Der Chefkoch und seine Rezepte

In unseren Breiten sprechen die Kellner gern vom „Gruß aus der Küche“. Und das trifft das Folgende auch tatsächlich eher als der Begriff des „amuse geul“, der den Gruß als mundgerechten Appetitanreger beschreibt. Denn das ganze Menü, das in der Corrigenda-Reihe zu Josef Pieper serviert wird, versteht sich als eine vorgeschmackliche Komposition für alle, die am Ende mehr Pieper genießen wollen. Deswegen zu Beginn ein kleiner Blick auf den, der in der Küche steht und auf seine Art zu kochen.
Josef Pieper wird am 4. Mai 1904 im westfälischen Elte geboren. Er wächst in Münster auf. 1923 macht er Abitur am dortigen Gymnasium Paulinum und studiert in den Jahren 1924 bis 1928 Philosophie, Rechtswissenschaft und Soziologie in Münster und Berlin. Im Februar 1928 wird er mit einer Dissertation unter dem Titel „Die ontische Grundlage des Sittlichen nach Thomas von Aquin“ zum „Dr. phil.“ promoviert. Die Arbeit erscheint 1935 unter dem neuen Titel „Die Wirklichkeit und das Gute“. Sie stellt als eine seiner Hauptschriften eine Weiche zum Verständnis seines Gedankenguts dar, das wesentlich vom Denken Thomas von Aquins beeinflusst ist und sich als eine profunde Neuzeitkritik erweist.
Bis 1932 ist er Assistent am Forschungsinstitut für Organisationslehre und Soziologie bei Professor Johann Plenge an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Danach arbeitet er freiberuflich bis 1942 als Schriftsteller und als Mitarbeiter am Institut für neuzeitliche Volksbildungsarbeit in Dortmund.
Der Krieg als anthropologische Feldstudie
1940 wird er als Heerespsychologe zum Wehrdienst einberufen. Nach der Auflösung der Eignungsprüfungsstellen wird er 1943 vorübergehend aus dem Wehrdienst entlassen, bevor er nach einer kurzen Tätigkeit als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter für Eignungsuntersuchungen an Schwerkriegsbeschädigten 1944 erst zur Luftwaffe eingezogen und dann an ein Reservelazarett in Bigge/Ruhr versetzt wird. In den Jahren seiner militärischen Tätigkeit sammelt er Hintergründe für manche spätere Äußerungen zur Anthropologie.
Nach Kriegsende habilitiert er sich an der Philosophischen Fakultät der Universität Münster mit einer Untersuchung zur Anthropologie des Hochmittelalters unter dem Titel „Wahrheit der Dinge“, einem Werk, das, ähnlich wie seine Dissertation, wegweisenden Charakter im Hinblick auf die Einordnung seines Denkens hat. Im Juli 1946 wird Pieper zum Professor auf Lebenszeit an der Pädagogischen Akademie in Essen berufen. Zur gleichen Zeit wird er Privatdozent an der Universität Münster.
Im Laufe der folgenden Jahre lehnt er Berufungen an die Notre Dame University Indiana und an die Universitäten von Mainz und München ab. Stattdessen wird er 1959 zum ordentlichen Professor für Philosophische Anthropologie an der Universität Münster ernannt. Auffällig ist in seinem Werdegang die Zurückhaltung im Hinblick auf akademisches Karrierestreben und den Aufbau von Schülerkreisen. Vorlesungsreisen führen ihn in den fünfziger und sechziger Jahren nach England, wo er eine Freundschaft mit T. S. Eliot knüpft, nach Indien und Ceylon, Japan und in die USA.
Gastprofessuren in Europa und Amerika
1980 wird er in die Pontificia Accademia Romana di S. Tomaso d’Aquino in Rom berufen. Zu den Auszeichnungen, mit denen Pieper und seine wissenschaftlichen Arbeiten bedacht wurden, gehören unter anderem die Ehrendoktorwürde durch die Theologischen Fakultäten der Universitäten München (1964) und Münster (1974), die Verleihung der „Aquinas Medal“ auf dem Kongress der American Catholic Philosophical Association 1968 in New Orleans und der Romano-Guardini-Preis der Katholischen Akademie München.
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Zu den Universitäten, an denen Pieper Gastprofessuren übernimmt, zählen die Freie Universität Berlin, die Notre Dame University/Indiana, die Stanford University/California, die Universität Toronto/Canada und das Christian Commonwealth Institute/El Escorial, Spanien. Nach seiner Emeritierung 1972 ist er vor allem publizistisch und als begehrter Vortragender tätig.
Am 6. November 1997 stirbt Josef Pieper im Alter von 93 Jahren, nachdem er in den letzten Lebensjahren zurückgezogen in seinem Haus in Münster gelebt hat. 1991 erlebt er noch die Gründung der nach ihm benannten Stiftung, die sich neben anderem um die Rezeption seines Gedankengutes kümmert sowie wissenschaftliche Publikationen fördert, die auf der Linie seines christlichen Philosophieverständnisses liegen. In den Jahren 1995 bis 2006 erscheint eine elfbändige Gesamtausgabe seiner Werke inklusive einer Gesamt-Bibliografie im Felix-Meiner-Verlag, Hamburg.
