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Kolumne „Mild bis rauchig“

Liegenlassen!

Drei Frauen und vier Männer. Jeder hat ein Smartphone. Man kommt zum Abendessen zusammen. Um die Stimmung zu verbessern, entschließt man sich zu einem Spiel. Dazu legt jeder sein Handy in die Mitte des Tisches und ist damit bereit alles – ganz egal, wer nun was an Bildern und Nachrichten geschickt bekommt – mit den anderen zu teilen. Die Telefone werden laut gestellt, so dass auch Gespräche von allen mitgehört werden können.

Was zunächst in der vertrauten Runde als kurzweiliger Zeitvertreib beginnt, der eigentlich nur lustig bis spannend sein sollte, führt schon bald zu einigen peinlichen und angespannten Situationen voller Überraschungen. Die Folge: die Stimmung droht zu kippen, weil durch die für alle zugänglich gemachten Botschaften plötzlich auch das ans Lichts beziehungsweise die Ohren dringt, was für die langjährigen Beziehungen Sprengstoff enthält. Denn auf einmal werden Lügen aufdeckt und Geheimnisse bekannt.

Die Kommunikationstechnik erweist sich als Beziehungskiller, weil sie die Nutzer daran gewöhnt hat, sich ein doppeltes Gesicht zu geben. Die eigentliche Wahrheit dringt in dem Gesellschaftsspiel aus den Smartphones ungebremst nach außen und entblößt die Personen, die sich hinter den Fassaden einer gespielten Realität verbergen.

Das geforderte Tempo hat einen neuen, unguten Klang in das Zwischenmenschliche gebracht

Dies ist der Inhalt der deutschen Filmkomödie „Das perfekte Geheimnis“ aus dem Jahre 2019. Sie offenbart die Kunstwelt unserer handysierten Gesellschaft, die mit ihren Smartphones eine Doppelmoral hervorbringt, in der zurückliegende Zeiten mit ihrem klebrigen Wohlanstand eine Meisterin gefunden haben. Psychotherapeutin Eva, eine der Filmprotagonistinnen, beschreibt dabei die elektronische Sicherung dessen, was wir an verborgenen Eigentlichkeiten mit uns tragen. Smartphones seien die „Flugschreiber unseres Lebens“, sagt sie.

Dabei ist es aber nicht nur die Aufzeichnung. Es ist auch das bewusst gesteigerte Tempo der elektronischen Kontaktaufnahmen, die einen neuen Klang in das Zwischenmenschliche gebracht hat. Im Zeitalter dieser neuen Form von datensichernder Kommunikation sind wir es gewöhnt, jeden via Smartphone schnell zu erreichen.

Und wir sind es weiterhin gewöhnt, dass wir auf die Fragen derer, die uns anschreiben, schnell zu antworten haben. Niemand hat mehr Geduld, ein wenig zu warten. Jeder ist in der Versuchung zu drängeln oder dem Gedrängeltwerden nachzugeben. Antwortet man nicht sofort, erreicht einen das nächste Nachfragen oder zumindest ein kommentarloses Fragenzeichen.

Nicht selten kommt dabei etwas Ungutes heraus. Man schickt eine schnelle, aber unüberlegte Antwort. Man schickt eine richtige Antwort, aber an die falsche Adresse. Oder man antwortet gar nicht und bringt sein Gegenüber dadurch auf die Palme.

Jesus lässt sich Zeit zu antworten

In der Bibel lernen wir von Jesus Christus, wie man mit solchen Versuchungen der Unüberlegtheit und Doppelbödigkeit umgeht. Denn Er widersteht ihnen. Als die Pharisäer und Schriftgelehrten Ihm eines Tages eine sündige Ehebrecherin vor die Füße werfen und mit ihr die Frage, was Er dazu sagt, dass man sie steinigen will, antwortet Er erst einmal nicht. Er schreibt mit dem Finger in den Sand. Und gewinnt Zeit (vgl. Joh. 8,1-11).

Er lässt sich Zeit zur Antwort und lässt der aufgebrachten Menge ebenfalls Zeit, auf seine Antwort zu warten. Das gefällt den Hinrichtungsbereiten zwar nicht, hat aber gleichzeitig den Effekt, dass sie in der Erwartung einer Antwort umso aufmerksamer werden. Und die Antwort kommt. Aber sie kommt anders als erwartet, und die Antwort sitzt ob der Spannung, die durch das Warten entstanden ist: „Als sie hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie“ (Joh. 8,7).

Katholiken, die an diesem Sonntag den Weg in die Kirche finden, werden mit dieser Begebenheit durch die Leseordnung des Gottesdienstes konfrontiert. Es gibt keine Chance, diese Antwort Jesu, diese überlegte und kluge Antwort, im Stress eines aufgeregten Chats zu überhören. Jesus trifft mit ihr den Nerv des Problems, das die enthüllungssüchtige Männergesellschaft ganz offenbar hat, als sie sich anschickt, der Vorschrift zu dienen und damit gleichzeitig von ihrer eigenen Schuld abzulenken.

