Europa und die negative Geopolitik der Grünen

Nähert man sich der deutschen Geopolitik in den Zeiten des intellektuellen Niedergangs deutscher Politik, gerät unweigerlich Heinrich Heines Dichtung „Deutschland. Ein Wintermärchen“, die in 180 Jahren nichts an Aktualität eingebüßt hat, in den Blick. Dort heißt es im Caputh VII:
„Franzosen und Russen gehört das Land,
Das Meer gehört den Briten,
Wir aber besitzen im Luftreich des Traums
Die Herrschaft unbestritten.“
Eigentlich ist Heinrich Heine wenig hinzuzufügen, deshalb möchte ich einige ergänzende Anmerkungen in Form eines Denkexperiments anstellen und zudem mit der Conclusio beginnen:
Die Wiederkehr der Geopolitik verdanken wir in Deutschland den deutschen Grünen. Allerdings in Form einer negativen Geopolitik.
Da die Talente der Grünen wie die aller verwöhnten Kinder in der Selbstdarstellung oder wie es neudeutsch heißt: im Self-Marketing liegen, nennen sie es nicht Geopolitik, sondern Klimapolitik und Politik für Geflüchtete, die sich darin von der traditionellen Geopolitik unterscheiden, dass sie nicht im Interesse des Volkes des Geopolitik betreibenden Staates liegen, sondern seinen Interessen geradezu spiegelbildlich entgegenstehen.
Klimapolitik und Migration gehen für die deutsche classe politique bis tief in die Union hinein von zwei Prämissen aus: von der doppelten Schuld, die Deutschland trägt, woraus sich eine ewige Wiedergutmachung ergibt, erstens als Teilhaber der Kolonialpolitik und zweitens aus dem Verbrechen des Holocausts. Zwar konnte sich das Kolonialmächtlein Deutschland nicht mit Frankreich, England, Spanien und Portugal messen, doch in diesem Fall trägt Deutschland wie beim Euro die Schuldenlast europäischer Staaten mit, weil Deutschland zur EU oder überhaupt zum „globalen Norden“ gehört.
Interessanterweise zeigen die Linken und die Grünen, wie man seit dem 7. Oktober 2023 erstaunt zur Kenntnis nehmen darf, ein wohl eher instrumentelles Interesse an der Verantwortung, die sich für Deutschland aus dem Holocaust ergibt, hauptsächlich als Argument gegen politische Bewegungen und Parteien rechts von den Grünen.
Über importierten Antisemitismus zu reden, rührt an eine Art Tabu
Deutschlands Verantwortung gegenüber seinen jüdischen Bürgern und für den Staat Israel, dessen Sicherheit als deutsche Staatsräson gilt, scheint Entschiedenheit einzubüßen, wenn es um die Massenmigration in die deutschen Sozialsysteme aus zum großen Teil muslimischen Ländern geht und um die mittelbare Finanzierung von islamistischen Regimen in Afghanistan, Syrien und dem Hamas-Streifen oder den Pro-Hamas-Aufläufen auf deutschen Straßen.
Über importierten Antisemitismus zu reden, rührt an eine Art Tabu. Hier offenbart sich die für die Grünen und die Linken typische Doppelmoral. Doppelmoral wird hier nicht moralisch verstanden, sondern als Handlungsmuster, das sich aus der für Grüne und Linke grundlegenden Dialektik von Strategie und Taktik ergibt.
Sucht man den Grund der zugewandten Politik gegenüber islamistischen Bewegungen und Staaten der deutschen Linken, von der SED über die RAF bis hin zu den Grünen, sei der Kürze halber auf die marxistische Doktrin vom antiimperialistischen Befreiungskampf und ihre Weiterentwicklung im Postkolonialismus hingewiesen, die sich in der Begriffsentwicklung von „Dritter Welt“ zum „Globalen Süden“ widerspiegelt.