Pieper versteht sich nicht als Thomist, nicht als Neuscholastiker
So sehr Pieper auch mit Thomas von Aquin, dessen Gedankengut er umfänglich rezipiert hat, in Verbindung gebracht wird, so ist er doch kein Thomist im klassischen Sinne, weshalb er sich stets gegen eine solche Kategorisierung gewehrt hat.
Dieser Umstand ist aufschlussreich, was sein Denken insgesamt betrifft. Denn ihm geht es bei der Verwertung mittelalterlichen Gedankengutes nicht um dessen Einordnung in ein Denksystem, geschweige denn um ein philosophiehistorisches Archivieren überkommener Befunde. Im Gegenteil, er empfindet das sogar als einengend und „seinem“ großen Lehrer Thomas von Aquin gegenüber als unangemessen.
Diese von ihm oft geäußerte Kritik an dem Missverständnis, eine Beschäftigung mit Thomas sei exklusiv vom Thomismus gepachtet, wirft zugleich Licht auf seinen eigentlichen Zugang zum Denken der Scholastik, die er als keineswegs aus der Zeit gefallen, sondern im Gegenteil als höchst aktuell beurteilt. „Wenn der ‘Thomismus’ sich so versteht, dass er den Anspruch macht, die Lehre des heiligen Thomas vollständig in ein schulmäßig tradierbares System von Sätzen zu bringen, dann muss es eine Fälschung genannt werden.“ Mit diesem Vorwurf distanziert sich Pieper mit seinem Denken zugleich von der Rubrik „Neuscholastik“.
Die objektive Wirklichkeit als notwendig für Erkenntnis
Ungeachtet dessen ist er wie kaum ein anderer Vertreter christlicher Philosophie im 20. Jahrhundert von Thomas geprägt. Ihm geht es um eine Thomas-Rezeption, die sich für die Gegenwart als nutzbar erweist. Dazu aber muss sie „aktuell“ sein, das heißt sie muss einer jeweiligen Epoche das geben, was sie braucht. In diesem Sinne versteht Pieper Thomas als aktuell, als zeitgemäß und unzeitgemäß zugleich, weil er der Zeit das sagt, was die Zeit hören soll, nicht unbedingt das, was sie hören will.
In seiner Dissertation und auch in seiner Grundlagenschrift „Die Wahrheit der Dinge“ über die Anthropologie das Hochmittelalters stellt er – im Sinne Thomas’ – die objektive Wirklichkeit als notwendig zum Zustandekommen von Erkenntnis heraus. In der inneren Bezogenheit von Wirklichkeit und Wahrheit zueinander erweist sich das Denken als Ort der Wahrheit, jedoch ohne die Wahrheit zu „produzieren“. Pieper versteht die Struktur der Erkenntnis als ein an der Wirklichkeit gebildetes Aufnehmen dessen, was ist.
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In diesem radikal antineuzeitlichen Denken ist er ein treuer Schüler des heiligen Thomas, der in seiner „negativen Philosophie“ den Menschen sowohl in seinen Erkenntnisgrenzen als auch in seinen Erkenntnismöglichkeiten der Gesamtwirklichkeit gegenüberstellt. Erkenntnis der Wahrheit ist möglich, wenn auch fragmentarisch.
Thomas’ „verehrende Haltung gegenüber dem, was ist“
So lässt Pieper im Hinblick auf Thomas die Gleichzeitigkeit von dessen klarer scholastischer Diktion und die Anerkennung des fragmentarischen Charakters der Erkenntnis zu einer stimmigen Synthese verschmelzen. Weder widerspricht die Eindeutigkeit des scholastischen Fragens und Antwortens der im Hintergrund befindlichen Ohnmacht, alles zu verstehen, noch ist durch die Feststellung des Fragmentcharakters aller Antworten ihre Wahrheit und Treffsicherheit zu bestreiten.
Gegenüber der neuzeitlichen Philosophie und ihrem inneren Drang nach Sicherheit und Klarheit, der sich in der Selbstsicherung des Subjekts verankern will, entdeckt Pieper das, worin, wie er sagt, „die Größe des philosophischen und theologischen Denkers Thomas liegt: seine verehrende Haltung gegenüber dem, was ist – welche Verehrung sich vor allem zeigt in dem Verstummen vor dem Unaussagbaren und vor der Unbegreiflichkeit des Seins“.
Die runde Perfektion des rationalistischen Systemdenkens ist weit entfernt von dem Versuch, sich in der Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Dinge der Wirklichkeit zu nähern. Der Begriff von Philosophie, der dem Wesen der philosophischen Frage wirklich gerecht wird, schließt die Vorstellung eines geschlossenen philosophischen Systems nach Pieper formell aus. Deswegen unternimmt er in seinem eigenen Denken den Versuch, die Aktualität Thomas von Aquins einzuklagen und dessen „philosophia negativa“ als paradigmatisch für das zeitgenössische Philosophieren zu empfehlen, weil in ihr die Annahme objektiver Erkenntnis und die Absage an die Anmaßung eines erschöpfenden Wissens verschmelzen.