Die Frage nach dem Motiv

Jesus geht es aber bei der Frage der Berechtigung der Bestrafung eines Ehebruchs nicht um Ja oder Nein, nicht einmal um die Frage, ob die Frau etwas falsch gemacht hat, ob sie eine Strafe verdient hat oder wie das Gesetz jetzt nun zur Anwendung kommt. Alle diese Fragen hätten mit einem schnellen „Ja“ ganz richtig beantwortet werden können.

Aber die Ruhe, die Jesus in das Ganze hineinbringt, verschafft einen Raum für eine andere Aufmerksamkeit und für eine andere Einordnung des Problems. Denn mit der Steinigung – so sieht es Jesus – wäre erst einmal nichts gewonnen. Die Frau würde nicht geheilt, der Betrogene ebenfalls nicht, und die Steinewerfer würden auch nicht besser dadurch, dass sie von ihrer eigenen Situation ablenken.

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Deswegen wird der Blick der Bibelleser bewusst von der Frage abgelenkt, ob die Anklage zu Recht besteht, und auf die Frage nach der persönlichen Schuld derer umgelenkt, die anklagen. Eigentlich etwas, das sich nicht gehört. Wir würden ja auch nicht den Richter oder den Staatsanwalt befragen, wann er denn das letzte Mal über eine rote Ampel gefahren ist. Dennoch bindet Jesus die Berechtigung zur Steinigung an die Frage, mit welchem Motiv denn da gesteinigt wird. Geht es wirklich allein um die Abscheu der Sünde gegenüber? Oder spielen persönliche Motive eine Rolle?

Jesus schreibt schweigend in den Sand

Soll diese Steinigung mehr werden als eine Bestrafung? Möchte sie vielleicht öffentliche Stimmung erzeugen? Was möchte sie in ihrem Showcharakter bewirken? Eine Besserung der Sünderin? Der Gesellschaft? Oder die Befriedigung einer Siegerpose? Sollen die Steine diese Frau treffen – oder alle Frauen? Geht es um die Ablehnung der Sünde oder um die Erniedrigung des Sünders? Geht es um den Kampf gegen die Sünde oder um die Tötung des Täters? Fragen, die Jesus nicht mit Worten stellt. Sondern, indem er schweigend in den Sand schreibt.

Wir können davon lernen. Im Gewirr der Positionierungsaufforderungen zu allem und jedem – zur Aufarbeitung der Coronakrise und zum Krieg gegen die Ukraine, zur Reform der Kirche und zur Klimafrage, zum Bewerten des neuen Kollegen oder des Kardinals von Köln, zur Lebenseinstellung des Woken oder Nichtwoken oder zur Ampel- oder AfD-Politik wird den Steinewerfern aller Art ihre Absicht vermasselt, die Diskussion zu beenden und – in diesem Fall – die Sünderin zu besiegen.

Besonnenheit und Klugheit helfen, dass ein neuer, ein besserer, ein wahrheitsdienlicherer Blick möglich wird. Auf diese Weise wird nicht die Frau besiegt, sondern der falsche Blick auf die Dinge. Am Ende steht nicht das Rechthaben, sondern die Barmherzigkeit, die siegt und rettet. Die Sünde der Sünderin wird durch Bekehrung besiegt und durch den Auftrag zum Vorsatz, nicht mehr zu sündigen; und die Sünde der Schriftgelehrten durch den Spiegel, der ihnen vorgehalten wird und sie von ihrem Tunnelblick kuriert.

Die Methode Jesu ist nicht ungefährlich, alles andere als das

Das ist die Methode Jesu Christi im Umgang mit öffentlich enttarnter Schuld. Sie ist erfolgreich, weil sie nicht nur vergibt, sondern heilt. Zumindest hilft sie, die Gemüter so weit zu beruhigen, dass viele der Aufgebrachten erst einmal innehalten in ihrer Euphorie, endlich die Steine der Kollektivschuld, der Generalverdächtigungen, der Ungerechtigkeit und Unbarmherzigkeit werfen zu können.

Die Methode Jesu, die wir Barmherzigkeit nennen, hilft, die Steine liegenzulassen und mit ihnen die Pauschalisierung von Schuld und ihre Vermarktungsmöglichkeit in der Öffentlichkeit.

Diese Methode, die Ankläger durch die Erinnerung an ihr eigenes Sündenregister zur Barmherzigkeit zu bewegen, ist jedoch nicht ungefährlich, wie jeder ausprobieren kann, der sich im Gefecht herausnimmt zu differenzieren und den Blick für die ganze Wahrheit zu weiten. Denn dann bricht meist ein Sturm los. Nicht alle lassen ihre Steine dann liegen oder legen sie zur Seite, sondern werfen sie alternativ auf jene, die nach der eigentlichen Wahrheit hinter den Fassaden fragen.

Christus hat man später dafür ans Kreuz geschlagen.

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