Eine umfassende Analyse müsste die geopolitische Linie „Kolonialismus – Neokolonialismus – Postkolonialismus – Klimapolitik“ bis in die tiefsten Zusammenhänge untersuchen. Zumindest lässt sich geistesgeschichtlich eine Linie von der Figur des „edlen Wilden“ in der Aufklärung und der Epoche des Kolonialismus über Frantz Fanons „kolonialisiertem Ding“ bis zur idealtypischen Figur des Geflüchteten, der an den deutschen Grenzen nicht abgewiesen werden darf, ziehen. Nicht umsonst zitierte der algerische Psychiater Frantz Fanon im Titel seines Hauptwerks „Die Verdammten dieser Erde“ die kommunistische Hymne „Die Internationale“, in der es heißt:
„Wacht auf, Verdammte dieser Erde,
die stets man noch zum Hungern zwingt!
[…]
Reinen Tisch macht mit dem Bedränger!
Heer der Sklaven, wache auf!
[…]
|: Völker, hört die Signale!
Auf zum letzten Gefecht!“
Auffällig ist, wie der Topos der „Verdammten“, der „Unterdrückten“, der „Sklaven“ zu den „Geflüchteten“ unserer Tage führt.
Der Einwand, dass sich Geopolitik auf die Außenpolitik oder internationale Politik von Staaten bezieht, es in ihr um die Sicherung und die Vergrößerung von Macht und Einfluss des Staates geht, stellt im Grunde die Frage, was die Linken und Grünen unter dem Staat verstehen.
Mit einem Wort: die Utopie. Der Staat der Grünen ist der überwundene Staat, der staatenlose Staat, die Auflösung der Nation in die Inter-Nation oder Post-Nation, in einem ersten Schritt die Auflösung der europäischen Nationalstaaten in die Vereinigten Staaten von Europa.
Funktionäre der Grünen Jugend bringen das regelmäßig auf den Punkt, wenn sie sagen: „Coole Kids haben kein Vaterland“. Und Robert Habeck, Noch-Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz: „Vaterlandsliebe fand ich stets zum Kotzen. Ich wusste mit Deutschland noch nie etwas anzufangen und weiß es bis heute nicht.“
NGOs: „Eine Klasse, die ganze Gesellschaft zu assimilieren“
Was heute unter dem Geflecht der NGOs verstanden wird, fasste Antonio Gramsci vor knapp einhundert Jahren noch als „Klasse“:
„Eine Klasse, die sich selbst als geeignet setzt, die ganze Gesellschaft zu assimilieren, und die zugleich wirklich fähig ist, diesen Prozess hervorzubringen, führt diese Auffassung vom Staat und vom Recht zur Vollendung, bis sie schließlich das Ende des Staates und Rechts konzipiert, insofern sie überflüssig geworden sind, weil sie ihre Aufgabe erfüllt haben und von der Zivilgesellschaft aufgesogen worden sind.“
Ein Staat jedoch, der „von der Zivilgesellschaft aufgesogen“ wird, ist kein Rechtsstaat mehr, kennt keine Gewaltenteilung, und freiheitlich ist er ohnehin nicht, weil die Freiheit des Einzelnen den imaginierten Bedürfnissen einer abstrakten Gemeinschaft zu weichen hat. Gramscis Definition nimmt geradezu seherisch zwei politische Phänomene der Gegenwart vorweg, den NGO-Staat und den Übergang von der Demokratie zur Postdemokratie.
Die Abstraktion der Gemeinschaft und deren laboriertes Gemeinwohl ist nur eine Mystifikation der Herrschaft einer postdemokratischen Elite, die zugleich dysfunktional agiert – und auch dysfunktional sein muss, weil sie sich vollständig von der Wirklichkeit getrennt hat und aus dem „Luftreich des Traums“ Politik für einen Flecken Erde macht.
> Lesen Sie auch: Ein totaler Feldzug gegen den Westen
Hinter dieser Idee verbirgt sich das marxistische Konzept der klassenlosen Gesellschaft, die zugleich eine staatenlose und eine postnationale Gesellschaft ist. „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ lautet der letzte Satz des „Kommunistischen Manifests“.
