Muss ich „Nein“ sagen, damit meine Organe nicht automatisch entnommen werden? Die Debatte war emotional und kontrovers – zu Recht. Aber gleichzeitig schraubt eine Subkommission still an den Spielregeln, die bestimmen, ab wann ich denn als „Spender“ gelte. Das hat man uns elegant verschwiegen.

Man stelle sich das Szenario vor: Der Körper liegt warm auf dem Tisch. Der Mensch hat vielleicht gerade erst aufgehört zu atmen. Und irgendwo kämpfen noch Zellen, noch Reflexe, noch Leben. Doch das Protokoll sagt: „Permanent.“ Nicht „irreversibel“. Eher: „Wir haben entschieden, dass du jetzt gehst.“

Es ist diese nonchalante Selbstverständlichkeit, die frösteln lässt. Dass wir uns daran gewöhnen, dass es normal ist. Es ist ja nur Medizin. Nur Effizienz. Nur Verwaltung. Aber es bleibt: Ein Mensch, der mit der richtigen Intervention wieder aufwachen könnte, wird geöffnet, weil er offiziell „tot genug“ ist.

Ein Geschenk unter Zwang

Natürlich werden jetzt viele sagen: „Panikmache!“ Doch wer Regeln verändert, die jahrzehntelang als unverhandelbar galten, muss Fragen aushalten. Die SAMW tut so, als sei das ein semantisches Detail. Es ist ja nur ein Wort Ja, aber: ein Wort, das entscheidet, ob wir jemanden aufgeben oder nicht.

Man muss sich noch einmal vergegenwärtigen: Eine Organspende ist ein Geschenk. Aber ein Geschenk darf niemals erzwungen sein – und schon gar nicht auf Basis eines Todesbegriffs, den man bequem zurechtgestutzt hat.

Die SAMW sollte ihren Entwurf zurück in die Schublade legen. Und wir alle sollten das tun, was Bürger in einer Demokratie tun müssen: Misstrauisch sein, wenn Experten plötzlich die Definition des Sterbens ändern. Wer hier keine Diskussion will, hat womöglich Angst vor der Antwort.

Denn die Frage bleibt stehen im Raum: Wenn der Tod verhandelbar wird – wer schützt dann die Lebenden?

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