Die höchste Begegnung des Menschen mit der Wirklichkeit: der Kultus
In Bezug auf Thomas möchte Pieper bewerkstelligen, „dass“, wie er sagt, „ein fruchtbares Gespräch zustande komme zwischen dem ‘Zeitgeist’ und der Weisheitsüberlieferung des Abendlandes – ein Gespräch, in welchem sterile Oppositionen, wie sie sich an den epigonalen ‘…ismen’ zu entfachen pflegen, vielleicht sich lösen könnten, und in welchem allein die Bereitschaft entstehen möchte, auch die negative Gestalt jener Aktualität, das Nein gegen die Zeit, das Korrektiv, zu akzeptieren“.
Darin spricht sich Piepers Bedeutung für die Philosophie der Gegenwart aus: unter Berücksichtigung der großen abendländischen Überlieferung den geistigen Raum der Gegenwart zu befruchten, wobei dies für ihn nicht nur ein intellektuelles Geschehen ist. Er sieht vielmehr im kultisch sakramentalen Gottesbezug die höchste Begegnung des Menschen mit der Wirklichkeit – weit mehr, als dies in der intellektuellen Annäherung geschehen könnte. Der Kult als Stätte, an der Gott spricht und handelt, ist der unüberbietbare Bezug des Menschen zum Gesamt der Wirklichkeit.
Es nimmt deshalb nicht wunder, dass Pieper nach der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils den Verlust des Sakralen als Verlust einer für die Gott-Begegnung angemessenen Haltung beklagt. Ebenso kritisiert er – auch und gerade im kirchlichen Kontext der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts – die Missachtung von Tradition als Erkenntnisprinzip.
Wider die Verkapselung in Denksysteme: den Blick des Fragenden freihalten
Piepers Hinweise auf die Aktualität des Thomas von Aquin prägen die Zeitlosigkeit seines eigenen Denken zutiefst. Seine Skepsis gegenüber jeder Verkapselung der Philosophie in Denksysteme versucht den Blick des Fragenden freizuhalten für die Wirklichkeit und das, was sie über sich selbst zu sagen hat. In diesem Sinne darf man in Josef Pieper einen Denker erblicken, der den Versuch unternimmt, die Offenheit für die Wirklichkeit als philosophische Grundhaltung – nicht zuletzt durch den Glauben an Gott und die kultische Verehrung des Schöpfers – wieder in ihr Recht zu setzen. Philosophie und Glaube, Denken und Kult sind keine Gegensätze, sondern ergänzen sich in gegenseitiger Befruchtung.
Insofern ist Pieper, wenn man so will, ein Denker, der sich weder durch ein Schulsystem noch durch den nachmodernen Agnostizismus als Ergebnis eines gescheiterten Subjektivismus vereinnahmen lässt. So wenig wie Pieper der Philosoph des Systems ist, so sehr ist er der Vertreter einer Synthese aller menschlichen Haltungen – auch der des Glaubens und des anbetenden Staunens –, die dem Entdecken der Wirklichkeit dienen. „Dass diese Form der Symbiose auch heute eine reale Möglichkeit ist, zeigt das Werk von Josef Pieper.“ (Robert Spaemann)
„Unaustrinkbares Licht“: Schriften zum Einstieg
Eine vollständige Bibliografie gibt es in der Pieper-Werkausgabe, herausgegeben von Berthold Wald. Darin finden sich die für den Einstieg in das Verständnis des Pieperschen Denkens maßgeblichen Schriften:
„Philosophia negativa“
„Unaustrinkbares Licht“
„Scholastik“
„Was heißt philosophieren?“
„Verteidigungsrede für die Philosophie“
„Die Wirklichkeit und das Gute“
„Wahrheit der Dinge“
„Muße und Kult“
Als Grundlage der Corrigenda-Reihe über Josef Pieper dient die in der Schriftenreihe der Josef-Pieper-Stiftung erschienene Monografie vom Autor dieser Zeilen „Die Anwesenheit des Verborgenen. Zugänge zur Philosophie Josef Piepers“.
Der zweite Teil des Josef-Pieper-Menüs erscheint im Juli, die nächsten Gänge servieren wir Ihnen im Monatsrhythmus.
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Kommentare
Vielen Dank für diese Reihe!!
Wenn man California statt Kalifornien und Canada statt Kanada schreibt, dann muss man auch Espagna statt Spanien schreiben. Da der Artikel jedoch in deutscher Sprache verfasst ist, sollte man lieber die deutschen Namen nutzen und nur bei wirklich feststehenden Eigennamen nichtdeutsche Bezeichnungen verwenden. Aber so kariert ist nicht schön.