Die Grünen tragen es als Mantra vor sich her, dass sie in „planetarischen Grenzen“ denken, der „globale Süden“ keine geografische Bestimmung, sondern ein geopolitischer Begriff ist, demzufolge der „globale Süden“ eine soziale Bestimmung als geopolitische Metapher darstellt, denn der globale Süden, das sind die „Verdammten dieser Erde“, das ist das „Heer der Sklaven“, das befreit werden muss.
Das „kolonialisierte Ding“, das Mensch werden sollte
Es ist wirklich interessant, die Opfer-Translation zu beobachten: Als die bürgerlichen Berufsbefreier die Arbeiterklasse als revolutionäre Klasse verloren hatten, weil die Arbeiter im Westen nicht in der Freiheit leben wollten, in der die befreiten Arbeiter im Osten gefangengehalten wurden, benötigten die übersättigten Kinder des Westens ein neues Opfer des bösen Kapitalismus, um ihren Gefühlshaushalt in Balance zu halten, und fanden es im, wie es Fanon nannte, „kolonialisierten Ding“, das Mensch werden sollte.
Die linke und grüne Geopolitik, die nicht das Land und sein Volk, sondern eine Utopie und ein erst zu schaffendes Volk als Ziel setzte, hatte ein neues revolutionäres Subjekt gefunden. Von nun an wurde im vermeintlichen Sinne des „globalen Südens“ gedacht.
> Abonnieren Sie den Corrigenda-Newsletter und erhalten Sie einmal wöchentlich die relevantesten Recherchen und Meinungsbeiträge
Und da die Schrecken des Kolonialismus nachließen mit der nationalen Unabhängigkeit und die neuen Beziehungen, die sich entwickelten, immer weniger als Neokolonialismus zu denunzieren waren, konnten die Grünen nur noch mit der Klimapolitik Herrschaft ausüben, zum Vorteil der Eliten im „globalen Süden“, zum Nachteil der Bürger des „globalen Nordens“, die sich der Befreiung durch die Linken und die Grünen verschlossen und sich als undankbar erwiesen hatten – und daher als Volk in der postmodernen Heilsökonomie ausfielen.
„Wir reden vom Umzug der Menschheit“
Der frühere Chef der grünen Ideologiemaschine „Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung“, Hans Joachim Schellnhuber, verstieg sich in die Idiosynkrasie, die zugleich geopolitische Leitlinie der Grünen ist, dass in Folge der von ihm halluzinierten Klimakrise drei Milliarden Menschen ihren Wohnraum verlören und deshalb in andere Regionen zögen. „Wir reden vom Umzug der Menschheit“, dramatisierte Schellnhuber klimaschamanisch und forderte damit einen Klimapass analog des Nansen-Passes im Ersten Weltkrieg, letztlich für den gesamten „globalen Süden“, auch wenn man in der ersten Tranche sich noch bescheiden gab und dieser Klimapass für die bedrohten Bewohner der pazifischen Inselwelten ausgegeben werden sollte. Auch da sprechen wir von ungefähr 2,6 Millionen Menschen. Ganz grüner Klimakämpfer, tremolierte Schellnhuber:
„Für mich ist die Frage, ob es uns gelingt, einen solchen Klima-Pass einzuführen, die Feuerfrage […] Werden wir eine Gesellschaft haben, in der Humanismus die Richtschnur ist?“
Das Ergebnis dieser negativen Geopolitik wird abstrakter Humanismus und keine Gesellschaft sein, weil die Gesellschaft ihre Bindekräfte verliert und sich in einen Multitribalismus auflöst, in einen, wie Thomas Hobbes es formulierte, Kampf aller gegen alle (bellum omnium contra omnes). Der damals noch amtierende Bischof von Rottenburg-Stuttgart, Gebhard Fürst, gurgelte geradezu mit Weihwasser, als er auf dem Deutschen Katholikentag 2022 ergriffen formulierte:
„Sie, die Flüchtlinge, tragen die Last ihres Lebens in Verlassenheit und ohne jeglichen gesetzlichen Schutz. Leider herrscht eine allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber diesen Tragödien, die sich gerade in bestimmten Teilen der Welt zutragen. Der Mangel an Reaktionen angesichts dieser Dramen steht als Zeichen für den Verlust jedes Verantwortungsgefühls für unsere Mitmenschen, auf die sich jede zivile Gesellschaft gründet.“
Dass die Flüchtlinge in Deutschland keinen gesetzlichen Schutz besäßen, geht vollständig an der Realität vorbei. Und vom Verlust des Verantwortungsgefühls zu sprechen, stellt eine glatte Lüge dar. Gerade eben wurde das Grundgesetz in einer wohl grundgesetzwidrigen Sitzung des alten Bundestages verändert, in dem es u. a. der nächsten Regierung erlaubt, Schulden von 500 Milliarden Euro für einen Infrastrukturfonds aufzunehmen, 100 Milliarden Euro davon für die Bundesländer.
Für das Bundesland Berlin ist das die Rettung, es muss jetzt nicht die Universitäten und Hochschulen brutal zusammenkürzen, weil das Geld für die explodierenden Kosten für die Unterbringung und Finanzierung der Immigranten nun aus dem Infrastrukturfonds genommen werden kann. In Berlin heißt es nun: Unterbringung von Migranten statt Instandhaltung von Brücken.
Aus der Schuld am Kolonialismus wurde das Klimaverbrechen
Die Grünen nahmen 2018 die geopolitische Idee des Klimapasses übrigens in ihr Wahlprogramm auf:
„Historisch betrachtet sind die westlichen Industriestaaten die Hauptverursacher klimaschädigender Treibhausgase. Daher soll die EU zusammen mit anderen Industriestaaten vorangehen und im Rahmen einer gemeinsamen Regelung den Bewohner*innen von bedrohten Inselstaaten, die durch die Klimakrise unbewohnbar werden, Klimapässe anbieten.“
Die Menschen des „globalen Nordens“ wurden in der Aktualisierung der marxistischen Klassenkampfideologie zu den Kapitalisten des „Kommunistischen Manifests“, die nun die Menschen des „globalen Südens“ durch Klimaimperialismus ausbeuteten, gefährdeten und unterdrückten.
Aus der Schuld am Kolonialismus, aus der Schuld am Neokolonialismus, wie vom Postkolonialismus behauptet, wurde das Klimaverbrechen und die Klimaschuld der Menschen des „globalen Nordens“. Man müsste sich nicht mit dem Postmodernismus der Grünen auseinandersetzen, wenn sie nicht, ganz gleich, wer in Deutschland regiert, als die eigentliche Regierungspartei, als letzte Instanz agierten. Deutschland wird von einer Zwölf-Prozent-Partei beherrscht, die Amerikaner nennen das: wag the dog.
Die von Marx als Materialisten definierten Menschheitsbeglücker erweisen sich in der aktuell deutschen Praxis als solipsistische Idealisten, denn sie verfahren nach dem Motto: Wenn die Wirklichkeit nicht zu den eigenen Ideen passt, um so schlimmer für die Wirklichkeit.
Wir erleben eine umgekehrte Geopolitik
Was wir in Deutschland erleben, ist also eine umgekehrte Geopolitik. Da die Ampelregierung alles dafür getan hat, möglichst viele Menschen vor allem aus muslimischen Ländern nach Deutschland einzulassen, teils auch zu holen mittels der „Baerbock-Transfers“, vor allem aus Afghanistan und aus Syrien, und zugleich mit unvorstellbaren Summen mittelbar die Hamas, die Taliban und die neuen islamistischen Machthaber in Damaskus zu finanzieren, kann man von einer Geopolitik der deutschen Regierung gegen die Interessen Deutschlands, aber auch unserer Nachbarländer reden.
- Laut Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung erhält Nigeria nach „Regierungsverhandlungen im Oktober 2022 […] Mittel in Höhe von insgesamt 98,5 Millionen Euro“ – und das umfasst nicht alle Summen, die versprochen und zum Teil bereits gezahlt wurden.
- Ghana wurden im November 2023 „bei Regierungsverhandlungen […] Mittel in Höhe von 149,7 Millionen Euro neu […] zugesagt […]. Die nächsten Verhandlungen sind für 2025 geplant.“
- Kenia sagte die Bundesregierung im Dezember vor zwei Jahren 153 Millionen Euro neu zu.
- Ruanda wurden im Oktober „93,6 Millionen Euro für den Zeitraum 2022 bis 2024 neu zugesagt“.
- Tansania wurden bei „Regierungsverhandlungen im November 2022 […] 87 Millionen Euro neu“ zugesagt.
Für „Projekte“ in Afghanistan und Syrien wurden seit 2023 bis heute circa 1,5 Milliarden Euro deutscher Steuergelder ausgegeben.
- Baerbocks Außenministerium unterstützte Projekte in Afghanistan im Jahr 2023 mit 171 Millionen Euro, 2024 mit 119 Millionen Euro und im Jahr 2025 (Stand: 6. Februar 2025) mit 24 Millionen Euro. Seit 2023 flossen also 314 Millionen Euro allein nach Afghanistan.
- Nach Syrien überwies Baerbock im Jahr 2023 405 Millionen Euro, 2024 256 Millionen Euro und im Jahr 2025 71 Millionen Euro (Stand: 6. Februar 2025). Insgesamt flossen von 2023 bis heute 732 Millionen Euro nach Syrien. In Syrien regieren Islamisten, die keiner Frau, auch nicht Baerbock, die Hand geben. Das Scheitern ihrer Außenpolitik nennt Baerbock feministische Außenpolitik.
Die wirtschaftspolitischen Folgen der Klimapolitik betreffen auch die Geopolitik
Die wirtschaftspolitischen Folgen der Klimapolitik besitzen infolge von Deutschlands De-Industrialisierung, der Habeck-Rezession, geopolitische Aspekte, besonders im mitteleuropäischen Raum, denn die Volkswirtschaften Ungarns, Polens, der Slowakei, Tschechiens und Deutschlands sind eng miteinander verflochten. Im Jahr 2022 erreichte der Warenhandel Deutschlands mit den Visegrád-Staaten 380 Milliarden Euro, übrigens gefolgt von China mit rund 300 Milliarden Euro oder den USA mit 250 Milliarden Euro.
Die Zahlen belegen allein die Bedeutung von Polen, Ungarn, der Slowakei und Tschechien für Deutschland – wir sind wirtschaftlich miteinander verbunden und sollten es auch geopolitisch sein. Früher waren wir es einmal – vor Merkel. Deshalb liegt es im tiefsten deutschen Interesse, dass die Außenpolitik von Erwachsenen gemacht wird.
> Lesen Sie auch: Interview mit Muamer Bećirović: „Europa kann Einflusssphäre oder Imperium sein. Dazwischen gibt es nichts“
Es ist geradezu eine conditio sine qua non deutscher Außenpolitik, wieder eine positive Geopolitik im Interesse der Bundesrepublik zu entwickeln, die mit der Betrachtung der Wirklichkeit beginnt, mit den eigenen Stärken und den eigenen Schwächen. Wirklichkeit ist nicht das, was wir wünschen, sondern das, was wir vorfinden. Nächstliegend und naheliegend ist für Deutschland Mitteleuropa.
Zunächst besitzt Deutschland als Mittelmacht in der Mitte Europas eine Brückenfunktion, der die Bundesrepublik zuletzt unter Helmut Kohl und auch noch unter der Regierung von Gerhard Schröder gerecht geworden ist. Vier Funktionen möchte ich thesenhaft benennen:
- Stabilisierende Kooperation mit Frankreich – bei allen wirtschafts- und fiskalkulturellen Unterschieden.
- Stabilisierung der transatlantischen Partnerschaft in Eigenständigkeit.
- Sehr enge Zusammenarbeit im mitteleuropäischen Raum, hier besonders mit Ungarn, mit Tschechien, der Slowakei, Österreich, mit Polen bis hin zum Balkan.
- Besonders schwierig, aber notwendiger denn je ist es, zu einem Friedensschluss mit Russland mit dem Ziel einer Einbindung Russlands zu kommen.
Im Kanon der unterschiedlichen Kulturräume
In Europa existieren historisch gewachsen unterschiedliche kulturelle Räume. So wie der mediterrane Raum, so existiert auch der mitteleuropäische Raum. Ein Europa, das verstärkt Wert auf das Konzert der Vaterländer, aber darüber hinaus auf den Kanon der unterschiedlichen Kulturräume legt, würde kulturell, wirtschaftlich und politisch wesentlich stärker sein, als ein Europa, das sich immer verkrampfter im Zentralismus einer absoluten Bürokratie erschöpft.
In diesem Zusammenhang hat Ungarn für Europa, für Mitteleuropa viel geleistet, was Ungarn nicht nur nicht gedankt, sondern vor allem auch noch verübelt wurde. Namentlich von deutschen Medien und von Deutschlands dysfunktionalen Eliten. Hier ist grundsätzliche Änderung vonnöten. Enge Beziehungen zu Ungarn sind für Deutschland wichtiger, als man denkt, weil auch Ungarn eine Brückenfunktion zum Balkan hin erfüllt und weil unsere Kulturen harmonieren können, wie sie früher harmoniert haben, bevor die bilateralen Beziehungen von Deutschlands Eliten getrübt worden sind.
Doch eine Politik, die für unsere Länder erfolgreich sein will, die sich aus der Anachronismusfalle befreien und eine moderne Geopolitik im Interesse unserer Völker, also für Deutschland im deutschen Interesse, machen möchte, kann nur auf diesen vier Grundsätzen beruhen.
Gründungsmythos für ein freies Europa
Die Belebung der mitteleuropäischen Partnerschaft ist für Deutschland essentiell, die Belebung des gemeinsamen Kulturraumes, unserer gemeinsamen Kultur. Man denke nur an Budapest, Wien, Berlin, Prag, Bratislava und Brno, Dresden, Graz und Pécs, an Sofia, Bukarest, an Belgrad und an Zagreb, an Krakau und an Lemberg. Mitteleuropa steckt voller Möglichkeiten, voller Dynamik, die wir entfesseln sollten.
Wichtig wäre diese Besinnung auch aus einem anderen Grund: Die Selbstbefreiung der Völker Ost- und Mitteleuropas ist der richtige Gründungsmythos für ein freies Europa. Denn wenn Europas Grundwert nicht nur die Phrase von der Freiheit ist, sondern die wirkliche Freiheit, die Freiheit selbst ist, dann kann es keinen besseren, keinen authentischeren Gründungsmythos für ein freies Europa geben, als die Revolution der Völker Ost- und Mitteleuropas, die sich gegen die Unterdrückung auflehnten, die kommunistischen Diktaturen stürzten und den Eisernen Vorhang sprengten.
Was die Bürokraten in Brüssel vergessen zu haben scheinen, ist, dass Europa existiert, weil Menschen in Polen, in Litauen, in Lettland, in Estland, in Ungarn, in der damaligen Tschechoslowakei, in Rumänien, in Bulgarien und in der damaligen DDR mutig waren. Bevor Europa das nicht einsieht, wird Europa nicht sein.
Dieser Beitrag ist der leicht veränderte Text einer Rede, die der Autor am 29. März 2025 im ungarischen Fehérvárcsurgó auf der Internationalen Konferenz „Geography, Cartography and Politics“ gehalten hat. Die Konferenz wurde von der ungarischen Joseph-Károlyi-Stiftung veranstaltet.
› Kennen Sie schon unseren Corrigenda-Telegram- und WhatsApp-Kanal?
Kommentare
Ausgezeichnete Analyse
Etwas lang für heutige Ansprüche 🙂
Die wirtschaftliche Bedeutung der Visegrad überrascht.
Sie werden wahrscheinlich nicht in eine Talkshow in den ÖRR eingeladen ...
Weiter so!